Urteil des VG Freiburg vom 01.12.2009

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VG Freiburg Urteil vom 1.12.2009, A 6 K 2367/08
Zum Widerruf einer Asylanerkennung trotz gerichtlichem Vergleich
Leitsätze
Beruhen die Asylanerkennung oder die Feststellungen der §§ 51, 53 AuslG auf einem gerichtlichen Vergleich, so
ist gleichwohl grundsätzlich ein Widerruf nach § 73 AsylVfG zulässig.
Ein Widerruf kann jedoch daran scheitern, dass - bezogen auf den Ausländer - keine hinreichend konkreten
Feststellungen vorhanden sind, die eine Beurteilung ermöglichen, ob die Änderung einer Sachlage erheblich im
Sinne des §§ 73 AsylVfG ist.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. November 2008 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf der Feststellung eines Widerrufshindernisses.
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Der am 7. Juli 1977 in Mardin/Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer
Volkszugehörigkeit. Er reiste Anfang Dezember 1996 zusammen mit Frau und einem Kind in die
Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter.
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Mit Bescheid vom 14. Oktober 1997 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge,
später umbenannt in Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, - Bundesamt - den Antrag ab.
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Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger zusammen mit seiner Ehefrau und zwei Kindern Klage. Unter dem
12. November 2001 erließ das Verwaltungsgericht Freiburg einen Vergleichsbeschluss (A 1 K 11800/97),
demzufolge das Bundesamt bezüglich des Klägers feststellen sollte, dass die Voraussetzungen des § 53
AuslG vorliegen. Zur Begründung führte das Gericht aus, das Asylverfahren des Klägers gelte nach § 33 Abs.
2 AsylVfG als zurückgenommen. Dieser sei aber nicht gehindert, seine Gefährdungen nunmehr in einem
Asylfolgeverfahren vorzubringen, in dessen Rahmen ihm Abschiebeschutz nach § 53 AuslG gewährt werden
müsste. Aufgrund einer Telefonüberwachung stehe fest, dass der Kläger jedenfalls in die in der Bundesrepublik
Deutschland illegal tätige PKK eingebunden und im Zusammenhang mit der Veruntreuung eines Teils ihrer
Gelder im Sommer 2001 illegal in die Türkei gereist sei. Es sei davon auszugehen, dass ihm im Falle einer
offiziellen Rückkehr dorthin jedenfalls aufgrund seiner Verstrickung in die Organisation der PKK mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Folter drohe; allerdings könne er diese Verstrickung und die
hieraus resultierende Gefahr nicht im Rahmen des anhängigen Asylerstverfahrens geltend machen. Die -
präkludierte - Betätigung für diese Vereinigung begründe die Verfolgungsgefahr in der Türkei. Der
Vergleichsvorschlag erspare ein zeitraubendes, erneutes Asylfolgeverfahren.- Die Beteiligten nahmen den
Vergleichsvorschlag an.
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Mit Bescheid vom 23. Januar 2002 stellte das Bundesamt dementsprechend fest, dass beim Kläger
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG hinsichtlich der Türkei vorliegen.
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Aufgrund einer Anfrage des Landratsamts Emmendingen leitete das Bundesamt unter dem 28.04.2008 ein
Widerrufsverfahren ein und gab dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Kläger äußerte sich mit
Schriftsatz vom 4. Juni 2008.
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Mit Bescheid vom 10. November 2008 widerrief das Bundesamt die Feststellung, dass ein
Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG vorliegt und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2
bis 7 AufenthaltsG nicht vorliegen. Zur Begründung führte die Behörde aus, seit der Ausreise des Ausländers
hätten sich Rechtslage und Menschenrechtssituation in der Türkei deutlich zum Positiven verändert.
Strafverfolgungsmaßnahmen und in deren Zusammenhang Misshandlungen könnten nach alledem mit
hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Unabhängig davon lägen keine konkreten Anhaltspunkte für
tatsächlich eingeleitete strafrechtliche Ermittlungen gegen den Ausländer vor.
