Urteil des VG Düsseldorf vom 16.01.2007

VG Düsseldorf: genfer flüchtlingskonvention, irak, bundesamt für migration, widerruf, verfassungskonforme auslegung, drohende gefahr, abschiebung, ausländer, gefängnis, anerkennung

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 16 K 4578/05.A
Datum:
16.01.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
16. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
16 K 4578/05.A
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht
erhoben werden.
Tatbestand:
1
Der am 00.0.1977 in L geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer
Volkszugehörigkeit. Er reiste eigenen Angaben zufolge am 5. August 2001 in die
Bundesrepublik Deutschland ein.
2
Am 6. August 2001 beantragte er seine Anerkennung als Asylberechtigter (0 000 000 –
438). Zur Begründung führte er bei seiner Anhörung unter Vorlage seines
Personalausweises im Wesentlichen aus: Er sei ledig und habe bis zu seiner Ausreise
mit seinem Bruder bei seinen Eltern in L gelebt. Nach der 9. Klasse habe er 1993 die
Schule verlassen. Eine Berufsausbildung habe er nicht erhalten. Er habe in L bis zu
seiner Ausreise eine Videothek betrieben. 1995 habe er drei Monate Wehrdienst
geleistet. Von der restlichen Wehrdienstableistung habe er sich freigekauft. Er habe sich
im Irak nicht politisch engagiert. Von Februar 2001 bis Mai 2001 sei er im Gefängnis in L
gewesen, weil er am 16. Januar 2001 zusammen mit zwei Freunden in der Videothek
den Film "Wüstensturm" angesehen habe. Diesen Film habe einer seiner Freunde
mitgebracht, der eine Woche später verhaftet worden sei. Am 1. Februar 2001 sei er
selbst verhaftet worden. Während der Verhöre habe er sowohl die Existenz des Filmes
als auch den Vorfall geleugnet. Deshalb habe man ihm nichts nachweisen können und
er sei am 1. Mai 2001 aus dem Gefängnis entlassen worden. Er habe sich mündlich
verpflichten müssen, mit dem Sicherheitsdienst zusammenzuarbeiten. Nachdem er aus
dem Gefängnis entlassen worden sei, sei er vier bis fünf Mal von Sicherheitsbeamten
aufgesucht worden. Man habe von ihm verlangt, dass er mit dem Sicherheitsdienst
zusammenarbeite. Ansonsten würden sie ihn verschwinden lassen und töten. Er habe
geantwortet, dass er zunächst eine Pause benötige, weil er sich drei Monate im
Gefängnis aufgehalten habe. Da er die ständigen Belästigungen der Sicherheitsleute
nicht mehr habe ertragen können, habe er sich zur Flucht aus dem Irak entschlossen
und sei ausgereist.
3
Mit Bescheid vom 15. August 2001 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung
4
Mit Bescheid vom 15. August 2001 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge (jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Bundesamt -)
den Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter ab, stellte aber zugleich
fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Iraks vorliegen.
4
Nachdem das Bundesamt dem Kläger mitgeteilt hatte, dass es den Widerruf der
Entscheidung zu § 51 Abs. 1 AuslG beabsichtige, machte dieser geltend: Gemäß der
Beendigungsklausel der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) erlösche der
Flüchtlingsstatus einer Person, wenn sie nach Wegfall der Umstände, auf Grund derer
sie als Flüchtling anerkannt worden sei, es nicht mehr ablehnen könne, den Schutz des
Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitze. Diese
Voraussetzung liege im Irak derzeit nicht vor, da sich die Verhältnisse noch nicht
dauerhaft und stabil geändert hätten, wie der UNHCR und Wadi e.V. bestätigten.
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Mit Bescheid vom 12. Oktober 2005 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 15.
August 2001 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG
vorliegen. Ferner stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG
nicht vorliegen und dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht
vorliegen.
