Urteil des VG Freiburg vom 30.08.2007

VG Freiburg (antragsteller, adhs, legasthenie, prüfung, leistungsfähigkeit, antrag, klausur, hyperaktivitätsstörung, aug, behinderung)

VG Freiburg Beschluß vom 30.8.2007, 2 K 1667/07
keine Nachteilsausgleich durch Verlängerung der Bearbeitungszeit der Klausur im Juristischen
Staatsexamen bei ADHS/ADS
Leitsätze
Eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS/ADS) im Erwachsenenalter erschwert nicht nur die
rein mechanische Lese- und Schreibtätigkeit als technischem Vorgang, sondern beeinträchtigt die gedankliche
Erarbeitung der Klausurlösung selbst. Es handelt sich um ein Dauerleiden, das als persönlichkeitsbedingte
Eigenschaft die Leistungsfähigkeit des Prüflings dauerhaft prägt und nicht durch den Einsatz von Hilfsmitteln
ausgeglichen werden kann. ADHS/ADS rechtfertigt daher im Juristischen Staatsexamen keine Verlängerung der
Bearbeitungszeit im Wege des Nachteilsausgleichs
Tenor
Der Antrag des Antragstellers wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag, mit dem der Antragsteller unter Berufung auf eine bei ihm diagnostizierte Aufmerksamkeitsdefizit-
/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) die Verpflichtung des Antragsgegners begehrt, ihm für den am 4. September
2007 beginnenden schriftlichen Teil des Ersten juristischen Staatsexamens eine Schreibzeitverlängerung um
eine Stunde je Klausur zu gewähren, hat keinen Erfolg.
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Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung
eines vorläufigen Zustandes treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §
920 Abs. 2 ZPO), dass einerseits ein Anspruch glaubhaft gemacht wird, dessen vorläufiger Sicherung die
begehrte Anordnung dienen soll (Anordnungsanspruch), und dass andererseits die Gründe glaubhaft gemacht
werden, die eine gerichtliche Eilentscheidung erforderlich machen (Anordnungsgrund).
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Gemessen an diesen Anforderungen ist der vorliegende Antrag unbegründet.
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Zwar hat der Antragsteller einen Anordnungsgrund infolge Eilbedürftigkeit glaubhaft gemacht. Ohne eine
vorläufige Regelung wäre er praktisch rechtlos gestellt, da der schriftliche Teil der Ersten juristischen
Staatsprüfung, zu der der Antragsteller im Rahmen eines Notenverbesserungsversuch zugelassen worden ist,
bereits am 4. September 2007 beginnt.
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Der Antragsteller hat jedoch nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass er gemäß § 12 Abs. 1 S. 2 JAPrO 1993
einen Anspruch darauf hat, dass das Landesjustizprüfungsamt für ihn die Bearbeitungszeit der Klausuren
angemessen verlängert. Der insbesondere für eine - wie vorliegend gegebene - Hauptsachevorwegnahme
erforderliche hohe Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg im Klageverfahren ist zu verneinen. Vielmehr
erscheint die Entscheidung des Antragsgegners, dem Antragsteller die beantragte Schreibzeitverlängerung
nicht zu gewähren, rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten.
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Der Antragsteller erfüllt nicht die Voraussetzungen für die Gewährung einer Schreibzeitverlängerung. Gemäß §
12 Abs. 1 der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (i.d.F. v. 7.5.1993 - JAPrO 1993 -) , der
vorliegend gemäß § 62 Abs. 1 JAPrO 2002 Anwendung findet, kann das Landesjustizprüfungsamt bei
Behinderungen, die die Schreibfähigkeit beeinträchtigen, auf schriftlichen Antrag (u.a.) die Bearbeitungszeit
angemessen verlängern. Die Beeinträchtigung ist darzulegen und durch amtsärztliches Zeugnis, das die für die
Beurteilung nötigen medizinischen Befundtatsachen enthält, nachzuweisen.