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Am 19.11.2008 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung führt er aus, die Beklagte sei nach wie vor an
den geschlossenen Vergleich gebunden. Außerdem fehle es an der unabdingbaren Voraussetzung für einen
Widerruf, dass die Voraussetzungen für die ursprüngliche Entscheidung nicht mehr vorlägen. Die
Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Abschiebungshindernisses lägen weiter vor.
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Der Kläger beantragt,
10
den Widerrufsbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. November 2008
aufzuheben;
11
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs.1, hilfsweise Abs.2 bis 7 AufenthG
vorliegen.
12 Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
14 Mit Beschluss vom 28. Oktober 2009 hat das Verwaltungsgericht den Rechtsstreit dem Berichterstatter zur
Entscheidung übertragen.
15 Dem Gericht liegen die einschlägigen Akten der Beklagten (3 Hefte) vor. Diese Akten wurden ebenso wie die
Erkenntnismittel, die in der den Beteiligten bekannten Liste aufgeführt sind, zum Gegenstand der Entscheidung
gemacht. Hierauf und auf die Gerichtsakten dieses Verfahrens wie auch des Verfahrens A 1 K 11800/97 wird
wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
16 Das Gericht konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte in der mündlichen
Verhandlung nicht vertreten war, denn auf diese Möglichkeit ist in der ordnungsgemäßen Terminsladung
hingewiesen worden (§ 102 Abs.2 VwGO).
17 Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10.
November 2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs.1 VwGO).
18 Nach § 73 Abs. 3 AsylVfG ist die Entscheidung, dass ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 1, 2, 4 oder 6
AuslG vorliegt, zurückzunehmen, wenn sie fehlerhaft ist, und zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht
mehr vorliegen. Beruht die Feststellung eines solchen Abschiebungshindernisses durch das Bundesamt auf
einem rechtskräftigen verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsurteil, hindert die Rechtskraft dieser
Entscheidung bei unveränderter Sachlage die Aufhebung der Feststellung durch das Bundesamt. Die
Rechtskraftwirkung eines Urteils endet allerdings, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder
Rechtslage nachträglich verändert - sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft -. Es liegt auf der Hand, dass nicht
jegliche nachträgliche Änderung der Verhältnisse die Rechtskraftwirkung eines Urteils entfallen lässt. Eine
Lösung der Bindung an ein rechtskräftiges Urteil kann daher nur eintreten, wenn die nachträgliche Änderung der
- hier allein infrage stehenden - Sachlage entscheidungserheblich ist. Dies ist jedenfalls im Asylrecht nur dann
der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung
erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen
unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute
Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist. Der Zeitablauf allein stellt allerdings
grundsätzlich keine erhebliche Änderung der Sachlage dar. Die Rechtskraftwirkung ist zeitlich nicht begrenzt
(vgl. hierzu BVerwG, Urt. vom 18.9.2001 - 1 C 7/01 -, m.w.N.).
19 Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 3 AsylVfG sind im vorliegenden Fall nicht gegeben.
20 Dem Widerruf steht allerdings nicht der zwischen den Beteiligten geschlossene Vergleich vom
29.10.2001/12.11.2001 entgegen. Nach Auffassung des Gerichts ist ein weiteres Festhalten an dem Vergleich
dann nicht mehr veranlasst, wenn nach dem für diesen Vergleich maßgeblichen Zeitpunkt eine neue Sachlage
eingetreten ist, die sich so wesentlich von der den früher maßgeblichen Umständen unterscheidet, dass auch
unter Berücksichtigung des Vergleichs eine erneute Sachentscheidung gerechtfertigt ist. Insoweit kann auf die
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Durchbrechung der Rechtskraft eines asylrechtlichen
Urteils zurückgegriffen werden (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 18.9.2001, a.a.O.). Diese Grundsätze lassen
sich auf den vorliegenden Vergleich entsprechend anwenden. Wenn eine erheblich veränderte Sachlage den
Widerruf selbst bei Vorliegen eines rechtskräftigen Urteils ermöglicht, so kann im Hinblick auf eine aufgrund
eines Vergleichs erfolgte Feststellungsentscheidung nichts anderes gelten (vgl. VG Augsburg, Urt. v.
