Urteil des VG Frankfurt (Main) vom 14.01.2003
VG Frankfurt: organisation, staatliche verfolgung, politische verfolgung, strafgesetzbuch, bestrafung, bundesamt, polizei, abschiebung, anerkennung, mitgliedschaft
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Gericht:
VG Frankfurt 10.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
10 E 31424/97.A
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 51 Abs 1 AuslG
Einzelfall der Anerkennung eines politischen Flüchtlings
wegen Kriegsdienstverweigerungsaktivitäten im Exil.
Tenor
Soweit der Kläger seine Klage auf Anerkennung als Asylberechtigter
zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt. Im übrigen wird unter
entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 11.09.1997 (Az: 2243233-163)
die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
des Ausländergesetzes für den Kläger vorliegen.
Die Kosten des Verfahrens haben die Beklagte zu 1/3 und der Kläger zu 2/3 zu
tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Kostenschuldner darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der
festzusetzenden Kosten abwenden, wenn der jeweilige Kostengläubiger nicht zuvor
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der Antragsteller gibt an, türkischer Staatsangehöriger kurdischer
Volkszugehörigkeit, alevitischer Religion zu sein und im Dezember 1996 auf dem
Luftwege - mit Hilfe einer Schlepperorganisation und eines gefälschten türkischen
Nationalpasses - von Istanbul über den Flughafen Frankfurt am Main in das Inland
eingereist zu sein.
Ausweislich des in den Behördenakten des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) befindlichen Nüfus ist er 1981 in der Nähe
von Tunceli geboren und hat dort bis 1995 gelebt. Zur Begründung seines Mitte
1997 gestellten Asylantrags gab er im wesentlichen an, dass er nach seinem
Umzug von Tunceli nach Istanbul Mitglied der Jugendorganisation der HADEP, der
YCK, geworden sei. Für diese Jugendorganisation habe er Plakate verteilt und an
Volkstänzen teilgenommen. Im übrigen habe er auch an der Demonstration am
01. Mai 1996 in Istanbul teilgenommen, wo Demonstranten von der türkischen
Polizei angegriffen und festgenommen worden seien. Er selbst sei bei diesem
Ereignis jedoch nicht festgenommen worden. In seiner Heimatregion sei es im
März 1995 zu Gefechten in der Nähe des Dorfes des Klägers gekommen. Die
Bewohner des Dorfes seien von den türkischen Sicherheitskräften bedroht, und
alle Jugendlichen des Dorfes seien festgenommen worden. Er sei drei Tage lang
festgehalten und auch mißhandelt worden. Ein Angebot als Spitzel tätig zu werden,
habe er zunächst angenommen, um im Februar 1996 nach seiner Freilassung
nach Istanbul zu seiner dort lebenden Schwester zu fliehen, wo er sieben bis acht
Monate gelebt habe. Kontakt zu der Jugendorganisation, der HADEP, der YCK,
habe er über ein Cafehaus in Istanbul hergestellt. Aus Angst davor, plötzlich wegen
seiner Aktivitäten für diese Organisation von der Polizei in Istanbul festgenommen
zu werden und dann zu "verschwinden", wie dies vielen anderen von der Polizei in
Gewahrsam genommen Personen schon ergangen sei, habe er die Türkei
schließlich verlassen.
Das Bundesamt lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 11.09.1997
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Das Bundesamt lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 11.09.1997
ab, stellte fest, dass für seine Person die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG
und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen und forderte den
Kläger zur Ausreise innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheides
auf. Für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist drohte ihm die Behörde die
Abschiebung in die Türkei oder in einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe
oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei an. Zur Begründung führte die
Behörde aus: Es bestünden schon Zweifel an der Glaubhaftigkeit des
Sachvortrages, denn der Kläger habe angegeben, dass er Mitglied der
Jugendorganisation der HADEP, der YCK, sei. Auf Nachfrage, ob es sich bei der YCK
tatsächlich um die Jugendorganisation der HADEP handele, habe der Antragsteller
mitgeteilt, dass er das von Freunden erfahren habe. Nach den dem Bundesamt
vorliegenden Informationen sei die Jugendorganisation der HADEP jedoch eine
andere. Sie nenne sich Genclik-Komisyonu . Somit stehe fest, dass es sich bei der
YCK nicht um die Jugendorganisation der HADEP handele. Nach den dem
Bundesamt vorliegenden Informationen handele es sich vielmehr bei dieser
Organisation um die "Jugendunion Kurdistan", die als Zelle bzw. Jugendorganisation
der PKK angesehen werde.
