Urteil des VG Gelsenkirchen vom 28.09.2001
VG Gelsenkirchen: begriff, wohnung, aufenthaltswechsel, umzug, sozialhilfe, absicht, adresse, leistungsklage, mobiliar, zink
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 19 K 2480/00
Datum:
28.09.2001
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
19. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
19 K 2480/00
Tenor:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 21.220,27 DM zu zahlen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits, für den Gerichtskosten
nicht erhoben werden. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe
von 21.220,27 DM vorläufig vollstreckbar.
T a t b e s t a n d :
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Das Sozialamt der Beklagten gewährte Herrn T. N. ( Hilfesuchender ) seit dem 1. März
1997 Sozialhilfeleistungen. Der Hilfesuchende - anerkannter Asylbewerber - war zuletzt
unter der Adresse Kemnader Straße 439, Bochum - einem Übergangswohnheim -
gemeldet. Am 1. Juli 1998 meldete er sich von dieser Wohnung ab und gab als Tag des
Auszugs den 14. Juni 1998 an. Am 15. und 24. Juni 1994 beantragte er bei Sozialamt
der Beklagten, ihm die Kosten für ein Hotelzimmer zu gewähren, was abgelehnt wurde.
Ende Juni 1998 begab er sich zur Beratungsstelle für alleinstehende wohnungslose
Männer in Bochum und gab diese Anschrift als Postanschrift an. Im Folgenden ist dem
Hilfesuchenden als Wohnungslosem täglich, zuletzt am 14. Juli 1998, Hilfe zum
Lebensunterhalt bewilligt worden. Hierbei gab er an, die letzte Nacht „draußen in
Bochum" verbracht zu haben.
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Am 17. Juli 1998 beantragte er beim Sozialamt der Klägerin, ihm Hilfe zum
Lebensunterhalt zu gewähren. Bei der Antragstellung gab er an, sich bis 14. Juli 1998 in
Bochum unter der Adresse L. Straße 439 aufgehalten zu haben und seit 15. Juni 1998
bei einem Freund in E. zu wohnen. Ab 1. August 1998 habe er eine Wohnung in E. .
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Das Sozialamt der Klägerin gewährte dem Hilfesuchenden daraufhin für den Zeitraum
vom 17: Juli 1998 bis 14. Juli 2000 Sozialhilfeleistungen in Höhe von insgesamt
21.220,27 DM.
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Mit Schreiben vom 13. August 1998 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die
Erstattung der Sozialhilfeaufwendungen. Die Beklagte lehnte eine Kostenerstattung ab,
weil der Hilfesuchende als Wohnungsloser ohne festen Wohnsitz Hilfe erhalten und
deshalb ein Umzug im Sinne des § 107 BSHG nicht stattgefunden habe.
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Die Klägerin hat am 19. Mai 2000 Klage erhoben. Sie macht geltend: Der Hilfesuchende
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sei im Sinne des § 107 Abs. 1 Satz 1 BSHG verzogen. Dieses Tatbestandsmerkmal
stehe in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Aufgabe des bisherigen und der
Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts am Zuzugsort. Ein Verziehen liege
auch dann vor, wenn beim Wohnungswechsel nur ein paar Habseligkeiten
mitgenommen würden; nicht vorausgesetzt sei, dass am Wegzugsort eine „Wohnung"
im Sinne einer durch freiwillige Aufenthaltsnahme begründeten und auf Dauer
angelegten, selbst gestalteten Häuslichkeit bestanden habe. Der Begriff bezeichne eine
Verlagerung des Mittelpunkts der Lebensbeziehungen und setzte neben der Aufgabe
des gewöhnlichen Aufenthaltsortes am bisherigen Aufenthaltsort die Begründung eines
neuen gewöhnlichen Aufenthalts am Zuzugsort voraus. Ein „Verziehen" hänge danach
nicht davon ab, dass der Betreffende vor dem Wegzug eine Unterkunft besessen habe,
aus der er den Ortswechsel vorgenommen habe.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
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die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 21.220,27 DM an Sozialhilfeaufwendungen
für Herrn N. im Zeitraum vom 17. Juli 1998 bis 14. Juli 2000 zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie ist der Auffassung, dass der Hilfesuchende nicht im Sinne des § 107 Abs. 1 BSHG
nach E. verzogen sei. Voraussetzung dafür sei, dass der Hilfesuchende die bisherige
Unterkunft und den gewöhnlichen Aufenthalt aufgebe und unter Mitnahme persönlicher
Habe einen Aufenthaltswechsel in der Absicht vornehme, an den bisherigen
Aufenthaltsort nicht mehr zurückzukehren und am Zuzugsort eine neue Unterkunft zu
beziehen. Ein Wohnungsloser habe in diesem Sinne jedoch keine Unterkunft. Herr N.
habe in Bochum zwar seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt, im Zeitpunkt des
Umzugs jedoch nicht über eine Unterkunft verfügt, da er bei verschiedenen Bekannten
übernachtet habe.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Klägerin und der
Beklagten Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Berichterstatter ohne mündliche
Verhandlung.