20.03.2009 - AU 4 K 08.30110 -). Bei einer wesentlichen Änderung der Sach- und Rechtslage sind im Übrigen
regelmäßig auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG gegeben. Dies gilt jedenfalls dann, wenn
dem Vergleich nichts anderes zu entnehmen ist.
21 Gegenstand des Vergleichs war allein die Frage, ob - und zwar zum Zeitpunkt des Vergleichsschlusses - die
Voraussetzungen des Art.16 a Abs.1 GG und der §§ 51 Abs.1, 53 AuslG vorlagen. Mit dem Vergleich einigten
sich die Beteiligten allein darüber, dass zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen des § 53 AuslG als gegeben
angesehen wurden, weshalb die Beklagte sich zum Erlass eines entsprechenden Feststellungsbescheids
verpflichtete. Nichts spricht für die Annahme, dass die Beklagte auch bei einer Änderung der Sach- und
Rechtslage gehindert sein sollte, ihren Bescheid unter den Voraussetzungen des § 73 AsylVfG zu widerrufen.
22 Jedoch sind vorliegend die Voraussetzungen des § 73 Abs.3 AsylVfG nicht gegeben.
23 Einen den Widerruf rechtfertigenden Sachverhalt hat die Beklagte weder dargetan noch ist ein solcher
ersichtlich. Die Beklagte hat in dem angegriffenen Widerrufsbescheid zwar umfänglich ausgeführt, die
Sachlage habe sich grundlegend geändert, eine tragfähige Begründung einer solchen Sachverhaltsänderung
bezogen auf den Fall des Klägers enthält der Bescheid jedoch nicht. Ob die Änderung der Verhältnisse in der
Türkei, deren Umfang vorliegend dahingestellt bleiben kann, bezogen auf den Kläger wesentlich ist, lässt sich
auch nicht aus sonstigen Umständen ableiten. Der gerichtliche Vergleich, der Grundlage der
Feststellungsentscheidung der Beklagten ist, führt zur Begründung lediglich aus, der Kläger sei in die in der
Bundesrepublik Deutschland illegal tätige PKK eingebunden; aufgrund seiner Verstrickung in die Organisation
der PKK drohe ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle einer Rückkehr in die Türkei ein Verhör unter
Folter. Was im Einzelnen unter „Verstrickung“ in die Organisation der PKK zu verstehen ist, lässt sich dem
Vergleich nicht entnehmen. Die Beklagte hat auch nicht im Zuge des Widerrufsverfahrens aufgeklärt, in
welcher Form der Kläger in die PKK „verstrickt“ war. Ohne Feststellung von Art, Ausmaß und zeitlicher Dauer
der „Verstrickung“ in die PKK kann indes nicht beurteilt werden, ob die Voraussetzungen des § 53 AuslG nicht
mehr vorliegen. Die Bedeutung von Änderungen für den heutigen Status ist jedoch durch einen Abgleich mit
den Gründen festzustellen, die seinerzeit zur Asylanerkennung bzw. der Feststellung der Voraussetzungen der
§§ 51, 53 AuslG führten (VG Berlin, Urt. v. 25.01.2008 - VG 36 X 5.06 -). Allein die bloße Änderung der
allgemeinen politischen Verhältnisse im Heimatland des Asylbewerbers ohne konkreten Bezug auf diesen stellt
keine wesentliche Sachverhalts-änderung dar.
24 Abgesehen davon lässt sich der auf dem gerichtlichen Vergleich beruhenden Feststellung, dass die
Voraussetzungen des § 53 AuslG gegeben sind, auch nicht entnehmen, welche der tatbestandlichen
Voraussetzungen des 6 Absätze umfassenden § 53 AuslG für gegeben erachtet wurden.
25 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO.