Urteil des VG Frankfurt (Main) vom 13.07.2004

VG Frankfurt: afghanistan, politische verfolgung, abschiebung, ausländer, anerkennung, ausreise, gefahr, religionsgemeinschaft, unhcr, bundesamt

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Gericht:
VG Frankfurt 5.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 E 6407/03.A
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 53 AuslG 1990
Leitsatz
Einer Mutter mit zwei Kindern, die der Religionsgemeinschaft der Hindus angehören, ist
derzeit eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zuzumuten.
Tatbestand
Die 32jährige Klägerin 1. ist afghanische Staatsangehörige und Hindu. Sie ist die
Mutter der 11jährigen Klägerin 2. und der 6jährigen Klägerin zu 2. Sie reisten am
11. 07. 2001 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten am
19.07.2001 die Anerkennung als Asylberechtigte. Bei ihrer Anhörung durch das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Schwalbach gab die
Klägerin 1. an, sie seien über Karachi mithilfe eines Fluchthelfers auf dem Luftweg
eingereist. Nachweisen könne sie den Flug nicht. Sie sei in Karachi von ihrem
Ehemann getrennt worden. Ihre Mutter und Geschwister lebten hier. Sie sei Hindu,
weshalb das Leben in Afghanistan sehr schwierig gewesen sei. Die Taleban hätten
sie unterdrückt. Ihr Mann sei auf der Straße schikaniert, beschimpft und auch
geschlagen worden. Er sei immer wieder aufgefordert worden, zum Islam
überzutreten. Sie hätten gelbe Kleidung tragen und die Häuser mit gelben Fahnen
schmücken müssen. Ihr Ehemann habe immer im Tempel gelebt und dort
gearbeitet. Er sei aber regelmäßig gehindert worden, den Tempel aufzusuchen.
Ihre älteste Tochter leide besonders unter der Fluchtsituation. Sie selbst habe sich
auf der Straße verschleiern müssen und habe das Zentrum nur aufgesucht, wenn
wenig Betrieb auf der Straße gewesen sei. Bei einer Rückkehr hätten sie Probleme,
weil sie Hindus seien. Ihr selbst sei nie etwas passiert. Aber man wolle Hindus
loswerden. In Kandahar hätten nicht viele Hindu-Familien gelebt. Man habe ja
untereinander keinen Kontakt gehalten. Das sei auch schwierig gewesen.
Mit Bescheid vom 16. 10. 2003 wurde der Asylantrag abgelehnt, festgestellt, dass
weder die Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 AuslG noch Abschiebehindernisse
nach § 53 vorlägen, und die Klägerinnen zur Ausreise aufgefordert. Außerdem
wurde ihnen die Abschiebung angedroht, wenn sie nicht freiwillig ausreisen würden.
Asylrecht nach Art. 16 a Abs. 1 GG könnten sie schon deshalb nicht beanspruchen,
weil zu vermuten sei, dass sie über ein sicheres Drittland i. S. d. Art. 16 a Abs. 2
Satz 1 GG i. V. m. § 26 a Abs. 2 AsylVfG eingereist seien. Zur weiteren
Begründung ist ausgeführt, die politische Lage habe sich seit der Ausreise
entscheidend verändert. Zwar seien weite Regionen Afghanistans nicht sicher. Sie
könnten sich aber im Sinne einer inländischen Fluchtalternative in Kabul
niederlassen. Auch die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Hindus
hindere eine Rückkehr nicht. Sie seien keinen besonderen Schwierigkeiten
ausgesetzt. Auch Abschiebehindernisse i.S.d. § 53 AuslG lägen nicht vor. Es gebe
keine Gründe anzunehmen, dass die Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul
derart schlecht sei, dass die Antragstellerinnen bei einer Rückkehr dorthin
gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzung
ausgeliefert würden. Die Sicherheitslage in Kabul sei zwar fragil, aber
vergleichsweise zufrieden stellend. Ähnliches gelte für die Versorgungslage.
Mithilfe der Zuwendungen internationaler Organisationen sei ein Überleben in
Kabul möglich.
Am 30. 10. 2003 haben die Klägerinnen Klage erhoben. Zur Begründung beziehen
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Am 30. 10. 2003 haben die Klägerinnen Klage erhoben. Zur Begründung beziehen
sie sich darauf, dass sie in Afghanistan über keine verwandtschaftlichen
Verhältnisse verfügten. Sie hätten auch keine Ausbildung, die ihnen ermöglichen
würde, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu sichern. Darüber hinaus leide
die Klägerin 2. an einem globalen Entwicklungsrückstand und einem cerebralen
Anfallsleiden. Das könne in Afghanistan nicht behandelt werden.
In der mündlichen Verhandlung am 29. 06. 2004 haben die Klägerinnen die Klagen
zu Ziff. 1. bis 3. aus dem Klageschriftsatz zurückgenommen.
