Urteil des VG Karlsruhe vom 16.08.2007

VG Karlsruhe (polizeiliche generalklausel, aufschiebende wirkung, verfügung, gewalt, zeitlich befristet, antrag, häusliche gewalt, öffentliche sicherheit, sicherheit, gefahr)

VG Karlsruhe Beschluß vom 16.8.2007, 6 K 2446/07
Bedenken gegen Verlängerung des Wohnungsverweises durch die Polizei weil
Familiengerichtsentscheidung nach dem Gewaltschutzgesetz fehlt
Leitsätze
Die Verlängerung eines auf zwei Wochen befristeten polizeilichen Wohnungsverweises um weitere zwei Wochen
zum Zweck der Überbrückung des Zeitraums bis zum Ergehen einer Entscheidung des Familiengerichts über
richterliche Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz begegnet erheblichen Bedenken unter dem Gesichtspunkt
der fehlerfreien Ermessensausübung gemäß §§ 1, 3 PolG und der Zuständigkeit der Polizei zum Schutz privater
Rechte (§ 2 Abs. 2 PolG).
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 10.08.2007 gegen die Verfügung der
Antragsgegnerin vom 09.08.2007 wird wiederhergestellt bzw. angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der
Beigeladenen, die diese auf sich behält.
3. Der Antrag der Beigeladenen auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
4. Der Streitwert wird für das Verfahren auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen eine polizeiliche Verfügung der Antragsgegnerin, mit
welcher ein unter dem 25.07.2007 verfügtes zweiwöchiges Betretensverbot für das Grundstück in ..., ... um
weitere zwei Wochen verlängert wurde.
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Der Antrag ist zulässig und begründet.
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Das Gericht sieht Anlass, dem Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz gemäß § 80 Abs.5 VwGO gegen die in
formell ordnungsgemäßer Weise (vgl. § 80 Abs.3 Satz 1 VwGO) für sofort vollziehbar erklärte Verfügung der
Antragsgegnerin vom 09.08.2007 zu gewähren. Denn das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzung
dieses polizeirechtlichen Platzverweises überwiegt nicht das private Interesse des Antragstellers, sich bis zum
Ablauf der zeitlichen Geltung des Platzverweises weiterhin in dem in der Verfügung beschriebenen Bereich
aufzuhalten. Bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen
Betrachtung der Sach- und Rechtslage bestehen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung überwiegende
Zweifel an der Rechtmäßigkeit des verfügten Platzverweises in Anwendung der §§ 1, 3 PolG.
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Nach § 1 Abs.1 Satz 1 PolG hat die Polizeibehörde die Aufgabe, von dem Einzelnen oder dem Gemeinwesen
Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird, und Störungen der
öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu beseitigen, soweit es im öffentlichen Interesse geboten ist.
Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit sind auch subjektive Rechtsgüter und Rechte des Einzelnen. § 1 PolG
dient auch der Durchsetzung der in der objektiven Rechtsordnung begründeten Verhaltenspflichten. Hierzu
gehört vor allem die Verhütung und vorbeugende Bekämpfung von Straftaten. Im vorliegenden Zusammenhang
dürfte das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit betroffen sein, weil eine von dem Antragsteller ausgehende
„häusliche Gewalt“, nämlich die Begehung von Körperverletzungsdelikten (vgl. §§ 223 ff. StGB), in Frage steht.
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Vor diesem Hintergrund durfte die Polizeibehörde der Antragsgegnerin mit der bestandskräftig gewordenen
Verfügung vom 25.07.2007 nach § 3 PolG diejenigen Maßnahmen ergreifen, die ihr nach pflichtgemäßem
Ermessen erforderlich erschienen, um weiteren Störungen der öffentlichen Sicherheit, hier: der Begehung
strafbarer Handlungen, vorzubeugen. Der zunächst ausgesprochene Platzverweis dürfte daher dem Grundsatz
nach geeignet gewesen sein, der Gefahr „häuslicher Gewalt“ jedenfalls vorübergehend zu begegnen; auch wenn
Zweifel hinsichtlich der angeordneten Zeitdauer des polizeilichen Wohnungsverweises bestehen (vgl. die
nachfolgenden Ausführungen), denen aber wegen der eingetretenen Bestandskraft nicht weiter nachzugehen
ist.
