Urteil des VG Gießen vom 23.06.2008

VG Gießen: aufschiebende wirkung, örtliche zuständigkeit, kreis, stadt, dienstort, zustellung, bezirk, anfechtungsklage, gefahr, rechtswidrigkeit

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Gericht:
VG Gießen 5.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 L 1501/08.GI
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 28 BG HE, § 77 Abs 1 Nr 1e
PersVG HE, § 91 Abs 4 S 3
PersVG HE, § 39 VwVfG HE, §
52 Nr 4 S 1 VwGO
örtliche Zuständigkeit des VG bei Abordnung eines Lehrers
Leitsatz
a) Maßgeblicher dienstlicher Wohnsitz i. S. v. § 52 Nr. 4 S. 1 VwGO bei Anfechtung einer
Abordnungsentscheidung ist der bisherige Dienstort.
b) Mitbestimmung des Gesamtpersonalrats bei Abordnung eines Lehrers zwischen
Dienststellen zweier Landkreise, für die dasselbe Staatliche Schulamt zuständig ist.
c) Rechtswidrigkeit der Abordnung eines Lehrers zur Unterbindung vermuteter
körperlicher Misshandlung von Schulkindern.
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des
Antragstellers vom 05.06.2008 gegen den Bescheid des
Staatlichen Schulamtes für den Lahn-Dill-Kreis und den
Landkreis Limburg-Weilburg vom 03.06.2008 wird
angeordnet.
2. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu
tragen.
3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500 €
festgesetzt.
Gründe
Der mit am 06.06.2008 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz vom Antragsteller
gestellte Antrag,
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 05.06.2008 gegen die
Abordnung des Staatlichen Schulamts für den Lahn-Dill-Kreis und den Landkreis
Limburg-Weilburg vom 03.06.2008 anzuordnen,
ist gemäß §§ 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO, 182 Abs. 3 Nr. 3 HBG statthaft und auch im
Übrigen zulässig.
Insbesondere ist das Verwaltungsgericht Gießen das örtlich zuständige Gericht.
Die Zuständigkeit ergibt sich aus § 52 Nr. 4 Satz 1 VwGO, weil der maßgebliche
dienstliche Wohnsitz des Antragstellers im Bezirk des Verwaltungsgerichts Gießen
(§ 1 Abs. 2 Nr. 3 HessAGVwGO) liegt und die Ausnahmevorschrift des § 52 Nr. 4
Satz 2 VwGO nicht greift. Maßgeblich ist der zum Zeitpunkt des Zugangs der
Abordnungsverfügung inne gehabte dienstliche Wohnsitz in A-Stadt im Lahn-Dill-
Kreis – der Antragsteller war als Lehrer an der X-Schule in A-Stadt, Ortsteil Y
eingesetzt – und nicht der durch die Abordnung an die Z-Schule Q begründete
neue dienstliche Wohnsitz in Q im Landkreis Limburg-Weilburg. Dieser Landkreis
liegt im Bezirk des Verwaltungsgerichts Wiesbaden (§ 1 Abs. 2 Nr. 5
HessAGVwGO). Im Falle der Anfechtung einer Abordnungsentscheidung kommt es
für die Bestimmung des dienstlichen Wohnsitzes im Sinne von § 52 Nr. 4 VwGO auf
den Dienstort an, an dem der Beamte im Zeitpunkt der Zustellung der
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den Dienstort an, an dem der Beamte im Zeitpunkt der Zustellung der
Abordnungsverfügung seinen Dienst versehen hat (so zur früheren Rechtslage, als
Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Abordnung oder die Versetzung
noch aufschiebende Wirkung hatten: Bay. VGH, Beschluss vom 20.11.1984 – 3 CS
84 a 2389 -, ZBR 1985, 210) und nicht darauf an, an welchem Ort der
Antragsteller/Kläger zum Zeitpunkt der Eilantragsstellung/der Erhebung seiner