Sie beantragen nunmehr,
für sie Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Abs. 6 AuslG hinsichtlich
Afghanistans festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt
der Gerichtsakte, den der beigezogenen Akten des Bundesamtes für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sowie der Ausländerbehörde des Landrates
des Hochtaunuskreises und die in der Erkenntnisliste zu Afghanistan aufgeführten
Auskünfte und Berichte. Sämtliche Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen. Die Klägerin 1. ist in der mündlichen Verhandlung am 29.
06. 2004 informatorisch gehört worden. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird
auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Soweit die Klägerinnen die Klage zurückgenommen haben, ist das Verfahren mit
der gesetzlichen Kostenfolge einzustellen, §§ 92 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO.
Mit dem nunmehr noch anhängigen Begehren ist die Klage begründet. Insoweit ist
der angegriffene Bescheid rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren
Rechten (§ 113 VwGO). Die Klägerinnen gerieten nämlich im Falle ihrer Rückkehr
nach Afghanistan in eine ausweglose und ihr Leib und Leben bedrohende
Situation.
Die Voraussetzungen für einen Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG
sind gegeben. Danach kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen
anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche
konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (Satz 1). Gefahren in diesem
Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer
angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen nach § 54 AuslG
berücksichtigt (Satz 2). Nach § 54 AuslG kann die oberste Landesbehörde aus
völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer
Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von
Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten
Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für eine Dauer von
längstens 6 Monaten ausgesetzt wird (Satz 1); für längere Aussetzungen bedarf es
des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern (Satz 2). Beruft sich
der einzelne Ausländer auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 53 Abs. 2 S. 2
AuslG, kann er Abschiebungsschutz regelmäßig nur im Rahmen eines generellen
Abschiebestopps nach § 54 AuslG erhalten. Nach der ständigen Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts, der das Gericht folgt, dürfen das Bundesamt für
die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und die Verwaltungsgerichte sich über
die in diesen Regelungen zum Ausdruck kommende gesetzgeberische
Kompetenzentscheidung grundsätzlich nicht hinwegsetzen. Sie haben diese
Entscheidung des Bundesgesetzgebers wegen ihrer Bindung an Gesetz und Recht
(Art. 20 Abs. 3 GG) vielmehr zu respektieren (vgl. BVerwG, U. v. 08. 12. 1998,
BVerwGE 108, S. 77; dem folgend VGH Kassel, B. v. 26.02.2003 - 7 UE 847/01.A -).
Im Einzelfall dürfen sie daher Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe
angehören, für die ein Abschiebestopp nach § 54 AuslG nicht besteht, nur dann
ausnahmsweise Schutz vor einer Abschiebung in verfassungskonformer
Anwendung von § 53 Abs. 6 AuslG zusprechen, wenn keine anderen
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG gegeben sind, eine Abschiebung aber
Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist aber nur dann der Fall, wenn der
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Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist aber nur dann der Fall, wenn der
Ausländer im Zielstaat der Abschiebung dorthin "gleichsam sehenden Auges dem
sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde" (vgl. BVerwG,
Urt. v. 17. 10. 1995, BVerwGE 99, S. 324 ff.; U. v. 12. 07. 2001, BVerwGE 114, S.
379 ff.). Dabei ist nicht erforderlich, dass die genannten Folgen sofort,
gewissermaßen noch am Tag der Ankunft im Abschiebezielstaat, eintreten. Die
Gefahr besteht auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher
Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde
(BVerwG, B. v. 26. 01. 1999, NVwZ 1999, S. 668). Darüber hinaus muss die
extreme Gefahrenlage landesweit bestehen oder ein Ausweichen nicht möglich
sein. Individuelle Gefährdungen des Ausländers, die sich aus einer allgemeinen
Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG ergeben, können auch dann nicht
als Abschiebungshindernis unmittelbar nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG
berücksichtigt werden, wenn sie auch durch Umstände in der Person oder den
Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt werden, aber
gleichwohl insgesamt nur typische Auswirkungen der allgemeinen Gefahrenlage
sind (BVerwG U. v. 08. 12. 1998, BVerwGE 108, S. 77).
Gemessen an diesen Voraussetzungen hat das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge zu Unrecht Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 S. 1
AuslG versagt. Den Klägerinnen drohen bei einer Rückkehr nach Afghanistan
derart existenzielle Gefahren, die sie individuell und konkret treffen und sie damit
aus dem Kreis der durch die allgemeine Gefahrenlage betroffenen Personen
herausheben, dass ein Abweichen von der politischen Grundentscheidung nach §
53 Abs. 6 Satz 2 AuslG gerechtfertigt ist.
Die Klägerinnen haben vor ihrer Ausreise aus Afghanistan keine politische
Verfolgung erlitten. Das, was die Klägerin 1. geschildert hat sind Schikanen und
Erschwernisse, wie sie viele Menschen erdulden mussten. Soweit sie speziell auf
die Religionsgemeinschaft der Hindus zielten, erreichten sie nicht den Grad
asylrelevanter politischer Verfolgung. Die Einschränkungen, die die Klägerin 1.
hinnehmen musste, mussten unter den Taleban alle Frauen ertragen. Die Taleban
üben keine Regierungsgewalt mehr aus. Jedoch werden Hindus auch in der
heutigen afghanischen Gesellschaft nachhaltig diskriminiert. Sie müssen damit
rechnen, dass ihnen, soweit sie Grundstücke besitzen, diese weggenommen
werden. Sie können sich nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 23.