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Der Antragsteller macht insoweit geltend, dass er unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
(ADHS/ADS) im Erwachsenenalter leide, die dazu führe, dass er äußerst leicht ablenkbar und nur sehr
eingeschränkt konzentrationsfähig sei. Er müsse lange Sachverhalte überdurchschnittlich oft durchlesen. Das
häufige unwillkürliche Abschweifen seiner Gedanken hindere ihn an einer zügigen, aufmerksamen Bearbeitung
der Klausur. Das Erfassen des Sachverhalts und das Gliedern der Lösung nähmen überdurchschnittlich viel
Zeit in Anspruch. Durch die hohe Ablenkbarkeit und Reizoffenheit führe jede noch so kleine Störung während
der Prüfung zu einer Unterbrechung der Klausurbearbeitung. Frau Dr. ..., Gesundheitsamt des Landratsamts ...,
führt in ihrem amtsärztlichen Zeugnis vom 6. August 2007 aus, an der Diagnose eines ADHS im
Erwachsenenalter bestehe kein Zweifel. Infolge des Aufmerksamkeitsdefizits sei davon auszugehen, dass der
Antragsteller sowohl behindert sei bei der Aufnahme der Prüfungsaufgabe als auch bei der Denkarbeit der
ersten Phase wie auch in der zweiten Phase der Niederschrift. Die erforderliche Schreibzeitverlängerung werde
auf eine Stunde eingeschätzt, weil nicht nur die Niederschrift, sondern die ganze Aufgabenbearbeitung durch
die Störung beeinträchtigt sei.
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Damit hat der Antragsteller jedoch eine die Schreibfähigkeit beeinträchtigende Behinderung im Sinne des § 12
Abs. 1 S. 2 JAPrO 1993 nicht glaubhaft gemacht. Denn § 12 Abs. 1 S. 2 JAPrO 1993 erfasst neben aktuellen,
vorübergehenden Beeinträchtigungen der rein mechanischen Darstellungsfähigkeit - wie einem gebrochenen
Arm - nur solche dauerhaften Behinderungen, die lediglich den Nachweis einer uneingeschränkt vorhandenen
Befähigung erschweren und die in dem mit der Prüfung angestrebten Beruf oder der (weiteren)
Berufsausbildung durch Hilfsmittel ausgeglichen werden können. Dauerleiden, die als persönlichkeitsbedingte
Eigenschaften die Leistungsfähigkeit des Prüflings dauerhaft prägen, rechtfertigen dagegen keine
Arbeitszeitverlängerung im Wege des Nachteilsausgleichs (vgl. zur Unterscheidung Niehues, Schul- und
Prüfungsrecht Band 2, Rn. 120 ff.; BVerwG, Beschl. v. 13.12.1985 - 7 B 210/85 -, in Juris; Urt. v. 30.8.1977 - 7
C 50.76 -, in Juris; Hess. VGH, Beschl. v. 3.1.2006 - 8 TG 3292/05 -, in Juris; OVG Schleswig, Beschl. v.
19.8.2002 - 3 M 41/02 -, SPE n.F. 600 Nr. 18).
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Um ein solches Dauerleiden aber handelt es sich bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung des
Antragstellers. Denn infolge der dauerhaften Reizüberflutung und seiner mangelnden Fähigkeit zur Filterung von
Informationen hat der Antragsteller, wie er ausführt, Schwierigkeiten bei der vollständigen Erfassung der
Aufgabenstellung, bei der Entwicklung und Gliederung seiner Klausurlösung und bei der Fokussierung seiner
Aufmerksamkeit auf die Klausur; diese vom Antragsteller geschilderte Symptomatik deckt sich mit den in den
Klassifikationen ICD-10 und DSM-IV genannten Symptomen für die Diagnostik einer AD(H)S. Erschwert ist
dem Antragsteller folglich nicht nur die schriftliche Fixierung einer im Kopf erarbeiteten Falllösung; vielmehr ist
er infolge seiner deutlich geringeren Konzentrationsfähigkeit, seiner erhöhten Ablenkbarkeit und den
Schwierigkeiten bei der Informationsverarbeitung gerade auch bei der gedanklichen Erarbeitung der
Klausurlösung selbst beeinträchtigt. Dies ergibt sich auch aus dem amtsärztlichen Gutachten von Frau Dr. ...,
in dem diese ausführt, dass der Antragsteller „auch bei der Denkarbeit der ersten Phase“ behindert sei; „nicht
nur die Niederschrift, sondern die ganze Aufgabenbearbeitung“ sei „durch die Störung beeinträchtigt“.