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Die zulässige Leistungsklage ist begründet.
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Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erstattung der für Herrn N. in der Zeit vom 17. Juli
1998 bis zum 14. Juli 2000 gewährten Sozialhilfeleistungen in Höhe von insgesamt
21.220,27 DM.
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Der Anspruch ergibt sich aus § 107 Abs. 1 Satz 1 BSHG in der Fassung des Art. 7 Nr.
26 des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogrammes vom 23.
Juni 1993 (BGBl 1, 944). Nach dieser Vorschrift ist der Träger der Sozialhilfe des
bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, dem nunmehr zuständigen örtlichen Träger der
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Sozialhilfe die dort erforderlich werdende Hilfe außerhalb von Einrichtungen im Sinne
des § 97 Abs. 2 Satz 1 zu erstatten, wenn die Person innerhalb eines Monats nach dem
Aufenthaltswechsel der Hilfe bedarf und die Person vom Ort des bisherigen
gewöhnlichen Aufenthalts verzieht.
Im vorliegenden Verfahren ist allein streitig, ob der Hilfesuchende von Bochum nach E.
im Sinne des § 107 Abs. 1 BSHG verzogen ist. Zutreffend und unstreitig ist
insbesondere, dass der Hilfesuchende bis zu seinem Wegzug aus Bochum dort seinen
gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dies hat die Beklagte selbst eingeräumt. Unstreitig ist
auch, dass der Hilfesuchende ab 15. Juli 1998 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in E.
begründet hat.
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Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG)
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Urteile vom 18. März 1999 - 5 C 11.98 -, DVBl. 1999, 1126 und vom 7. Oktober 1999 - 5
C 21.98 -, FEVS 51, 385,
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setzt der Begriff des Verziehens nicht voraus, dass am Wegzugsort (Ort des bisherigen
gewöhnlichen Aufenthalts) eine Wohnung im Sinne einer durch freiwillige
Aufenthaltsnahme begründeten und auf Dauer angelegten, selbst gestalteten
Häuslichkeit bestand. In den Entscheidungen heißt es: „Ein Umzug ist dann
anzunehmen, wenn der Umziehende die bisherige Unterkunft und den gewöhnlichen
Aufenthalt aufgibt und einen Aufenthaltswechsel in der Absicht vornimmt, an den
bisherigen Aufenthaltsort (vorerst) nicht mehr zurückzukehren. Der Begriff bezeichnet
eine Verlagerung des Mittelpunkts der Lebensbeziehungen und setzt neben der
Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts am bisherigen Aufenthaltsort die Begründung
eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts am Zuzugsort voraus." Der Begriff bezeichne die
Art und Weise des Ortswechsels.
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Entgegen der Auffassung der Beklagten ist hiernach für den Begriff des Verziehens im
Sinne des § 107 BSHG nicht erforderlich, dass der Hilfesuchende unmittelbar vor dem
Ortswechsel eine (feste) Unterkunft in Bochum als Mittelpunkt seiner
Lebensbeziehungen hatte. Maßgeblich ist für den Begriff des Verziehens allein die
Verlagerung des Mittelpunkts seiner Lebensbeziehungen und die Aufgabe des
gewöhnlichen Aufenthalts und Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts am
Zuzugsort. In diesem - die Verlagerung des Lebensmittelpunktes der
Lebensbeziehungen von einem gewöhnlichen Aufenthalt zu einem neuen
gewöhnlichen Aufenthalt in den Vordergrund rückenden - Sinn hat das
Bundesverwaltungsgericht den Begriff des Verziehens definiert. Wenn in den
Entscheidungsgründen im Hinblick auf die Frage, wann ein Umzug anzunehmen sei
unter anderem auf die Aufgabe der bisherigen Unterkunft und den gewöhnlichen
Aufenthalt durch den Umziehenden abgestellt wird, so ist der Begriff der bisherigen
Unterkunft ersichtlich im Zusammenhang mit dem Begriff des gewöhnlichen
Aufenthaltes zu verstehen, der maßgeblich durch die Art und Weise der
Aufenthaltsverhältnisse, etwa der Unterkunft, geprägt wird. Dementsprechend ist in den
Entscheidungsgründen zuvor ausgeführt worden, dass der Begriff des Verziehens nicht
voraussetze, dass am Wegzugsort eine „Wohnung im Sinne einer durch freiwillige
Aufenthaltnahme begründeten und auf Dauer angelegten, selbst gestalteten
Häuslichkeit bestanden habe. Entscheidend ist allein die Annahme, ob die Art und
Weise des Ortswechsels nach objektiven Maßstäben eine Verlagerung des Mittelpunkts
der Lebensbeziehungen mitgebracht haben. So ist anerkannt, dass es für ein
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„Verziehen" im Sinne des § 107 Abs. 1 BSHG unerheblich ist, ob der Umzug mit oder
ohne Mobiliar erfolgt ist.