04. 2004 praktisch nur in Tempeln unter äußerst schwierigen Bedingungen
aufhalten. Den Klägerinnen fehlt die für eine Rückkehr notwendige Infrastruktur an
Verwandtschaft und Freunden. Der Vater der Klägerin 1. ist verstorben, die Mutter
lebt in der Bundesrepublik Deutschland. Als Frau mit Kindern alleine könnte sie
sich nirgendwo in Afghanistan eine menschenwürdige Existenz sichern. Eine
Rückkehr nach Kandahar, einer Hochburg islamischer Traditionalisten, verbietet
sich für sie von selbst. Aber auch eine Schutzsuche in Kabul ist den Klägerinnen
nicht zuzumuten. Sie gehören zu dem besonders schutzbedürftigen
Personenkreis, der ohne hinreichende Aufnahme in vorhandene Lebensstrukturen
bei Verwandten oder Freunden in Kabul nicht eine Existenz sichern könnte, die den
o. g. Anforderungen genügte. Zwar hat sich nach dem neuesten Lagebericht des
Auswärtigen Amtes vom 22. 04. 2004 die Sicherheits- und Versorgungslage
gegenüber den früheren Feststellungen nicht grundsätzlich geändert. Bereits im
Lagebericht vom 06. 08. 2003 wurde wie auch jetzt ausgeführt, dass im Raum
Kabul aufgrund der ISAF-Präsenz die Lage vergleichsweise zufriedenstellend sei,
jedoch fragil bleibe. Diese sei vom UNHCR seit Mitte 2002 für freiwillige Rückkehrer
als "ausreichend sicher" bezeichnet worden. Nach den Angaben des UNHCR seien
im Jahre 2003 etwa 1 Million Afghanen nach Afghanistan zurückgekehrt, davon
knapp 500.000 mit Hilfe des UNHCR. Die Zahl der Rückkehrer sei zwar
zurückgegangen; doch kämen die Rückkehrer in den meisten Fällen bei
Familienangehörigen unter. Die Versorgungslage habe sich in Kabul zwar
grundsätzlich verbessert, wegen mangelnder Kaufkraft profitierten jedoch längst
nicht alle Bevölkerungsschichten von der verbesserten Lage. Für die Klägerinnen
bedeutet dies, dass sie sich ohne familiären oder sonstigen persönlichen Rückhalt
und ohne männlichen Beistand ein Obdach und Nahrung organisieren müssten,
war sich für sie außerordentlich schwierig gestalten dürfte. Der Klägerinnen können
auf vorhandene Strukturen nicht zurückgreifen, weil sie nie in Kabul gelebt haben.
Ein Unterkommen in einem Hindu-Tempel ist sehr schwierig überhaupt nur zu
erreichen, da sie keine Anknüpfungspunkte haben. In Kandahar haben sie zudem
nicht im Tempel selbst wohnen dürfen, wenn sie auch von dort unterstützt wurden.
Selbst wenn sie mit ihrem Ehemann und Vater reisen würden, würden die
Schwierigkeiten nicht so stark gemindert werden, dass ihnen eine Zuflucht in Kabul
zuzumuten wäre.
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Für die Klägerin 2. kommt hinzu, dass sie dringend ärztlicher Behandlung bedarf.
Eine ärztliche Versorgung ist in Kabul schon für die dort Lebenden völlig
unzureichend, für mittellose Rückkehrer wie die Klägerin zu 2. aber nahezu
unmöglich. Die Klägerin 3. ist erst 6 Jahre alt und mit 3 Jahren in das Bundesgebiet
eingereist, so dass sie den gesundheitlichen Risiken, die ein Leben mit
unzulänglicher Wohnsituation und Hygiene, das die Klägerin 3. in Afghanistan
erwarten würde, kaum gewachsen sein dürfte. Eine medizinische Versorgung bei
Krankheit könnte kaum erfolgen und die Widerstandskraft von Kindern ist im
Vergleich mit der Erwachsener deutlich geringer.
Die Kostenentscheidung berücksichtigt das jeweilige Obsiegen und Unterliegen der
Parteien (§ 155 Abs. 1 VwGO).
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 Abs. 2 VwGO i.
V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.