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Der Kläger hat am 19. Oktober 2005 Klage erhoben. Diese begründet er zusätzlich wie
folgt: Der materielle Gehalt der Art. 1 C Nr. 5 GFK sowie von Art. 11 I e der
Qualifikationsrichtlinie sei bei der Auslegung des § 73 Abs. 1 AsylVfG zu
berücksichtigen. Aufgrund der unsicheren Lage im Irak sei bereits die physische
Sicherheit der Rückkehrer in den Irak in Frage gestellt. Die persönliche Sicherheit sei
aber eine Mindestvoraussetzung für die Zumutbarkeit der Rückkehr. Das Bundesamt
habe nach der neuen Rechtslage eine Ermessensentscheidung zu treffen, im
vorliegenden Fall jedoch kein Ermessen ausgeübt.
7
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger ausgeführt, dass er Probleme mit den
ehemaligen Baath-Parteimitgliedern habe. Diese würden ihn verfolgen, weil er gegen
das Regime gearbeitet habe. Seine Freunde, die mit ihm inhaftiert worden seien, seien
hingerichtet worden. Er sei der einzige Verdächtige, der noch auf freiem Fuß sei. Er sei
nur unter der Bedingung, mit dem Sicherheitsdienst zusammenzuarbeiten, freigelassen
worden, die er nicht erfüllt habe.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12.
Oktober 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass
die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, hilfsweise die
Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60
Abs. 2 – 7 AufenthG vorliegen.
10
Die Beklagte beantragt,
11
die Klage abzuweisen.
12
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den
Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes sowie der
beigezogenen Ausländerakte des Klägers und die der Kammer über die Situation im
13
Irak vorliegenden Auskünfte und Erkenntnisse, auf die die Prozessbevollmächtigte des
Klägers mit der Ladung hingewiesen worden ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
14
Die Klage ist unbegründet.
15
1. Das Bundesamt hat in seinem Bescheid vom 12. Oktober 2005 die Feststellung des
Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG zu Recht widerrufen.
16
Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist u.a. die Feststellung, dass die Voraussetzungen
des § 51 Abs. 1 AuslG - nunmehr ersetzt durch § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz
(AufenthG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn sich die zum Zeitpunkt der
Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur
vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen
Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen
Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit
ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneute Verfolgung droht,
17
vgl. BVerwG, Urteil vom 1. November 2005 – 1 C 21.04 -.
18
Eine nachträgliche wesentliche Änderung in diesem Sinne liegt im Irak mit dem Sturz
des Regimes von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen
vor,
19
vgl. BVerwG, Urteil vom 25. August 2004 – 1 C 22.03 -.
20
Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben
werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion,
Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder
wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Verfolgung im Sinne dieser
Vorschrift kann ausgehen a) von dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den
Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder c) nichtstaatlichen
Akteuren, sofern die unter a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler
Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor
der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche
Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn es besteht eine innerstaatliche
Fluchtalternative.
21
Im vorliegenden Fall bestehen keine vernünftigen Zweifel, dass der Kläger irakischer
Staatsangehöriger ist, sodass es für die Beurteilung auf die Verfolgungslage im Irak
ankommt.
22
Der Kläger muss gegenwärtig auf Grund des Sturzes des Regimes von Saddam
Hussein von dieser Seite keine Verfolgung (mehr) fürchten. Ebenso wenig können aus
dem Sachvortrag des Klägers hinreichende Anhaltspunkte dafür entnommen werden,
dass die zwischenzeitlich errichteten irakischen Behörden oder Teile der alliierten
Streitkräfte den Kläger verfolgen sollen. Dabei kann offen bleiben, ob die neu
konstituierten Behörden bereits eine hinreichende Staatsgewalt aufgebaut haben,
23
vgl. einerseits OVG NRW, Urteil vom 14. August 2003 - 20 A 430/02.A - und seitdem
24
ständige Rechtsprechung des OVG NRW, auch des 9. Senats, siehe zuletzt
Beschlüsse vom 30. November 2004 – 9 A 776/02.A – , 12. Januar 2005 – 9 A
120/05.A und 31. Mai 2005 – 9 A 1738/05.A -; vgl. auch OVG SH, Beschluss vom 30.