Daher seien die Angaben des Klägers hinsichtlich seiner Aktivitäten für die YCK
nicht glaubhaft, denn der Kläger habe im Rahmen der Anhörung falsche Angaben
hinsichtlich dieser Organisation gemacht, obwohl er nach seinen Angaben für diese
politische Aktivitäten wahrgenommen habe. Wer aber Plakate dieser Organisation
verteile und auch an Veranstaltungen teilnehme, müsse zumindest hinsichtlich der
Zugehörigkeit der Organisation genaue und detaillierte Angaben machen können.
Der Kläger habe ferner die ERNK als Jugendorganisation der PKK mitzeichnet. Auch
diese Angaben seien falsch. Nach der Kenntnis des Bundesamtes handele es sich
bei der ERNK um eine Unterorganisation der PKK. In Europa gelte die ERNK als
Propagandaabteilung der PKK. Im übrigen verfolge diese Organisation auch den
Guerillakrieg in Kurdistan.
Der Vortrag des Klägers sei unsubstantiiert, falsch und lasse jegliche politische
Kenntnis vermissen. Nach der Lebenserfahrung prägten sich aber derart
gravierende Ereignisse, wie sie der Kläger dargelegt habe, fest in das Gedächtnis
des Betroffenen ein. Auch nach einem längeren Zeitraum hätte ihm deshalb eine
detaillierte Schilderung zumindest der markanten fluchtauslösenden Ereignisse
möglich sein müssen. Im übrigen seien auch die Schilderungen des Klägers
hinsichtlich der Ereignisse in seiner Heimatregion alles andere als detailliert,
lebensnah und durch Einzelheiten geprägt.
Der gesamte Sachvortrag zeichne sich durch eine vage und oberflächliche
Darstellung aus. Er enthalte Widersprüche, die der Kläger nicht ausgeräumt habe.
Die rechtliche Würdigung dieser Widersprüche sowie das des unsubstantiierten
Sachvortrags, der sich auf einen wesentlichen Teil derjenigen Umstände beziehe,
auf die der Kläger seine Verfolgungsfurcht stütze, führe zum Scheitern der
gesamten Glaubhaftmachung.
Ferner ist in dem Bescheid ausgeführt: Kurden hätten in der Türkei eine
inländische Fluchtalternative, denn sie seien in anderen Teilen des Landes vor
politischer Verfolgung hinreichend sicher; es drohten ihnen auch dort keine
existenziellen Nachteile. Auch die Zugehörigkeit zum alevitischen Glauben
begründe keinen Asylanspruch. Nach Art. 2 der türkischen Verfassung sei die
Gewissens- und Glaubensfreiheit garantiert. Die türkische Regierung gewährleiste
auch in der Regel die Freiheit der Religionsausübung. Mit einer Diskriminierung
oder Verfolgung von offizieller staatlicher Seite hätten Aleviten daher allein wegen
ihres Glaubens nicht zu rechnen.
Auch wegen der in der Bundesrepublik Deutschland erfolgten Asylantragstellung
bestehe bei einer Rückkehr in die Türkei keine beachtliche Verfolgungsgefahr. An
allen Grenzübergängen würden anhand von Listen oder per Computer überprüft,
ob ein türkischer Staatsangehöriger, der in das Land einreise, in der Liste der
gesuchten Personen oder in der Liste jener, deren Einreise verboten sei,
aufgeführt sei. An jedem Grenzübergang könnten Personen auch wenn ihre
Namen in den Listen nicht enthalten seien, bei einem Verdacht einer
Untersuchung unterzogen werden, bis ihre Situation geklärt sei. Vor allem jene
Personen, die auf illegalem Wege die Türkei verlassen haben oder mit einem
falschen Pass ausgereist seien und im Ausland um Asyl gebeten hätten, könnten
bei einer Abschiebung oder bei einer Einreise mit einem vorläufig, vom Konsulat
ausgestellten Reisedokument nicht einreisen, ohne dass gem. der bekannten,
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ausgestellten Reisedokument nicht einreisen, ohne dass gem. der bekannten,
gesetzlich festgelegten Praxis eine Untersuchung über die einreisende Person
oder ihre Situation angestellt werde. Hierbei würden den von der Person
gemachten Angaben folgende Informationen bei der Staatsanwaltschaft oder den
