Urteil des VG Karlsruhe vom 21.05.2008
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VG Karlsruhe Beschluß vom 9.2.2010, 9 K 3681/09
Kraftfahreignung bei Trunkenheitsfahrt mit einem Fahrrad
Leitsätze
Die vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 21.05.2008 (- 3 C 32/07 -, BVerwGE 131, 163) aufgestellten
Maßstäbe, unter welchen Voraussetzungen ein Fahrerlaubnisinhaber, der nur als Fahrradfahrer alkoholisiert am
Straßenverkehr teilgenommen hat, zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist, gelten auch nach der zum
30.10.2008 in Kraft getretenen Änderung von Nr. 8.1. der Anlage 4 FeV.
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Verfügung des Landratsamts
Enzkreis vom 08.12.2009 wird wiederhergestellt, soweit ihm darin die Fahrerlaubnis entzogen und aufgegeben
worden ist, seinen Führerschein unverzüglich beim Landratsamt Enzkreis abzuliefern.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Verfügung des
Landratsamts E vom 08.12.2009, mit der unter Anordnung des Sofortvollzugs die dem Antragsteller erteilte
Fahrerlaubnis der Klassen BE und CE entzogen und er zur unverzüglichen Ablieferung seines Führerscheins
aufgefordert wurde, ist nach § 80 Abs. 5 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO statthaft und auch sonst zulässig
und begründet.
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Die vom Gericht im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Abwägung fällt zugunsten des Interesses
des Antragstellers aus, vom Vollzug der Entziehungsverfügung vor einer rechtskräftigen Entscheidung über
ihre Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben. Denn nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein
gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage sind die Erfolgsaussichten des Widerspruchs
offen (dazu 1.). Die danach vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass das Interesse des Antragstellers
das Interesse der Allgemeinheit am sofortigen Vollzug der Verfügung überwiegt (dazu 2.).
1.
3
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i. V. m. § 46 Abs. 1 Satz 1 Fahrerlaubnis-Verordnung
(FeV) hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum
Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere dann, wenn
Erkrankungen oder Mängel nach der Anlage 4 zu §§ 11, 13 und 14 FeV (Anlage 4 FeV) vorliegen. An der
Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen fehlt es nach Ziffer 8.1. der Anlage 4 FeV bei Alkoholmissbrauch.
Alkoholmissbrauch liegt nach dieser Ziffer in der seit dem 30.10.2008 geltenden Fassung vor, wenn der
Betroffene das Führen von Fahrzeugen und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum nicht
hinreichend sicher trennen kann, ohne bereits abhängig zu sein. Nach Beendigung des Missbrauchs ist nach
Ziffer 8.2 der Anlage 4 FeV die Eignung wiedererlangt, wenn die Änderung des Trinkverhaltens gefestigt ist.
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Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis in diesem Sinne
zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist - z. B. wenn von ihm ein Fahrzeug im Straßenverkehr bei einer
Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille oder mehr geführt wurde, § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV -, ist dem
durch die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung nachzugehen (§§ 46 Abs. 3 i.V.m. 11
Abs. 3 Satz 2, 13 FeV und Anlage 4 FeV).
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Um zu klären, ob bei einer Person, die nur als Fahrradfahrer alkoholisiert am Straßenverkehr teilgenommen
hat, die Gefahr künftiger Verstöße gegen das fahrerlaubnisrechtliche Trennungsgebot besteht, müssen im
Rahmen einer medizinisch-psychologischen Begutachtung zum einen die Umstände der in der Vergangenheit
zu verzeichnenden Trunkenheitsfahrt, zum anderen die Vorgeschichte und die Entwicklung des Trinkverhaltens
des Betroffenen sowie schließlich sein Persönlichkeitsbild näher aufgeklärt und bewertet werden. Insoweit
kommt es darauf an, ob die Trunkenheitsfahrt mit dem Fahrrad Ausdruck eines Kontrollverlustes war, der
genauso gut zu einer Verkehrsteilnahme mit einem Kraftfahrzeug führen kann. Ist nach erfolgter
Vergewisserung über die Erfüllung dieser Kriterien vom Betroffenen die Änderung seines Trinkverhaltens zu
fordern, muss diese hinreichend stabil sein, damit die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bejaht werden
kann (BVerwG, Urt. v. 21.05.2008 - 3 C 32/07 -, BVerwGE 131, 163).
