Kann ein Lok-Führer mit einer Notbremsung einen Unfall noch verhindern, kann auch der Beinahe-Unfall als Arbeitsunfall gewertet werden. Dies geht aus zwei am Dienstag, 29.11.2011, verkündeten Urteilen des Bundessozialgerichts (BSG) in Kassel hervor (AZ: B 2 U 10/11 R und B 2 U 23/10 R). Führt der Beinahezusammenstoß bei dem Eisenbahner zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung, muss die gesetzliche Unfallversicherung für entstandene Gesundheitsschäden aufkommen, so der 2. Senat.
Im konkreten Fall war der Kläger S-Bahn-Fahrer in Berlin. Im März und Juni 2007 hatte er zwei Beinahe-Unfälle. In einem Fall führte er vor der Einfahrt in den S-Bahnhof Berlin-Tegel vor einer geschlossenen Schranke eine Notbremsung durch, weil er einen Fußgänger auf dem Gleis wahrnahm. Der Zug soll nur zwei Meter vor der Person zum Stehen gekommen sein. Ob der S-Bahn-Fahrer sich die Person nur eingebildet hat oder diese tatsächlich auf dem Gleis stand, konnte nicht mehr ermittelt werden.
Bei dem zweiten Beinahezusammenstoß führte der Kläger ebenfalls eine Schnellbremsung durch, weil sich ein Pkw auf dem Gleis befand. Nach beiden Vorfällen wurde bei dem Kläger eine Posttraumatische Belastungsstörung festgestellt, die zeitweise zur Arbeitsunfähigkeit führte. Von der Eisenbahn-Unfallkasse wollte der Mann nun die beiden Ereignisse als Arbeitsunfall anerkannt haben. Schließlich sei es Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung, Arbeitnehmer vor berufstypischen Unfallereignissen zu schützen.
Die Eisenbahn-Unfallkasse lehnte dies jedoch ab. Eine Notbremsung sei für einen Lok-Führer ein ganz normaler Arbeitsvorgang. Einen wirklichen Unfall habe es ja nicht gegeben. Hätte er tatsächlich jemanden überfahren und danach eine psychische Störung entwickelt, wäre der Arbeitsunfall eindeutig.
Könne bereits jede schnelle Bremsung mit einem dabei erlittenen Erschrecken als Arbeitsunfall gewertet werden, würde dies ins Uferlose gehen, so die Unfallkasse. Bei den Eisenbahnern gebe es „massenhaft“ Fälle, bei denen nach einem Fast-Zusammenstoß die Lok-Führer eine Verletztenrente wegen einer erlittenen psychischen Störung geltend machen. Auch jeder Autofahrer könne dann auf dem Arbeitsweg bei einem erlittenen Beinahezusammenstoß mit einem Fußgänger oder einem anderen Pkw unter Umständen einen Arbeitsunfall für sich reklamieren.
Das BSG stellte nun klar, dass auch ein Beinahe-Unfallereignis, welches im Rahmen der versicherten Tätigkeit üblich ist, als Arbeitsunfall gelten kann. Entscheidend sei, dass ein von außen kommendes, plötzlich auftretendes Ereignis zu einer Gesundheitsstörung bei dem Versicherten führt.
Dennoch hat das BSG die Beinahe-Unfälle bei dem S-Bahn-Führer noch nicht als Arbeitsunfall werten können. So war bei dem ersten Unfallereignis gar nicht nachgewiesen, dass tatsächlich ein Fußgänger auf dem Gleis stand. Das Landessozialgericht hatte nur festgestellt, dass der Kläger gebremst hat. Dies reiche für einen Arbeitsunfall aber nicht aus, denn es fehlt an dem „äußeren Ereignis‘, welches zu der Notbremsung und der folgenden Belastungsstörung geführt hat, so der 2. Senat.
Anders sehe dies möglicherweise bei dem 2. Unfallereignis aus, als das Fahrzeug auf dem Gleis stand. In diesem Fall verwies das BSG das Verfahren an das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zurück. Dieses muss noch klären, ob der Beinahezusammenstoß ursächlich mit der Posttraumatischen Belastungsstörung zusammenhängt. Werde dies bejaht, liege ein Arbeitsunfall vor.