Klage seinen Dienst versieht. Es entspricht einer natürlichen Betrachtungsweise
bei einem Streit um eine Maßnahme, die den Ort der Dienstausübung verändert,
regelmäßig dasjenige Verwaltungsgericht als für den Beamten leicht erreichbar
anzusehen, in dessen Bezirk der Beamte im Zeitpunkt der Zustellung der
Abordnungs-/Versetzungsverfügung tätig war. Sein Ziel dürfte regelmäßig darin
bestehen, den bisherigen Dienstort nicht aufgeben zu müssen. Dies zu erreichen,
ist am Ort der Dienststelle und damit zumeist auch in Nähe des Wohnortes und
des Lebensmittelpunktes für den Beamten einfacher als am neuen Dienstort und
bei dem dafür zuständigen Verwaltungsgericht. Diese Auffassung gewährleistet,
dass die örtliche Zuständigkeit in jeder Lage des Verfahrens frei von dem Einfluss
eines von den Beteiligten objektiv feststeht. An diesen Überlegungen hat sich auch
durch In-Kraft-Treten des § 182 Abs. 3 Nr. 3 HBG (angefügt durch Artikel 1 Nr. 22
des 7. Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften vom 07.07.1998 –
GVBl. I, 260 -), wonach Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Abordnung
oder die Versetzung keine aufschiebende Wirkung haben, nichts geändert. Der
vom Verwaltungsgericht Wiesbaden (Beschluss vom 20.07.2001 – 8 E 2337/00 -)
vertretenen gegenteiligen Auffassung schließt sich die Kammer auch weiterhin
nicht an. Es bestünde zudem die Gefahr, dass bei Anknüpfung an den zum
Zeitpunkt des Rechtsbehelfs – und nicht der Abordnungs-/Versetzungsverfügung –
inne gehabten dienstlichen Wohnsitz die örtliche Zuständigkeit für Eil- und
Klageverfahren auseinanderfallen kann (so auch schon VG Gießen, Beschluss vom
19.04.2002 – 5 E 67/02).
Der Antrag ist auch begründet.
Vorläufigen Rechtsschutz gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gewährt die Kammer,
wenn der angefochtene Bescheid entweder offensichtlich rechtswidrig ist oder
wenn bei einer rechtmäßigen Verwaltungsentscheidung bzw. bei einem offenen
Ausgang des Hauptsacheverfahrens das private Aufschubinteresse des
Antragstellers das öffentliche Interesse des Antragsgegners an der sofortigen
Vollziehung des Bescheides überwiegt. Nach der im vorläufigen
Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotenen und allein
möglichen summarischen Überprüfung des Sachstandes erweist sich der vom
Antragsteller im Hauptsacheverfahren angegriffene Abordnungsbescheid vom
03.06.2008 – konkretisiert mit Schreiben vom 10.06.2008 – als offensichtlich
rechtswidrig.
Gegen den Abordnungsbescheid des Staatlichen Schulamtes für den Lahn-Dill-
Kreis und den Landkreis Limburg-Weilburg vom 03.06./10.06.2008 bestehen
bereits in formeller Hinsicht durchgreifende rechtliche Bedenken. Es mangelt an
der gemäß §§ 77 Abs. 1 Nr. 1 e, 91 Abs. 4 Satz 2 HPVG erforderlichen
Zustimmung des Gesamtpersonalrats beim Staatlichen Schulamt für den Lahn-
Dill-Kreis und den Landkreis Limburg-Weilburg. Nach § 77 Abs. 1 Nr. 1 e HPVG
bestimmt der Personalrat mit in Personalangelegenheiten der Beamten bei
„Abordnungen zu einer anderen Dienststelle für eine Dauer von mehr als 6
Monaten“. Nach § 91 Abs. 4 Satz 2 HPVG bestimmt bei Abordnungen und
Versetzungen innerhalb des Dienstbezirks eines Staatlichen Schulamtes (wie dies
hier der Fall ist) der Gesamtpersonalrat anstelle des Personalrats der abgebenden
und des Personalrats der aufnehmenden Stelle mit.