Oktober 2003 1 LB 39/0 , andererseits VGH BW, Urteil vom 16. September 2004 - A 2
S 471/02 -.
Aus dem Vorbringen des Klägers sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass
ihm von quasistaatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz
4 b) und c) AufenthG Verfolgung droht, der er in seinem Heimatland schutzlos und
unausweichlich ausgesetzt wäre. Sein erst in der mündlichen Verhandlung
vorgebrachter Vortrag, dass er Probleme mit ehemaligen Baath-Parteimitgliedern habe,
weil diese jeden verfolgen würden, der gegen das Regime gearbeitet habe, ist zu
pauschal und vage, als dass daraus mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zum
entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1
AsylVfG) auf eine konkrete Bedrohung des Klägers geschlossen werden könnte, der der
Kläger bei einer Rückkehr in den Irak landesweit ausgesetzt wäre. Zudem hat der
Kläger nach eigenem Vorbringen gar nicht gegen das Regime Saddam Husseins
gearbeitet, sondern hat sich lediglich der versprochenen Zusammenarbeit mit dem
Sicherheitsdienst durch seine Ausreise entzogen. Er galt auch bereits vor seiner
Ausreise nicht als verdächtig, da er nach eigenen Angaben aus dem Gefängnis
entlassen worden ist, weil ihm die Tat nicht nachgewiesen werden konnte. Die auf
Grund zahlreicher Terroranschläge und zum Teil außer Kontrolle geratener allgemeiner
Kriminalität insgesamt äußerst unsichere Lage, die zu zahlreichen Opfern unter
Zivilisten führt,
25
vgl. hierzu Bericht des Auswärtigen Amtes vom 29. Juni 2006 über die asyl- und
abschiebungsrelevante Lage im Irak (508-516.80/3 IRQ) (Stand: Juni 2006)
26
und die sich daraus ergebende allgemeine Gefahr, Opfer von Anschlägen zu werden,
kann nicht als eine auf die Person des Klägers zielende Verfolgung eingestuft werden,
die im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG Berücksichtigung finden könnte. Derartige
Gefahren sind allenfalls im Rahmen der nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu prüfenden
Abschiebungsverbote zu berücksichtigen.
27
Ohne Erfolg macht der Kläger geltend, die Voraussetzungen des § 73 AsylVfG seien
nicht erfüllt, weil die Änderung der Verhältnisse im Irak noch nicht dauerhaft sei und der
irakische Staat nicht in der Lage sei ausreichenden Schutz zu gewähren, wie es Art. 1 C
Nr. 5 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) voraussetze.
28
Die in Art. 1 C Nr. 5 S. 1 GFK formulierte "Beendigungs-" oder "Wegfall-der-Umstände-
Klausel", die sich ebenfalls ausschließlich auf den Schutz vor erneuter Verfolgung
bezieht, ist zwar zu berücksichtigen. Sie entspricht jedoch ihrem Inhalt nach der
Bestimmung des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG. Ein Ausländer kann nach Wegfall der
Umstände, auf Grund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es im Sinne von Art. 1
C Nr. 5 Satz 1 GFK nicht mehr ablehnen, den Schutz des Staates seiner
Staatsangehörigkeit (wieder) in Anspruch zu nehmen. Dagegen werden allgemeine
Gefahren (z.B. aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten
Wirtschaftslage) von dem Schutz des Art. 1 A Nr. 2 GFK nach Wortlaut und Zweck
dieser Bestimmung ebenso wenig umfasst wie von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK. Ob dem
Ausländer wegen allgemeiner Gefahren im Herkunftsstaat eine Rückkehr unzumutbar
ist, ist mithin beim Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1
29
AsylVfG nicht zu prüfen. Schutz kann insoweit nach den allgemeinen Bestimmungen
des deutschen Ausländerrechts gewährt werden (vgl. namentlich § 60 Abs. 7 S. 2 und §
60a Abs. 1 S. 1 AufenthG),
vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urteil vom 1. November 2005, a.a.O.