Sicherheitsbehörden des Ortes, in der sie registriert seien und ihren ständigen
Wohnsitz hätten, eingeholt. Außerdem würde über die Person Angaben bei den
Sicherheitsbehörden des Innenministeriums oder bei der Behörde für
Terrorismusbekämpfung angefordert werden. Personen, über die Nachforschungen
angestellt würden, würden bis zu deren Abschluss festgehalten. Eine solche Person
werde nicht verhört, es finde nur eine Befragung zwecks Feststellung ihrer
Personalien, ihres Aufenthaltsortes und ihrer Adresse statt. Darüber hinaus
gehende Verhöre würden angestellt, wenn die Nachforschungen ergeben hätten,
dass gegen die Person ermittelt oder sie gesucht werde. Zwar ist nicht
auszuschließen, dass eine Person welche der zum Ausnahmezustandsgebiet
gehörenden Regionen entstamme oder kurdischer Herkunft sei, einer strengeren
oder umfangreicheren Kontrolle unterzogen werde, doch würden die Kontrollen an
allen Grenzübergängen im Allgemeinen in der gleichen Art und Weise
durchgeführt. Sinn und Zweck dieser Überprüfungsmaßnahmen sei allein die
Feststellung, ob gegen die betreffende Person irgendetwas vorliege. Alle in ihr
Heimatland zurückkehrenden Türken, also nicht bloß diejenigen kurdischer
Volkszugehörigkeit, könnten von solchen Maßnahmen betroffen werden, so dass
es in Bezug auf eine Verfolgung gerade wegen kurdischer Volkszugehörigkeit an
der vom Bundesverfassungsgericht geforderten objektiven Zielgerichtetheit der
staatlichen Maßnahmen fehle. Wenn auch die Behandlung einzelner in die Türkei
zurückkehrender Personen nicht immer hiesigem Rechtsempfinden entspräche, so
müsse auch hier die Asylerheblichkeit bei dem Hinweis auf die fehlenden objektive
Zielgerichtetheit staatlicher Maßnahmen verneint werden. Außerdem könne es auf
Grund der gebotenen Achtung vor der Personalhoheit und der Rechtsordnung
anderer Staaten nicht Sinn und Zweck des Asylrechts bzw. des Abschiebeschutzes
sein, eine nach den Gesetzen des anderen Staates vorgeschriebene
Sicherheitsüberprüfung zu verhindern. Danach stehe fest, dass die
Grenzkontrollen in der Türkei nicht über das hinausgehen, was ihre Bewohner in
vergleichbarer Situation allgemein hinzunehmen hätten. überdies seien die
türkischen Behörden mittlerweile durchaus in der Lage, eine lediglich
vorgeschobene politische Motivation eines Asylantrags von echter oppositioneller
Haltung zu unterscheiden und entsprechend zu verfahren. Denn den türkische
Behörden sei bekannt, dass viele ihrer Landsleute aus wirtschaftlichen Gründen
mit dem Mittel der Asylantragstellung versuchten, in Deutschland einen
Aufenthaltsrecht zu erlangen. Deshalb werde niemand, der in Deutschland um
politisches Asyl gebeten habe, ohne das Hinzutreten weiterer Gründe verfolgt.
Nach alledem lägen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht vor.
Nachdem schon das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht
festgestellt werden könne, scheide folglich auch ein Asylanspruch i.S.d. § 16a Abs.
1 GG aus, denn § 51 Abs. 1 AuslG unterscheide sich lediglich dadurch von Art. 16a
Abs. 1 GG, dass dessen Voraussetzungen auch dann erfüllt seien, wenn ein
Asylanspruch trotz drohender politischer Verfolgung - etwa wegen der Regelungen
der §§ 26a, 27 oder 28 AsylVfG - ausscheide. Abschiebungshindernisse gem. § 53
AuslG lägen ebenfalls nicht vor. Ein Ausländer dürfe nicht in einen Staat
abgeschoben werden, in dem ihm Folter, Todesstrafe oder menschenrechtswidrige
Behandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Voraussetzung hierfür sei,
dass diese Gefährdung vom Staat oder einer quasi-staatlichen Organisation
ausgehe oder diesem zumindest mittelbar zuzurechnen sei und die Verfolgung
individuell, konkret und zu dem landesweit gehenden Ausländer gerichtet werde.