Entgegen der Rechtsauffassung des Antragsgegners entfällt die Mitbestimmung
nicht deshalb, weil die Abordnung für die Dauer eines Jahres verfügt ist und
zwischen Dienststellen im Sinne von § 91 Abs. 2 HPVG erfolgt, für die dasselbe
Staatliche Schulamt zuständig ist. § 91 Abs. 4 Satz 3 HPVG enthält – anders als
der Antragsgegner wohl meint – keine Ausnahme von der Mitbestimmung unter
der vorbeschriebenen tatbestandlichen Voraussetzung. Gemäß § 91 Abs. 4 Satz 3
HPVG unterliegen nur Abordnungen „1. bis zur Dauer eines Schuljahres, 2. mit
weniger als der Hälfte der Pflichtstunden bis zur Dauer von zwei Schuljahren“ nicht
der Mitbestimmung, wenn sie „innerhalb eines Landkreises oder einer kreisfreien
Stadt“ erfolgen, „sowie zwischen Dienststellen eines Landkreises und einer
kreisfreien Stadt, für die dasselbe Staatliche Schulamt zuständig ist“. Keiner
dieser Sachverhalte ist hier gegeben. Die Abordnung des Antragstellers ist verfügt,
zwischen Dienststellen zweier Landkreise (X-Schule in A-Stadt im Lahn-Dill-Kreis
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zwischen Dienststellen zweier Landkreise (X-Schule in A-Stadt im Lahn-Dill-Kreis
und der Z-Schule in Q im Landkreis Limburg-Weilburg), für die dasselbe Staatliche
Schulamt zuständig ist. Dass der hessische Gesetzgeber mit § 91 Abs. 4 Satz 3
HPVG abweichend vom klaren Wortlaut der Regelung eine weitergehende
Ausnahme vom Mitbestimmungsrecht der Personalvertretung im Schulbereich
regeln wollte, ist nicht ersichtlich. Auch der Begründung des Entwurfes des
Gesetzes zur Beschleunigung von Entscheidungsprozessen innerhalb der
öffentlichen Verwaltung vom 06.07.1999 (GVBl. I, 338), mit welcher § 91 Abs. 4
HPVG der Satz 3 angefügt wurde, ist diesbezüglich nichts zu entnehmen (vgl. LT-
Drucks. 15/123, 15/277).
Wird der nach § 77 Abs. 1 Nr. 1 e HPVG festgesetzte mitbestimmungsfreie
Zeitraum von 6 Monaten überschritten, kann die Abordnung des Antragstellers für
„die Dauer von einem Jahr ab der Zustellung der Verfügung“ an die Z-Schule in Q
wegen fehlender Zustimmung des Gesamtpersonalrates beim Staatlichen
Schulamt des Lahn-Dill-Kreises und des Landkreises Limburg-Weilburg keinen
Bestand haben. Auf die Frage, ob die Ausnahmevorschrift des § 91 Abs. 4 Satz 3
HPVG auch deshalb nicht greift, weil der Antragsteller nicht „bis zur Dauer eines
Schuljahres“ abgeordnet wurde, sondern die verfügte Jahresfrist sich über zwei
Schuljahre erstreckt, nämlich die restliche Zeit des Schuljahres 2007/2008, das
erst am 31.07.2008 endet und einen großen Teil des weiteren Schuljahres
2008/2009, das am 01.08.2008 beginnt, kommt es nicht mehr an.
Die Abordnung leidet bei summarischer Prüfung zumindest an einem weiteren
Mangel, der ebenfalls zu ihrer Rechtswidrigkeit führt.