10 Gerade die Fähigkeit, einen Sachverhalt aufzunehmen und zu verstehen sowie den Fall in angemessener Zeit
einer plausibel begründeten Lösung zuzuführen, aber stellt die eigentliche juristische Leistung dar, die im
Rahmen des schriftlichen juristischen Staatsexamens bewertet werden soll (Hess. VGH, Beschl. v. 3.1.2006 -
8 TG 3292/05 -, in Juris). Der Antragsteller kann in diesem Zusammenhang auch nicht damit gehört werden, er
sei durchaus in der Lage, den Sachverhalt zu durchdringen und zu lösen, brauche hierfür jedoch
krankheitsbedingt mehr Zeit. Denn gerade bei juristischen Prüfungen soll auch die - für die spätere berufliche
Praxis wichtige - Fähigkeit des Prüflings, unter Zeitdruck einen gegebenen juristischen Fall zu bearbeiten,
bewertet werden; dass dem zeitlichen Moment im Rahmen von Prüfungen große Bedeutung zukommt, wird im
Übrigen nicht zuletzt daraus deutlich, dass die Aussage, bei längerer Bearbeitungszeit bessere Ergebnisse zu
erzielen, auf praktisch jeden Prüfling zutreffen dürfte.
11 Die ADHS stellt sich nach alldem als eine persönlichkeitsbedingte generelle Einschränkung der
Leistungsfähigkeit des Antragstellers dar, die in den Examensklausuren angelegten juristischen
Fragestellungen in der vorgegebenen Zeit zu durchdringen und überzeugenden Lösungen zuzuführen. Eine
derartige Leistungsminderung bestimmt sein „normales“ Leistungsbild mit der Konsequenz, dass, soweit sich
die durch die ADHS bedingten Leistungsschwächen im Prüfungsergebnis niederschlagen, dessen Aussagewert
gerade nicht verfälscht wird.
12 Insoweit trägt auch der vom Antragsteller herangezogene Vergleich der ADHS mit Legasthenie, bei deren
Vorliegen mehrere Obergerichte in der Tat einen Anspruch des Prüflings auf Kompensation durch
Schreibzeitverlängerung festgestellt haben (Hess. VGH, Beschl. v. 3.1.2006 - 8 TG 3292/05 -, in Juris; OVG
Schleswig, Beschl. v. 19.8.2002 - 3 M 41/02 -, SPE n.F. 600 Nr. 18; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Beschl. v.
19.9.2000 - 9 S 1607/00 -, in Juris), nicht. Denn bei der Legasthenie handelt es sich wenn auch nicht um eine
typische mechanische Beeinträchtigung des Schreibvorgangs, so doch um eine Beeinträchtigung, die sich in
langsamerer Lesegeschwindigkeit sowie einer erschwerten handschriftlichen Darlegung des gefundenen
Ergebnisses und somit in einer mangelnden technischen Fähigkeit zur Darstellung des eigenen Wissens
erschöpft (vgl. Hess. VGH, aaO.; VGH Bad.-Württ., aaO.; OVG Schleswig, aaO.). Da im Rahmen juristischer
Examina - anders als etwa bei der Ausbildung zur Sekretärin - die rein technische Lese- und Schreibtätigkeit
außerhalb der durch die Prüfung zu ermittelnden juristischen Leistungsfähigkeit, einen Sachverhalt
aufzunehmen und in gegebener Zeit einer plausiblen Lösung zuzuführen, liegt und letztere durch die
Legasthenie nicht beeinträchtigt wird, mag es in der Tat naheliegen, die aus der Legasthenie resultierenden
Schwierigkeiten bei der technischen Umsetzung der Leistungsfähigkeit im juristischen Staatsexamen durch
Schreibzeitverlängerung zu kompensieren (so Hess. VGH, aaO.). Die ADHS dagegen erschöpft sich, wie
gesehen, aber gerade nicht in einer Beeinträchtigung der Lese- und Schreibtätigkeit als technischem Vorgang.