Ferner ist von einer Abschiebung gem. § 53Abs. 6 Satz 1 AuslG abzusehen, wenn
dem Ausländer eine erhebliche, individuelle und konkrete Gefahr für Leib, Leben
oder Freiheit drohe, wobei es hier nicht darauf ankomme, von wem die Gefahr
ausgehe und wodurch sie hervorgerufen werde.
Der Kläger hat gegen den am 18.09.1997 zugestellten Bescheid mit einem am
22.09.1997 bei Gericht eingegangenem anwaltlichen Schriftsatz Klage erhoben. Er
macht zur Begründung geltend, er habe sich nach seiner Einreise in das
Bundesgebiet als aktiver Kriegsdienstverweigerer exilpolitisch betätigt. Er stehe
seit dem letzten Jahr in Kontakt zu der Gruppe "Connection e.V. Internationale
Arbeit für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure" in Offenbach. Diese
Organisation arbeite mit der Gruppe Kirik Tüfek (Das zerbrochene Gewehr -
Rundbrief der türkisch-kurdisch-antimilitaristischen Bewegung), SHRG zusammen.
Beide gäben zusammen den Rundbrief Kriegsdienstverweigerer im Krieg heraus.
Im Jahre 2000 sei von diesem Gruppen am 01.12.2000 eine öffentliche
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Im Jahre 2000 sei von diesem Gruppen am 01.12.2000 eine öffentliche
Protestkundgebung vor dem Türkischen Generalkonsulat in Hannover durchgeführt
worden. Der Kläger habe an dieser Kundgebung teilgenommen. Im Rahmen der
Kundgebung sei eine (vom Kläger unterzeichnete, gemeinsame Erklärung der
Teilnehmer dieser Aktion an das Generalkonsulat der Türkei überreicht worden
(Text Bl. 119, 120 der GA). über diese Aktion sei in der türkischen Zeitung Hürriyet
berichtet worden (Bl. 117 ff. der GA). Das türkische regierungstreue Massenblatt
Hürriyet habe die Kundgebung als Aktion von PKK-Angehörigen bewertet. Diese
Bewertung sei für die Erfassung und Beurteilung seitens türkischer Dienststellen
bezeichnet. Sein Name und seine Identität sei dem türkischen Generalkonsulat in
Hannover durch die abgegebene Erklärung bekannt.
Er argumentiert ferner, seitens der türkischen Justiz seien gegen Teilnehmer der
von Connection e.V. organisierten Aktionen vor türkischen Konsulaten
Strafverfahren eingeleitet worden (Bl. 153 - 169 der GA). Im Falle eines
Mitdemonstranten von Hannover habe der Petitionsausschuss des Deutschen
Bundestages dem Bundesministerium des Innern und dem Bundesamt
empfohlen, die Voraussetzungen des § 53 AuslG festzustellen
(Beschlussempfehlung Bl. 145 - 150, Pressebericht über den Bescheid vom
03.12.2001, Bl. 171, Bescheid vom 03.12.2001 - 2642787-163, Bl. 218 der GA). Bei
dem Kläger liege der Fall ebenso.
Ferner beruft sich der Kläger auf die Ausführungen in den Entscheidungen des VG
Kassel vom 31.05. und 19.06.2001 (Bl. 191 - 201 der GA), in dem
Sachverständigengutachten Kaya an das VG Darmstadt vom 30.06.2001 (Bl. 205 -
207 der GA) und in den Bescheiden des Bundesamtes vom 10.05.2001 (Az:
2645749-163) und vom 30.10.2002 (Az: 2700971-163).
Soweit die Beklagte argumentiere, bei der Tätigkeit des Klägers im Rahmen seiner
Kriegsdienstverweigerungsaktivitäten handele es sich nicht um exponierte
exilpolitische Aktivitäten, sei der durch die Rechtsprechung präzisierte Begriff der
"Exponiertheit" nicht zutreffend auf den Fall übertragen worden, denn vorliegend
handele es sich um gezielt gegen das türkische Militär gerichtete oder öffentlich
wirksame individuelle Aktivitäten. Der türkische Staat reagiere besonders sensibel,
wenn sein eigentliches Machtzentrum - das Militär - angegriffen werde. In den
vorliegenden Fällen stehe zum einen fest, dass türkische Dienststellen positiv von
der Person des Aktivisten - hier des Klägers - Kenntnis erlangt hätten. Weiterhin
stehe fest, dass die türkischen Strafverfolgungsorgane diese Aktivitäten sehr wohl
als gegen den türkischen Staat, das türkische Militär, gerichtete strafbare
Handlungen bewerteten und verfolgten. Die von der Beklagten zitierte
Rechtsprechung sei daher auf den vorliegenden Sachverhalt nicht anwendbar.