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Diese Maßstäbe gelten auch nach der Änderung von Ziffer 8.1. der Anlage 4 FeV. In der bis zum 29.10.2008
geltenden Fassung, die der zitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde lag, definierte
Ziffer 8.1 der Anlage 4 FeV einen die Fahreignung ausschließenden Alkoholmissbrauch als individuelle
Unfähigkeit, das Führen von Kraftfahrzeugen und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum
hinreichend sicher zu trennen. Nunmehr wird Alkoholmissbrauch in Ziffer 8.1 der Anlage 4 FeV mit der
Unfähigkeit gleichgesetzt, das Führen von Fahrzeugen und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden
Alkoholkonsum hinreichend sicher zu trennen. Dass es allein auf die Gefahr des (erneuten) Führens eines
Fahrrades unter Alkoholeinfluss ankommt, ist bei sachgerechtem Verständnis der Ziffer 8.1. der Anlage 4 FeV
wohl nicht zu entnehmen, da mit dieser Anlage die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen konkretisiert wird.
Auch nach Ziffer 1 f) Sätze 1, 3, 4 und 5 der Anlage 15 FeV ist Gegenstand der medizinisch-psychologischen
Untersuchung insbesondere, ob zu erwarten ist, dass der Betroffene nicht oder nicht mehr ein Kraftfahrzeug
unter Einfluss von Alkohol oder Betäubungsmitteln/Arzneimitteln führen wird. Bei Alkoholmissbrauch, ohne
dass Abhängigkeit vorhanden war oder ist, muss sich die Untersuchung darauf erstrecken, ob der Betroffene
den Konsum von Alkohol einerseits und das Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr andererseits
zuverlässig voneinander trennen kann. Dem Betroffenen kann die Fahrerlaubnis nur dann erteilt bzw. belassen
werden, wenn sich bei ihm ein grundlegender Wandel in seiner Einstellung zum Führen von Kraftfahrzeugen
unter Einfluss von Alkohol oder Betäubungsmitteln/Arzneimitteln vollzogen hat. Der Ziffer 8.1 der Anlage 4 FeV
in der geänderten Fassung ist auch nicht zu entnehmen, dass nach einer Teilnahme am Straßenverkehr als
Fahrradfahrer unter erheblichem Alkoholeinfluss ausnahmslos von einem fehlenden Trennungsvermögen
zwischen dem Führen von Fahrzeugen und einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum und
von einer (wiedererlangten) Fahreignung erst nach einer gefestigten Änderung des Trinkverhaltens auszugehen
ist. Mit dieser Änderung reagierte der Verordnungsgeber (BR-Drs. 302/08, S. 70) auf die vor Klärung durch das
Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 21.05.2008, a.a.O.) vertretene Auffassung, der Verordnungsgeber nehme
unterhalb der Schwelle der Alkoholabhängigkeit die Risiken für den Straßenverkehr ausdrücklich hin, die allein
auf einer Alkoholproblematik eines bislang nicht mit einem Kraftfahrzeug auffällig gewordenen Kraftfahrers
beruhten. Er beabsichtigte mit der Änderung von Ziffer 8.1 der Anlage 4 FeV eine sprachliche Klarstellung und
Rechtsklarheit, denn er ging davon aus, dass nach der bisherigen Fassung bei einer Unfähigkeit, das Führen
eines Fahrzeugs, das kein Kraftfahrzeug ist, und einen die Verkehrssicherheit beeinträchtigenden
Alkoholkonsum zu trennen, keine Fahreignungszweifel vorlägen, und Ziffer 8.1. FeV in der vorherigen Fassung
deshalb in Widerspruch zu § 13 Satz 1 Nr. 2 c FeV stehe, der die Anordnung der Beibringung eines
medizinisch-psychologischen Gutachtens auch dann vorsehe, wenn ein solches Fahrzeug im Straßenverkehr
ab einer bestimmten Alkoholisierung geführt worden sei. Der Verordnungsgeber wollte demgegenüber nicht von
vornherein unterstellen, ein Fahrerlaubnisinhaber, der mit einem Fahrrad nicht das nötige
Verantwortungsbewusstsein gezeigt habe, werde auch bereit sein, die Verkehrssicherheit ungleich stärker (vgl.