30
Auch Art. 11 Abs. 1 e), 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie)
stehen einem Widerruf nicht entgegen. Dort wird ebenfalls der Widerruf einer
Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 2 d) für den Fall vorgesehen, dass
der Schutz des Landes der Staatsangehörigkeit in Anspruch genommen werden kann.
Dabei geht es jedoch, wie sich aus Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie ergibt, um den Schutz vor
individueller Verfolgung, die nicht mehr droht, nicht aber um die Schutz- und
Funktionsfähigkeit des Staates schlechthin. Der sog. "subsidiäre Schutz" gemäß Art. 15
der Richtlinie vor ernsthaftem Schaden ist ebenfalls ausdrücklich für individuelle
Bedrohungen vorgesehen. Schließlich belegt Erwägung 26 der Richtlinie, dass
Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt
sind, grundsätzlich keine Bedrohung im Sinne der Richtlinie darstellen, die als
ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie zu beurteilen wäre. Aus der
Qualifikationsrichtlinie lässt sich eine Besserstellung der von ihr erfassten Personen
gegenüber der früheren Rechtslage nicht entnehmen. § 60 Abs. 1 AufenthG ist unter
Beachtung der Qualifikationsrichtlinie in seinem Kerngehalt nicht anders auszulegen als
der bisherige § 51 Abs. 1 AuslG,
31
vgl. zum Ganzen OVG NRW, Urteil vom 4. April 2006 - 9 A 3590/05.A -, mit dem das
OVG NRW eine entgegenstehende Entscheidung des VG Köln aufgehoben hat,
sowie Beschlüsse vom 18. Mai 2005 – 11 A 533/05.A – und vom 16. Oktober 2006 – 9
A 2348/06.A - m.w.Nachw.
32
Auch die Ausnahmeregelung des § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG greift nicht ein. Von einem
Widerruf ist dann abzusehen, wenn sich aus dem konkreten Flüchtlingsschicksal
besondere Gründe ergeben, die eine Rückkehr unzumutbar erscheinen lassen. Der
Rückkehr in den Heimatstaat müssen (gegenwärtige) zwingende Gründe
entgegenstehen, die auf einer früheren Verfolgung beruhen,
33
vgl. BVerwG, Urteil vom 1. November 2005, a.a.O.; OVG NRW, Urteil vom 4. April
2006, a.a.O.
34
Derartige zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe, auf die der Kläger
sich berufen kann, um die Rückkehr in seinen Heimatstaat abzulehnen, hat der Kläger
nicht vorgetragen und sind auch nicht ersichtlich. Die vom Kläger vorgetragene
Integration in die Bundesrepublik Deutschland ist nicht unmittelbare und schon gar nicht
zwingende Folge einer möglichen früheren Verfolgung im Irak,
35
vgl. OVG NRW, Beschluss vom 2. Mai 2005 – 9 A 1410/05.A -.
36
Da der Widerruf in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zwingend vorgeschrieben ist, war das
Bundesamt nicht berechtigt, Ermessenserwägungen anzustellen, sodass ein
Ermessensfehlgebrauch nicht zu prüfen war. Zwar hat nach § 73 Abs. 2a AsylVfG, der
auf das hier erst im Jahr 2005 entschiedene Widerrufsverfahren Anwendung findet,
37
vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 14. April 2005 – 13 A 654/05.A – und vom 30. Mai
38
2005 – 9 A 1851/05.A -,
u.a. die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 S. 1
AsylVfG vorliegen, spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der
Entscheidung zu erfolgen und ist das Ergebnis der Ausländerbehörde mitzuteilen. Erst
wenn nach dieser Prüfung ein Widerruf nicht erfolgt ist, steht eine spätere Entscheidung
nach § 73 Abs. 1 AsylVfG im Ermessen des Bundesamtes (§ 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG).