Der Kläger trägt weiter vor, dass bei dem 1. Staatssicherheitsgericht Malatya
gegen X Y seine Schwester, unter dem Az: Esas No. 2002/49 ein Verfahren wegen
Mitgliedschaft in einer illegalen bewaffneten Organisation anhängig gewesen sei. Er
überreicht dazu eine Abschrift des Beschlusses des Gerichts in Malatya. Aus dem
Beschluss ergebe sich, dass gegen diese ein Ermittlungsverfahren wegen
Mitgliedschaft in einer illegalen bewaffneten Organisation anhängig gewesen war.
Im Hinblick darauf, dass seine Schwester im Staatsschutzzusammenhang
behördlich erfasst worden sei, ergäben sich für die türkische Behörden weitere
Anhaltspunkte bzw. Motive zu einer Vernehmung des Klägers im Falle seiner
Wiedereinreise in die Türkei.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres insoweit ablehnenden Bescheides vom
11.09.1997 zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs.
1 AuslG bzw. die Voraussetzungen des § 53 AuslG vorliegen.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie argumentiert, dass die politische
Aktivität des Klägers in der Türkei im Jahre 1996, also im Alter von 14/15 Jahren
gerade wegen des Alters und seines Entwicklungsstandes keine Relevanz haben
könne. Der Kläger sei nicht in der Lage gewesen, bereits im Herkunftsland seine
Überzeugung erkennbar zu betätigen.
Exilpolitische Aktivitäten begründeten nur bei Exponiertheit eine Verfolgungsgefahr
in der Türkei. Die geschilderten Nachfluchtaktivitäten des Klägers seien trotz seiner
einmaligen Unterschrift unter ein Protestschreiben so geringfügig, dass seine
Befürchtung, deswegen Nachteile zu erleiden, unbegründet seien. Entscheidend
sei, dass ein landesweites Verfolgungsinteresse des türkischen Staates gerade in
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sei, dass ein landesweites Verfolgungsinteresse des türkischen Staates gerade in
diesem Fall nicht wahrscheinlich sei. Angesichts der Vielzahl der Ereignisse in
Deutschland und den beteiligten Personen sei es wenig wahrscheinlich, dass
einfache Vereinsmitgliedschaft oder Teilnahme an Veranstaltungen bzw.
Demonstrationen den zuständigen türkische Stellen überhaupt bekannt werden
würden. Vielmehr würde sich deren Interesse auf die an exponierter Stelle
auftretenden und agierenden Wortführer staatsfeindlicher Gruppen und sonst in
der Öffentlichkeit bekannt gewordene Kritiker der Verhältnisse in der Türkei
konzentrieren. Exilpolitisch exponiert sei nur, wer sich durch seine Betätigung
deutlich von der breiten Masse abhebe. Hierzu zähle z.B. die Entwicklung
politischer Ideen und Strategien, deren Umsetzung mit Worten oder Taten sowie
eine maßgebende Einflussnahme auf die in Deutschland lebenden Landsleute.
Diese Voraussetzungen lägen beispielsweise in der Regel bei Leitern von größeren
und öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen und Protestaktionen sowie bei
wichtigen Rednern auf solchen Veranstaltungen vor, ferner bei ehemaligen
Mitgliedern und Delegierten des inzwischen aufgelösten kurdischen Exilparlaments,
u.U. auch bei Vorstandsmitgliedern bestimmter oppositioneller Exilvereine. Der
Kläger gehöre nicht hierzu.