13 Dieser strukturelle Unterschied in der Einordnung von Legasthenie und ADHS wird auch deutlich bei der - vor
Berücksichtigung der Behinderung im Rahmen der Prüfung anzustellenden (vgl. Niehues, aaO., Rn. 122,
m.w.N.; OVG Schleswig, Beschl. v. 2.10.2003 - 9 B 85/02 -, in Juris) - Kontrollüberlegung, inwieweit eine
Kompensationsmöglichkeit der Behinderung im späteren Berufleben besteht. Während die aus der Legasthenie
resultierenden Behinderungen nämlich überwiegend durch den Einsatz von Hilfsmitteln - etwa von
Leseprogrammen bzw. Spracherkennungs- und Diktierprogrammen am PC oder von Diktiergeräten -
ausgeglichen werden können, lassen sich die zentralen Schwierigkeiten, die der Antragsteller infolge seiner
Erkrankung gerade unter zeitlichem Druck bei der Ordnung und Fokussierung seiner Gedanken, der Filterung
von Informationen und der Konzentration auf die relevante - juristische - Fragestellung hat, durch Hilfsmittel
nicht kompensieren. Vielmehr wird sein ADHS-Leiden sich im späteren beruflichen Alltag nicht wesentlich
anders als im Rahmen des Staatexamens niederschlagen.
14 Nichts anderes ergibt sich schließlich aus dem Verweis des Antragstellers auf die Nachfolgervorschrift des §
12 Abs. 1 S. 2 JAPrO 1993, nämlich § 13 Abs. 7 S. 1 JAPrO 2002. Die Kammer sieht bereits nicht, inwieweit
der geänderte Wortlaut - „prüfungsunabhängige Beeinträchtigungen eines Kandidaten, die die Anfertigung der
Aufsichtsarbeiten erschweren“ anstatt „Behinderungen, die die Schreibfähigkeit beeinträchtigen“ - zu einer
substantiellen Änderung im Hinblick auf den Umfang der zu kompensierenden Behinderungen führen sollte.
Vielmehr hatte der VGH Baden-Württemberg bereits auf der Grundlage von § 12 Abs. 1 JAPrO 1993
entschieden, dass nicht nur rein mechanische Beeinträchtigungen zu kompensieren sind, sondern auch solche,
die, wie etwa Legasthenie, die technische Fähigkeit zur Darstellung des eigenen Wissens beeinträchtigen
(VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 19.9.2000 - 9 S 1607/00 -, in Juris), so dass Überwiegendes dafür spricht, der
Gesetzgeber habe die bereits geltende Rechtlage lediglich klarer formulieren wollen. Abgesehen davon ergäbe
sich auch für den Fall, dass die Neuregelung eine gewisse Ausweitung der zu kompensierenden
Beeinträchtigungen mit sich bringen sollte, eine Ungleichbehandlung des Antragstellers gegenüber den in
derselben Prüfungskampagne nach neuem Recht teilnehmenden Prüflingen - ungeachtet der Frage, ob sich der
Antragsteller insoweit überhaupt auf eine Ungleichbehandlung berufen könnte - schon deshalb nicht, weil eine
Kompensierung seiner ADHS durch Schreibzeitverlängerung auch nach neuer Rechtslage nicht möglich wäre.
Denn gemäß § 13 Abs. 7 S. 1 2. HS JAPrO 2002 darf auf den Nachweis von Fähigkeiten, die zum
Leistungsbild der abgenommenen Prüfung gehören, nicht verzichtet werden; hieraus wird deutlich, dass
jedenfalls Beeinträchtigungen, die - wie die ADHS - die zeitgerechte intellektuelle Bewältigung des
Prüfungsstoffs erschweren, nach wie vor nicht auszugleichen sind.
15 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 3 Nr. 1, § 52
Abs. 2 GKG. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass mit dem Verfahren das Hauptsacheverfahren
weitgehend vorweggenommen wird, erscheint der volle Auffangstreitwert i.H.v. 5.000 EUR angemessen.