Es handelt sich vorliegend jedoch nicht um eine "spätere" Entscheidung in diesem
Sinne. Das Bundesamt hat bei seiner Prüfung, ob eine Widerrufsentscheidung erlassen
wird, die mehr als drei Jahre nach Unanfechtbarkeit des Anerkennungsbescheides
erfolgt ist, gerade nicht von einem Widerruf abgesehen, sondern die angefochtene
Widerrufsentscheidung erlassen. Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut steht bei
diesem mehrstufigen Verfahren erst eine spätere Entscheidung des Bundesamtes, die
nach vorheriger Negativprüfung des Bundesamtes erfolgt ist, im Ermessen des
Bundesamtes, sodass es sich bei der Erstwiderrufsentscheidungsprüfung um eine
gebundene Entscheidung im Sinne des § 73 Abs. 1 AsylVfG handelt,
39
vgl. auch VG Düsseldorf, Urteil vom 23. Februar 2005 – 16 K 2191/04.A -.
40
Hieran vermag auch der Umstand, dass das Bundesamt erst nach Ablauf der Drei-
Jahres-Frist des § 73 Abs. 2a AsylVfG die Widerrufsprüfung vorgenommen hat, nichts zu
ändern. Die Vorschrift des § 73 Abs. 2a AsylVfG ist erst zum 1. Januar 2005 in Kraft
getreten, sodass sie zuvor vom Bundesamt nicht als geltendes Recht zu berücksichtigen
war. Eine Übergangsbestimmung, wonach die Dreijahresfrist rückwirkend auch für vor
dem 1. Januar 2005 länger als drei Jahre unanfechtbar als asylberechtigt anerkannte
Personen eingreifen sollte, enthalten weder §§ 87 Abs. 1, 87 b AsylVfG noch Art.
3,15 ZuwanderungsG. Auch für den mit § 73 Abs. 2a AsylVfG in Verbindung stehenden
§ 26 Abs. 3 AufenthG enthält § 102 Abs. 2 AufenthG bewusst keine eine Rückwirkung
anordnende Übergangsvorschrift. Nach § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG gilt zwar für eine
gerichtliche Entscheidung jeweils das zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung
geltende (neue) Recht. Dies besagt aber nicht, dass diesem bezüglich neu eingeführter
Fristenbestimmungen samt daran anknüpfender Pflichten eine Rückwirkung über den
Zeitpunkt ihres Inkrafttretens hinaus zuzumessen wäre. Die von diesen neuen
Fristenbestimmungen begründeten Rechte und Pflichten beginnen vielmehr auch
insoweit erst ab ihrem Inkrafttreten zu laufen und wirken für die Zukunft,
41
vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 1. November 2005, a.a.O.; OVG NRW, Urteil
vom 4. April 2006, a.a.O.; BayVGH, Beschluss vom 25. April 2005 – 21 ZB 05.30260 -;
VG Braunschweig, Urteil vom 17. Februar 2005 – 6 A 524/04 –.
42
2. Da der Kläger – wie bereits dargelegt – zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt bei
einer Rückkehr in den Irak weder durch den Staat oder staatsähnliche Stellen noch
durch nichtstaatliche Akteure mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
Verfolgungsmaßnahmen zu befürchten hat, hat er keinen Anspruch auf Feststellung,
dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.
43
3. Auch im Übrigen ist der angefochtene Bescheid rechtmäßig. Abschiebungsverbote
nach § 60 Abs. 2 7 AufenthG (früher: Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG)
liegen nicht zu Gunsten des Klägers vor.
44
Die Abschiebungsschutztatbestände des § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 5 AufenthG
45
erfordern jeweils eine konkret-individuell drohende Gefahr durch den Staat oder eine
staatsähnliche Organisation. Wie bereits oben dargelegt, ist nichts dafür ersichtlich,
dass dem Kläger entsprechende konkrete Gefahren mit der erforderlichen
Wahrscheinlichkeit drohen könnten.