Dem Kläger drohe auch keine Strafverfolgung in der Türkei. Eine Tat, die von
einem türkischen Staatsangehörigen im Ausland begangen worden sei, werde in
der Türkei nur verfolgt, soweit es sich um Staatsschutzdelikte handele (Artikel 4
des türkischen Strafgesetzbuches). Exilpolitische Aktivitäten niedrigen Profils sei
nicht strafbar (Artikel 8 des türkischen Antiterrorgesetzes), denn hierbei handele
es sich um ein typisches Intellektuellendelikt, wovon vorwiegend Journalisten und
Schriftsteller betroffen seien. Verurteilungen von Personen, die bei einer
Demonstration fotografiert worden waren, seien schon vor der Neufassung - durch
welche der bisher weitgefasste Tatbestand eingeengt worden sei - nicht bekannt
geworden. Im übrigen scheidet die Bestrafung derartige exilpolitische Aktivitäten
deshalb aus, weil es sich dabei - ihre Strafbarkeit unterstellt - aus der Sicht des
türkischen Staates um Auslandsstraftaten handele. Für diese gelte das
internationale Strafrecht im türkischen Strafgesetzbuch. So finde nach Artikel 5
türkisches Strafgesetzbuch eine Strafverfolgung nur bei Auslandsdelikten statt, für
die eine Mindestfreiheitsstrafe von drei Jahren vorgesehen sei, also nicht bei Artikel
8 Antiterrorgesetz (Strafmaß 1-3 Jahre und Geldstrafe). Straftaten würden nach
Artikel 4 türkisches Strafgesetzbuch nur verfolgt, wenn sie gegen die Persönlichkeit
des Staates gerichtet seien. Nach der herrschenden Meinung in der Türkei zählt
ein Delikt nach Artikel 8 Antiterrorgesetz nicht zu diesen Straftaten. Gutachten, die
eine Anwendung von Artikel 4 türkisches Strafgesetzbuch auf Artikel 8 ATG
gleichwohl für möglich hielten könnten mangels mitgeteilter Referenzfälle nicht
überzeugen.
Auch eine Bestrafung wegen Volksverhetzung nach Artikel 132 Abs. 2 türkisches
Strafgesetzbuch scheitert ebenfalls an Artikel 4, 5 türkisches Strafgesetzbuch wie
eine Bestrafung wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Bande nach Artikel 168
Abs. 2 türkisches Strafgesetzbuch, da davon allenfalls Personen betroffen seien,
die sich über einen längeren Zeitraum häufig, öffentlich und prominent für die
Ziele einer militanten Organisation wie z.B. der PKK eingesetzt hätten. Eine
Bestrafung nach Artikel 168 türkisches Strafgesetzbuch wegen Unterstützung
einer bewaffneten Bande komme schließlich nur in Betracht, wenn das fragliche
Verhalten als Anstiftung zu konkreten separatistischen Aktionen in der Türkei
gewertet werden könne, was bei einfachen exilpolitischen Aktivitäten praktisch
ausgeschlossen sei.
Die Kammer hat den Rechtstreit mit Beschluss vom 10.04.2001 dem
Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Behördenakte
des Bundesamtes (ein Heft, Blatt1-146) sowie die dem Bevollmächtigten des
Klägers übersandten Listen der Ereignisgrundlagen, die sämtlich Gegenstand der
mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.
Entscheidungsgründe
Das Verfahren ist gemäß § 92 Abs. 1, Abs. 2 VwGO einzustellen, soweit der Kläger
seine Verpflichtung der Beklagten, ihn als Asylberechtigten gemäß Artikel 16 a
Abs. 1 GG anzuerkennen, gerichtete Klage zurückgenommen hat.
Die im übrigen zulässige Klage ist begründet. Die Verneinung der
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG für die Person des Klägers hinsichtlich
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Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG für die Person des Klägers hinsichtlich
seines Heimatlandes Türkei in Nummer 2 des angefochtenen Bescheides des
Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten.
Deshalb sind auch die zu § 53 AuslG getroffenen Feststellung und die
Abschiebungsandrohung im angefochtenen Bescheid des Bundesamtes
aufzuheben (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen
Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) einen
Anspruch auf Feststellung zu Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
AuslG hinsichtlich seines Heimatlandes Türkei.
Allerdings ist der Kläger zur Überzeugung des Gerichts auf der Grundlage seines
Vorbringens in dem Verfahren vor dem Bundesamt und dem gerichtlichen
Verfahren sowie der dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten
Erkenntnis unverfolgt aus der Türkei ausgereist.
Dem Kläger drohte im Zeitpunkt seiner Ausreise Ende 1996 wegen seiner
Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe oder zum alevitischen Glauben keine
landesweite asylrechtserhebliche staatliche Verfolgung. Das Gericht geht wie auch
der Hessische Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass Kurden erst sei Mitte 1993
ausschließlich in den Notstandprovinzen im Südosten der Türkei in Anknüpfung an
ihre Volkszugehörigkeit einer Gruppenverfolgungssituation ausgesetzt gewesen
sind, die als örtlich begrenzte Gruppenverfolgung einzustufen ist. Indessen stand
dem Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise außerhalb der Notstandgebiete,
insbesondere in der Westtürkei, eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.