Es erscheint schon fraglich, ob der Bescheid des Staatlichen Schulamtes für den
Lahn-Dill-Kreis und den Landkreis Limburg-Weilburg vom 03.06.2008 eine
ordnungsgemäße Begründung im Sinne des § 39 Abs. 1 HVwVfG enthält. Nach
Absatz 1 Satz 1 dieser Vorschrift ist ein schriftlicher Verwaltungsakt mit einer
Begründung zu versehen. Nach Satz 3 soll die Begründung von
Ermessensentscheidungen auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen
die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Diesen
Anforderungen dürfte der Bescheid vom 03.06.2008 nicht genügen. Ihm lassen
sich die für die Ermessensbetätigung maßgeblichen Überlegungen nicht
entnehmen. Zwar scheint die Behörde hier wohl von einer so genannten
Ermessensreduzierung auf Null ausgegangen zu sein, wie sich aus der
Formulierung „insbesondere halte ich es für dringend geboten, Sie …
abzuordnen“, schließen lässt. Eine Begründung dafür ist dem Bescheid jedoch
nicht zu entnehmen und für das Gericht auch sonst nicht ersichtlich.
Jedenfalls fehlt es an der materiellen Rechtmäßigkeit des angefochtenen
Bescheides. Er ist ermessensfehlerhaft. Die Abordnung des Antragstellers stellt
keine taugliche Maßnahme dar für die Zielsetzung, die der Antragsgegner mit ihr
verbindet. Wie sich aus der Abordnungsverfügung entnehmen lässt und im
Schriftsatz des Antragsgegners vom 19.06.2008 bestätigt wird, sieht er
Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller als Lehrer über Jahre Kinder körperlich
und seelisch misshandelt hat. Die Abordnung sei danach dringend geboten „zur
Aufrechterhaltung eines … gewaltfreien Dienstbetriebes“ (so der Bescheid vom
03.06.2008), bzw. „um weiteren körperlichen und seelischen Schaden von
minderjährigen Schutzbefohlenen abzuwenden“ (so der Schriftsatz). Damit kann
sicher grundsätzlich das Bestehen eines dienstlichen Bedürfnisses im Sinne von §
28 Abs. 1 HBG dargelegt werden, das gesetzliche Voraussetzung für die
Entscheidung des Dienstherrn ist, ob und wie er von dem durch § 28 HBG
eröffneten Entscheidungsspielraum Gebrauch machen will. Im konkreten Fall ist die
verfügte Abordnung jedoch das ungeeignete Mittel. Der Antragsteller wird nämlich
an eine andere Schule – wenn auch von einer Grundschule an eine Haupt- und
Realschule – abgeordnet, an welcher er ebenfalls minderjährige Schutzbefohlene
unterrichten wird. Warum die vom Antragsgegner beschriebene Gefahr, dass der
Antragsteller Kinder körperlich misshandelt, an der Schule in Q anders als in der
Schule in A-Stadt, Ortsteil Y, ausgeschlossen, oder zumindest deutlich reduziert
sein soll, begründet der Antragsgegner nicht. Solches erschließt sich dem Gericht
auch nicht aus dem Akteninhalt. Mit der Abordnung wird so die Schadensgefahr
(anders als dies z. B. im Falle einer Abordnung des Antragstellers an das
Staatliche Schulamt der Fall wäre), die der Antragsgegner von den Schulkindern
abwenden will, nur auf andere Schulkinder verlagert.
Da sich der Abordnungsbescheid vom 03.06.2008 bei summarischer Prüfung des
Sachstandes aus den beiden oben dargelegten Gründen als offensichtlich
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Sachstandes aus den beiden oben dargelegten Gründen als offensichtlich
rechtswidrig erweist, kann offen bleiben, ob er weitere rechtliche Mängel aufweist.
Als unterliegender Teil hat der Antragsgegner gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die
Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf §§ 52 Abs. 2, 53
Abs. 3 Nr. 2 GKG. Mangels anderweitiger Anhaltspunkte für die Bemessung der
Bedeutung der Sache für den Antragsteller legt das Gericht im
Hauptsacheverfahren einen Streitwert von 5.000 € zu Grunde und halbiert diesen
im Hinblick auf den vorläufigen Charakter des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.