Vgl. Thüringer Verwaltungsgericht, Urteil vom 1. Juli 1997 - 2 KO 38.96 -, NDV - RD
1998, 13; diese Entscheidung ist durch das zuvor genannte Urteil des BVerwG vom 18.
März 1999, a. a. O., bestätigt worden.
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Um welche Art von Unterkunft es sich am Wegzugsort handelte, ist hiernach für den
Begriff „Verziehen" unerheblich. Auch Wohnungslose, die über keine Wohnung i. S.
einer durch freiwillige Aufenthaltsnahme begründeten und auf Dauer angelegten,
selbstgestalteten Häuslichkeit verfügen, können nach der Rechtsprechung des BVerwG
(a.a.O.) verziehen, etwa aus Hotels, Obdachlosenunterkünften, Wohnungen eines
Dritten oder auch von primitiven Aufenthaltsorten.
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Fichtner, Kommentar zum BSHG, § 107 Rn. 6, 8 m.w.N.; Mergler/Zink, Kommentar zum
BSHG, § 107, Rn 8.1; Schellhorn/Jirasek/Seipp, Kommentar zum BSHG, 15. Aufl., § 107
Rn. 6.
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Der Begriff „Verziehen" bzw. „Unterkunft" - soweit er aus dem gesetzlich geregelten
Begriff des Verziehens ableitbar ist -, ist entsprechend dem Sinn und Zweck der
Kostenerstattungsregelung durch § 107 BSHG auszulegen. Es sollte eine wesentliche
Vereinfachung und Objektivierung der Kostenerstattungstatbestände zwischen Trägern
der Sozialhilfe bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts erreicht werden.
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Fichtner,a.a.O., Rn 1 Dies legt es nahe, allein auf die - objektiv nachvollziehbare -
Verlagerung des Lebensmittelpunkts abzustellen und nicht nach der Verfügbarkeit oder
Art der Unterkunft zu differenzieren. Eine solche Differenzierung mag für die
Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts bedeutsam sein, nicht hingegen für den
Begriff des Verziehens. Dieser stellt kein die Art und Weise des gewöhnlichen
Aufenthalts am Wegzugsort qualifizierendes Tatbestandsmerkmal dar.
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BVerwG, Urteil vom 18. März 1999, a.a.O.
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Es trüge nicht zur Vereinfachung der Kostenerstattungsregelung des § 107 BSHG bei,
wenn etwa in einer Vorgestaltung wie der vorliegenden, in der der Hilfesuchende
unstreitig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich des zuvor für die Leistung von
Sozialhilfeleistungen zuständigen Trägers bis zu seinem Aufenthaltswechsel hatte, zu
prüfen, ob eine Unterkunft oder welche - etwa wie hier wegen der Suche nach einer
neuen - auch noch kurz vor dem Aufenthaltswechsel vorhanden war. Liegt - wie im
vorliegenden Fall - ein Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltes vor, so gehen die
Einwände der Beklagten, die Regelung des § 107 Abs. 1 BSHG stelle anders als § 97
Abs. 1 BSHG nicht auf den Wechsel des tatsächlichen Aufenthaltsortes ab, ins Leere.
Weiterhin ist im übrigen auch nach dem eigenen Vorbringen der Beklagten nicht davon
auszugehen, dass der Hilfesuchende nach der Aufgabe seiner Unterkunft in der
Kemnader Straße über keinerlei Unterkunft mehr verfügt hat. Auch nach dem Vorbringen
der Beklagten hatte der Hilfesuchende offenbar noch vor dem Aufenthaltswechsel
Unterkunft bei Bekannten gefunden, was nach den obigen Ausführungen in jedem Fall
für ein „Verziehen" ausreichend ist, so dass die Klage auch hiernach begründet ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
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