Auch insoweit folgt das Gericht der ständigen Rechtsprechung des Hessischen
Verwaltungsgerichtshof und verweist gegen die Einzelheiten der diese
begründenden Feststellung auf das Urteil des HessVGH vom 27.04.2000 - 12 UE
583/99.A -.
Der Kläger war auch nicht aus individuellen Gründen asylrechtserheblicher
Verfolgung ausgesetzt. Insoweit folgt das Gericht zur Vermeidung von
Wiederholungen den Ausführungen in dem Bescheid des Bundesamtes (§ 117 Abs.
5 VwGO).
Das Gericht geht zum einen als feststehend davon aus, dass der Kläger dessen
Name und Anschrift neben den anderen aus dem türkischen Generalkonsulat in
Hannover übermittelten Erklärung geschrieben stehen, deswegen im
Datenverarbeitungssystem der türkischen Behörden gespeichert sind. Aufgrund
des Umstandes, dass der Kläger zwischenzeitlich wehrpflichtig geworden ist und
seinen Wehrdienst noch nicht abgeleistet, ist seine Bestrafung nach Artikel 63 des
türkischen Militärgesetzbuches wegen Entziehung vom Militärdienst beachtlich
wahrscheinlich (vgl. die Gutachten von Kaya an das VG Kassel vom 09.02.1998;
von Rumpf an das VG Darmstadt vom 14.01.1998; sowie den Lagebericht des AA
vom 07.09.1999). Eine solche Bestrafung wegen Militärdienstentziehung stellt
allerdings grundsätzlich keine politische Verfolgung dar, führt aber letztendlich
dazu, dass der Kläger im Falle seiner Einreise in die Türkei von den Behörden
festgehalten wird.
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass für den Kläger auch eine Bestrafung
nach Artikel 155 des türkischen Strafgesetzbuches wegen Entfremdung des Volkes
vom Militär in Betracht kommt Kaya an das VG Kassel vom 09.02.1998). Es ist
weiter abzunehmen, dass die den türkischen Behörden übermittelte Erklärung in
Hannover dort nicht nur als Kriegsdienstverweigerungserklärung aus pazifistischen
Gründen verstanden wird, sonder diese Verweigerungserklärung in einem
politischen Zusammenhang gestellt wird, weil in dem Schreiben insbesondere das
Vorgehen des türkischen Militärs in der Türkei kritisiert wird. Das Militär führt
zwischen 50.000 und 55.000 Tode in dieser Region verantwortlich gemacht wird, es
wird ausgesagt, dass man sich beim Militär an morgen, Zwangsevakuierungen von
Dörfern und Städten, Verbrennungen von Wäldern, Folter und Verschleppen von
Menschen beteiligen müssen. Hierdurch wird ausgesagt, dass das Militär im
Südosten der Türkei dem türkischen Volk nicht diene, sondern schade. Dies setzt
dem Kläger obendrein dem Verdacht des Separatismus aus.
Zum anderen wird der Kläger aus dem Umstand folgend auffallen, weil sein
verwandtschaftliches Umfeld zumindest Kreisen zugeordnet werden wird, die auf
eine Nähe zu illegalen bewaffneten Organisationen schließen lassen. Das folgt aus
dem Erlass eines Haftbefehls gegen seine in der Türkei lebende Schwester. Aus
der Tatsache, dass das Verfahren beim Staatssicherheitsgericht anhängig ist,
folgt, dass es sich nicht um ein unauffälliges Bagatelldelikt handeln kann, dass bei
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folgt, dass es sich nicht um ein unauffälliges Bagatelldelikt handeln kann, dass bei
den entsprechenden Stellen keine Beachtung findet.
Das Gericht hält es aufgrund dieser Umstände und unter Zugrundelegung der in
vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse für beachtlich
wahrscheinlich, dass der Kläger der politischen Abteilung der türkischen Polizei im
Falle seiner Einreise in die Türkei zugeführt und einer intensiven Vernehmung
unterzogen wird. Das Gericht hält es darüber hinaus für beachtlich wahrscheinlich,
dass dem Kläger während dieser Vernehmung Folter droht. Mag insoweit auch das
Informationsbedürfnis der türkischen Sicherheitskräfte im Hinblick auf den
hinsichtlich des Klägers klaren Sachverhalt nicht allzu groß sein, wird der Kläger
aber als Separatist und Feind der Türkei angesehen, was nach den vorliegenden
Erkenntnissen regelmäßig zu Abstrafungen und Folterungen führt, ohne dass der
türkische Staat ernsthaft dagegen einschreitet. Damit knüpft diese Behandlung
gerade an die vermeintliche Anschauung des Betroffenen an.