Gründe für einen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG sind ebenfalls nicht
ersichtlich. Nach § 60 Abs. 7 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in
einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete
Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, und zwar unabhängig davon, ob diese vom
Staat ausgeht oder diesem zuzurechnen ist oder auf anderen Ursachen beruht. Für die
Annahme einer konkreten Gefahr genügt aber nicht die theoretische Möglichkeit, Opfer
von Eingriffen in die genannten Rechtsgüter zu werden. Vielmehr ist erforderlich, dass
eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und erhebliche Gefährdungssituation mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit besteht. Demgegenüber ist die
Berücksichtigung von Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe,
der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, allein einer generellen
Entscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorbehalten (§ 60 Abs. 7 Satz 2
AufenthG), und das grundsätzlich selbst dann, wenn eine solche Gefahr den Einzelnen
konkret und individualisierbar betrifft. Trotz bestehender erheblicher Gefahr ist danach
die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gesperrt, wenn dieselbe Gefahr
zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat droht. Abweichend von
diesem Grundsatz gebietet eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des
§ 60 Abs. 7 AufenthG im Einzelfall allerdings dann, wenn der Ausländer in seinem
Heimatstaat einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Falle
seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder
schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, die Gewährung von
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG,
46
vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324, vom
29. März 1996 9 C 116.95 , DVBl. 1996, 1257, vom 2. September 1997 9 C 40.96
und vom 8. Dezember 1998 9 C 4.98 , BVerwGE 108, 77 zu § 53 Abs. 6 AuslG.
47
Das gilt aber nur dann, wenn gleichwertiger Schutz vor Abschiebung nicht anderweitig
durch eine erfolgte Einzelfallregelung oder durch einen Erlass vermittelt wird,
48
vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 – 1 C 2.01 -, NVwZ 2001, 1420.
49
Letzteres, also eine Schutzgewährung auf der Grundlage eines Erlasses, greift
vorliegend ein. Der Erlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom
18. Dezember 2003 (Az. 14.44.382I 3) zur Verlängerung auslaufender Duldungen
vollziehbar ausreisepflichtiger Personen aus dem Irak um sechs Monate, der gemäß
dem Schreiben des Innenministeriums NRW an das OVG NRW vom 28. Januar 2004
(Az. 15.44.382I 3) auch auf Fälle des Erlöschens asylverfahrensrechtlicher
Aufenthaltsgestattungen erstreckt werden kann, beinhaltet angesichts des
angenommenen tatsächlichen Abschiebungshindernisses und des unter solchen
Voraussetzungen schon kraft Gesetzes (§ 60a Abs. 2 AufenthG) bestehenden
Anspruchs auf Aussetzung der Abschiebung unmissverständlich die rechtsverbindliche
Vermittlung von Schutz vor Abschiebung,
50
vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. April 2006, a.a.O. sowie Beschlüsse vom 13. Mai 2004 –
20 A 1206/02.A – und vom 29. Juni 2004 9 A 2389/02.A .
51
Hieran hat sich bislang nichts geändert, da der Erlass laut Schreiben des
Innenministeriums NRW vom 20. Dezember 2004 an das VG Münster
(Az. 1539.00.02I 3) weiterhin anzuwenden ist.
52
Es bedarf daher keines Eingehens auf gruppenspezifische Gründe für Besorgnisse und
auf die Frage, ob daran anknüpfend eine verfassungsrechtlich relevante Zuspitzung in
Rede stehen könnte. Maßgeblich kann allenfalls eine individuelle, in persönlichen
Eigenschaften und Verhältnissen angelegte Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit sein. In
dieser Hinsicht ist vom Kläger im Hinblick auf seine Person nichts Spezifisches und
Konkretes vorgetragen worden. Die offensichtlichen und schwerwiegenden Probleme
hinsichtlich der Sicherheit im Irak, die jeden im Irak lebenden Staatsbürger betreffen
können, sind als Gefahren allgemeiner Art einzuordnen. Gleiches gilt für die dort
bestehenden Versorgungsengpässe.
53
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
54