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Dies dürfte jedoch nicht mehr für die hier angegriffene Verfügung vom 09.08.2007 zutreffen, mit welcher das
Betretensverbot um weitere zwei Wochen verlängert wurde. Wie sich der Begründung der
Verlängerungsverfügung entnehmen lässt, verfolgt die Antragsgegnerin mit dieser Maßnahme in erster Linie
den Zweck, den Zeitraum bis zum Ergehen einer Entscheidung des Familiengerichts über den Antrag der
Beigeladenen auf Erlass richterlicher Entscheidungen nach dem Gewaltschutzgesetz - GewaltschutzG - zu
überbrücken. Mit dieser Zwecksetzung begegnet die angefochtene Verfügung aber erheblichen rechtlichen
Bedenken, da diese Erwägung ermessensfehlerhaft sein dürfte und die Antragsgegnerin für eine solche
Regelung auch nicht zuständig sein dürfte.
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Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (U. v. 22.07.2004 - 1 S 2801/03 -,
VBlBW 2005 S. 138 ff.) sperrt zwar das Gewaltschutzgesetz nicht den Rückgriff auf die polizeiliche
Generalklausel. Allerdings kann diese nur für einen kurzfristigen Wohnungsverweis dienen. Der polizeiliche
Wohnungsverweis stellt nach dieser Rechtsprechung lediglich eine flankierende Maßnahme dar, um der
Behörde in Fällen häuslicher Gewalt eine erste kurzfristige Krisenintervention zu ermöglichen und Opfern
bereits vor bzw. bis zur Erreichbarkeit zivilrechtlichen Schutzes beizustehen. Darüber hinaus hat das
Gewaltschutzgesetz den zivilrechtlichen Schutz bei Gewalttaten und bei bestimmten unzumutbaren
Belästigungen erheblich erweitert und einen Verstoß gegen eine familiengerichtliche Schutzanordnung sogar
ausdrücklich mit Strafe bewehrt. Das Gewaltschutzgesetz sieht in § 1 auf Antrag des Opfers ein befristetes
richterliches Betretungsverbot sowie ein Aufenthaltsverbot in einem bestimmten Umkreis der Wohnung und
sonstige richterliche Anordnungen vor. Es ermöglicht auch den Opfern, in ihrer Wohnung zu bleiben und dort
vor weiteren Übergriffen geschützt zu werden. Insbesondere kann im Wege eines Eilantrags vor dem Zivil-
bzw. Familiengericht erreicht werden, dass die gemeinsame Wohnung dem Opfer zeitlich befristet zur
alleinigen Nutzung zugewiesen wird. Auch ermöglicht § 64 b Abs.2 Satz 2 FGG, dass das Familiengericht die
sofortige Wirksamkeit einer Entscheidung nach den §§ 1 und 2 GewaltschG und die Zulässigkeit einer
Vollstreckung bereits vor der Zustellung an den Antragsgegner anordnet. Das Familiengericht kann auch
gemäß § 64 b Abs.3 Satz 1 FGG auf Antrag in einem Verfahren nach den §§ 1und 2 GewaltschutzG im Wege
einer einstweiligen Anordnung vorläufige Regelungen erlassen. Bis zur Erlangung von Eilrechtsschutz vor dem
Familiengericht bleibt es bei der Anwendung der polizeilichen Generalklausel, um dem von häuslicher Gewalt
betroffenen Opfer angemessene Zeit zur Einholung zivilrechtlichen Rechtsschutzes zu gewähren. Der
polizeiliche Wohnungsverweis stellt aber lediglich eine flankierende, kurzfristige Maßnahme dar, um der
Behörde in Fällen häuslicher Gewalt eine erste kurzfristige Krisenintervention zu ermöglichen und Opfern
bereits vor bzw. bis zur Erreichbarkeit zivilrechtlichen Schutzes beizustehen. Von einer kurzfristigen
Krisenintervention dürfte aber dann nicht mehr die Rede sein, wenn sich der polizeiliche Wohnungsverweis -
wie hier - über einen Zeitraum von insgesamt vier Wochen erstrecken soll.
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Auch kann die polizeiliche Generalklausel wohl nicht dazu herangezogen werden, Zeiträume bis zu einer
Entscheidung des Amtsgerichts im Verfahren nach dem Gewaltschutzgesetz zu überbrücken. Denn nach der
oben genannten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (a.a.O.) kommt die
polizeiliche Generalklausel als Ermächtigungsgrundlage für einen Wohnungsverweis mit Rückkehrverbot nur
dann in Betracht, wenn diese wegen eines Eingriffs in Art. 11 Abs. 1 GG und des Gesetzesvorbehalts in Art.