Nicht zu folgen vermag das Gericht den Ausführungen in der Entscheidung des
Verwaltungsgerichts Kassel - 4. Kammer - in seinem Urteil vom 31.05.2001 (4 E
2930/99.A), in dem das Gericht eine asylrechtserhebliche Gefährdung des dortigen
Klägers im Falle seiner Rückkehr in die Türkei wegen dessen Aktivitäten in der
Kriegsdienstverweigerungsinitiative unter Hinweis auf einen Zeitungsartikel der
türkischen Zeitung Hürriyet vom 02.12.2000 anlässlich der
Kriegsdienstverweigerungsaktion vom 01.12.2000 in Hannover und dem Umstand,
dass die Angestellten des türkischen Generalkonsulats in Hannover die
Entgegennahme der schriftlichen Erklärung der Teilnehmer der Aktion
verweigerten, abgelehnt hat. Soweit das Gericht in der Entscheidung zu dem
Ergebnis gekommen ist, die Diktion des Artikels lasse erkennen, dass die
Kriegsdienstverweigerungsaktion eher als Theater als ernstzunehmende politische
Veranstaltung angesehen worden sein, vermag dieser Artikel über die
Einschätzung derartiger Aktivitäten durch den türkischen Auslandgeheimdienst
und den Sicherheitskräften in der Türkei nichts auszusagen. Auch die Nicht-
Entgegennahme der schriftlichen Erklärungen der Teilnehmer der Veranstaltung
durch die Konsulatsangestellten lässt nach Dafürhalten des vorliegend zur
Entscheidung berufenen Gerichts nicht darauf schließen, dass der türkische Staat
derartige Aktionen nur als Farce und nicht als ernstzunehmenden Angriff und
mithin kein besonderes Interesse an den Personalien der Teilnehmer und daran,
dieser Person irgendwann habhaft zu werden, hat. Die Verweigerung der
Entgegennahme der Erklärungen lässt sich vielmehr durchaus dahin
interpretieren, dass den türkischen Auslandsvertretungen nicht daran gelegen ist,
Aktivitäten im Zusammenhang mit dem sensiblen Thema der Kurdenfrage vor
allem im Ausland eine öffentliche Plattform zu bieten. Konkrete Anhaltspunkte
dafür das die von den Teilnehmern der Aktion unterschriebenen schriftlichen
Erklärungen, die über den Konsulatsbriefkasten der türkischen Auslandsvertretung
zugänglich geworden sind, im Hinblick auf eine strafrechtliche Relevanz und ein
Interesse der Sanktionierung derjenigen, die das Ansehen des türkischen Staates
schädigen, nicht ausgewertet werden und die Betroffenen im Falle einer Rückkehr
in die Türkei nicht mit Sanktionen überzogen werden, liegen dem zur Entscheidung
berufenen Gericht derzeit nicht vor.
Die getroffenen Feststellungen müssen insgesamt zur Verpflichtung der Beklagten
führen, für den Kläger das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG
hinsichtlich einer Abschiebung in sein Heimatland Türkei festzustellen mit der
Folge, dass auch die negativen Feststellungen des Bundesamtes zum Vorliegen
von Abschiebungshindernissen in der Person des Klägers und die
Abschiebungsandrohung aufzuheben sind.
Eine Entscheidung über eine Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von
Abschiebungshindernissen in der Person des Klägers ist nicht zu treffen, weil dieser
Antrag nur hilfsweise für den Fall der Abweisung der Klage hinsichtlich der
begehrten Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
gestellt worden ist.
Die Kosten waren verhältnismäßig unter Berücksichtigung der Regelungen in § 155
Abs. 1 und Abs. 2 VwGO zu teilen. Streitigkeiten nach dem AsylVfG sind
gerichtskostenfrei (§ 83 b Abs. 1 AsylVfG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung
und die Vollstreckungsabwehrbefugnis ist nach § 167Abs. 2 VwGO, § 708 Nr. 11, §
711 ZPO geboten.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.