BVerfG, Urt. v. 27.03.1979 - 2 BvL 7/78 –, BVerfGE 51, 60; OVG Rh.-Pf., Beschl. v. 25.09.2009 - 10 B
10930/09 -, DAR 2010, 35) mit einem Kraftfahrzeug zu gefährden.
7
Durch das vom Antragsteller vorgelegte medizinisch-psychologische Gutachten ist seine mangelnde
Fahreignung nicht erwiesen. In Abweichung von der Fragestellung des Antragsgegners, die sich auf die
Prognose bezieht, ob der Antragsteller auch zukünftig ein Fahrzeug unter Alkoholeinfluss führen wird, nimmt
das Gutachten zu der - wie dargestellt allein relevanten - Frage Stellung, ob der Antragsteller zukünftig ein
Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen wird. Es bestehen jedoch Zweifel, ob die Begutachtungsstelle zur
Beantwortung dieser Frage die Umstände der Trunkenheitsfahrt des Antragstellers mit dem Fahrrad
ausreichend aufgeklärt und gewürdigt hat. Das Gutachten setzt sich mit der Vorgeschichte, den Motiven und
der Entwicklung des Trinkverhaltens des Antragstellers auseinander, misst aber den Umständen seiner
Trunkenheitsfahrt mit dem Fahrrad offensichtlich keine Bedeutung bei: Zu den Voraussetzungen für eine
günstige Prognose heißt es in dem Gutachten, Personen, die mit einer Blutalkoholkonzentration wie beim
Antragsteller am Straßenverkehr teilnähmen, seien an den Konsum großer, nur noch eingeschränkt
kontrollierbarer Alkoholmengen gewöhnt. Bei BAK-Werten von über 1,6 Promille sei mit hoher
Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass eine allgemeine Alkoholproblematik mit der Ausbildung einer
gesteigerten Alkoholtoleranz und regelmäßig erhöhtem Alkoholkonsum außerhalb des sozial üblichen Rahmens
vorliege. Daraus resultierten auch berechtigte Zweifel an dem dauerhaft zuverlässigen Trennvermögen von
Alkoholkonsum und dem Führen eines Kraftfahrzeugs. Es sei nur dann möglich, Fahrten unter Alkoholeinfluss
zuverlässig zu vermeiden, wenn man seine Alkoholaufnahme kontrollieren und den Blutalkoholspiegel bei
Fahrtantritt abschätzen könne und in der Lage sei, die Alkoholwirkung realistisch einzuschätzen. Diese
Voraussetzungen seien bei einer erhöhten Alkoholtoleranz nicht gegeben. Folglich könne nur dann eine für den
Antragsteller günstige Prognose gestellt werden, wenn er das Alkoholverhalten ausreichend und stabil geändert
habe. Vor diesem Hintergrund sahen sich die Gutachter aufgrund der Kürze der als authentisch beschriebenen
Alkoholabstinenz seit Ende August 2009 nicht zu einer positiven Prognose in der Lage.