11 Abs. 2 GG verfassungskonform ausgelegt und angewandt wird. Nach dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt
in Art. 11 Abs. 2 GG darf das Recht auf Freizügigkeit nur durch Gesetz u. a. nur für die Fälle eingeschränkt
werden, in denen eine derartige Einschränkung erforderlich ist, „um strafbaren Handlungen vorzubeugen“. Es
reicht danach nicht aus, dass die Voraussetzungen einer allgemeinen polizeilichen Gefahr im Sinne von §§ 1, 3
PolG vorliegen. Vielmehr müssen bei verfassungskonformer Auslegung der polizeilichen Generalklausel die
qualifizierten Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 GG gegeben sein. Freizügigkeitsbeschränkende
Maßnahmen wie ein Wohnungsverweis sind danach grundsätzlich nur zur Vorbeugung strafbarer Handlungen,
mithin regelmäßig nur in Fällen häuslicher Gewalt zur Verhinderung von Gewalt- und Nötigungsdelikten
zulässig.
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Für die hier angefochtene Verfügung ist jedoch nicht der Gesichtspunkt der Verhinderung von Straftaten
bestimmend, sondern derjenige der Überbrückung des Zeitraums bis zum Ergehen einer zivilrichterlichen
Entscheidung nach dem Gewaltschutzgesetz. Abgesehen davon, dass hiergegen bereits erhebliche Bedenken
unter dem Gesichtspunkt eines fehlerhaften Gebrauchs des durch §§ 1, 3 PolG eingeräumten Ermessens
bestehen, dürfte es für eine solche polizeiliche Maßnahme auch an der Zuständigkeit mangeln. Denn nach § 2
Abs. 2 PolG obliegt der Polizei der Schutz privater Rechte nur dann, wenn gerichtlicher Schutz nicht zu
erlangen ist und wenn ohne polizeiliche Hilfe die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts vereitelt
oder wesentlich erschwert wird. Wie den dem Gericht vorliegenden Unterlagen zu entnehmen ist, hat die
Prozessbevollmächtigte der Beigeladenen mit Schriftsatz vom 25.07.2007 einen Antrag auf Maßnahmen nach
dem Gewaltschutzgesetz beim Amtsgericht Rastatt - Familiengericht - gestellt, über den aber bisher noch nicht
entschieden ist und über den nach Auskunft des Amtsgerichts Rastatt vom heutigen Tag im Laufe dieser
Woche nicht mehr entschieden wird. Es fällt nicht in die Zuständigkeit der Ortspolizeibehörde, quasi im Vorgriff
auf etwaige amtsrichterliche Regelungen nach dem Gewaltschutzgesetz vorläufige Maßnahmen zu treffen, die
ausschließlich dem Amtsgericht im Rahmen der Anwendung des Gewaltschutzgesetzes vorbehalten sind.
10 Auf den Antrag des Antragstellers war daher die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs
wiederherzustellen, bzw. hinsichtlich der in Ziff. 5 der Verfügung vom 09.08.2007 ausgesprochenen
Zwangsgeldandrohung anzuordnen.
11 Die beschließende Kammer weist klarstellend darauf hin, dass die Antragsgegnerin durch diese Entscheidung
nicht gehindert ist, bei einem erneuten Anlass häuslicher Gewalt (wieder) einen polizeilichen Wohnungsverweis
zur Vorbeugung strafbarer Gewalt- und Nötigungsdelikte als Maßnahme einer kurzfristigen Krisenintervention i.
S. d. Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg (a.a.O.) auszusprechen.
12 Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Der Antrag der Beigeladenen auf
Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gem. § 80 Abs. 5
VwGO war mangels hinreichender Erfolgsaussicht abzulehnen (§ 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO). Die
Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Eine Halbierung des
Auffangstreitwertes im Hinblick auf den vorläufigen Charakter der vorliegenden Entscheidung kommt nicht in
Betracht, da mit dieser - angesichts der Dauer der Verlängerung des Platzverweises um weitere zwei Wochen -
eine Vorwegnahme der Hauptsache verbunden ist.