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Demgegenüber fehlt es an hinreichenden Feststellungen zur Frage der Wahrscheinlichkeit von
Trunkenheitsfahrten des Antragstellers als Kraftfahrer. Der Antragsteller, bei dem nach den insoweit
überzeugenden Ausführungen im Gutachten keine Alkoholabhängigkeit, aber eine ausgeprägte
Alkoholproblematik vorlag, gab zu dem Vorfall im Juni 2009 an, er habe an einem Grillfest teilgenommen. Da er
gewusst habe, dass dort getrunken werde, sei er auf dem Fahrradweg mit dem Fahrrad gefahren. Diese
Aussagen des Antragstellers verlangen eine Erörterung der Frage, ob aus der Trunkenheitsfahrt mit dem
Fahrrad deshalb nicht darauf geschlossen werden darf, er werde künftig ggf. auch mit einem Kraftfahrzeug
betrunken am Straßenverkehr teilnehmen, weil sich die Benutzung des Fahrrades möglicherweise als bewusste
Strategie zur Vermeidung einer Autofahrt darstellte. Gerade weil die Angaben des Antragstellers im
psychologischen Untersuchungsgespräch zu seinem Problemverhalten und zu relevanten Veränderungen im
Gutachten als ausreichend wirklichkeitsnah und nachvollziehbar gewertet werden, und ihm rückblickend
ausdrücklich ein ausreichendes Problembewusstsein bescheinigt wird, eine motorisierte Verkehrsteilnahme
unter Alkoholeinfluss zu vermeiden, erscheint es jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass der Benutzung des
Fahrrades bereits damals seine bewusste Entscheidung zugrunde lag, eine Teilnahme am Straßenverkehr
unter Alkoholeinfluss als Kraftfahrer zu vermeiden, die Trunkenheitsfahrt mit dem Fahrrad also nicht Ausdruck
eines Kontrollverlustes war, der genauso gut zu einer Verkehrsteilnahme mit einem Kraftfahrzeug hätte führen
können. Ob es sich so verhält und wie ein solches Verhalten bejahendenfalls prognostisch zu würdigen ist,
muss künftiger Sachverhaltsaufklärung vorbehalten bleiben.
2.
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Bei der angesichts offener Erfolgsaussichten in der Hauptsache vorzunehmenden Interessenabwägung ist zum
einen zu berücksichtigen, dass der Antragsteller zwar seit Beginn seiner Arbeitslosigkeit im Jahr 2003
jedenfalls bis zum Sommer 2009 regelmäßig erhebliche Mengen Alkohol zu sich nahm. Auf der anderen Seite
wurden seine Angaben im psychologischen Untersuchungsgespräch zu seinem Problemverhalten und zu
relevanten Veränderungen im Gutachten als ausreichend wirklichkeitsnah und nachvollziehbar gewertet. Er
habe weitgehend offen und authentisch die Entwicklung eines problematischen Alkoholkonsums in der Folge
eines Selbstwertverlustes durch eine längere Arbeitslosigkeit geschildert und auf der Basis einer offenen und
selbstkritischen Einsicht in die eigene Alkoholproblematik einen authentischen, wenn auch aufgrund der
zeitlichen Kürze noch ungefestigten Abstinenzentschluss vorgebracht. Darüber hinaus sind weitere
Trunkenheitsfahrten vor oder nach dem Vorfall am 13.06.2009 nicht festzustellen. Bei der Prognose, ob es
verantwortet werden kann, ihm bis zur Klärung seiner Fahreignung weiterhin das Führen von Kraftfahrzeugen
im Straßenverkehr zu ermöglichen, ist schließlich zu berücksichtigen, dass er sich im anhängigen Verfahren
einer erneuten Begutachtung zu unterziehen haben wird. Nach alledem überwiegen die Interessen des
Antragstellers an einer Aussetzung der Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung und damit auch der Pflicht zur
Ablieferung des Führerscheins (§§ 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, 47 Abs. 1 FeV) das Interesse der Allgemeinheit.
10 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 53 Abs. 2 Nr. 2
i. V. m. § 52 Abs. 1 und 2 GKG und den Empfehlungen in Ziffern 1.5, 46.4 und 46.8 des Streitwertkatalogs für
die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 7./8. Juli 2004 (NVwZ 2004, 1327).