Urteil des VG Braunschweig vom 18.07.2013

VG Braunschweig: fahreignung, aufschiebende wirkung, vollziehung, leistungsfähigkeit, entziehung, überprüfung, entziehen, verordnung, empfehlung, medikament

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Zur Amtsermittlungspflicht bei negativem
Fahreignungsgutachten, aber gutachterlichem
Vorbehalt für Fahrverhaltensbeobachtung zur Klärung
der Kompensationsmöglichkeit
VG Osnabrück 6. Kammer, Beschluss vom 18.07.2013, 6 B 40/13
§ 46 Abs 1 FeV, § 2 Abs 7 S 1 StVG
Gründe
I.
Der Antragsteller wehrt sich gegen die unter Anordnung der sofortigen
Vollziehung erfolgte Entziehung seiner Fahrerlaubnis (Klasse C und E).
Der Antragsteller hat wegen eines chronischen Bandscheibenschadens nach
ärztlicher Verordnung das Medikament Sevredol eingenommen. Dieses ist ein
stark wirkendes Schmerzmittel aus der Gruppe der Opiate und enthält den
Wirkstoff Morphin.
Aus diesem Grund ordnete der Antragsgegner am 9.1.2013 die Vorlage eines
fachärztlichen Gutachtens durch den Antragsteller zu folgenden
Fragestellungen an:
„Liegt bei Ihnen eine Erkrankung nach Anlage 4 zur
Fahrerlaubnisverordnung vor, die die Fahreignung in Frage stellen
könnte?
Ist die psycho-physische Leistungsfähigkeit unter der gegebenen
Medikation noch ausreichend?“
Der Antragsteller erklärte sich mit der Begutachtung einverstanden. Mit
Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 5.4.2013 legte er dem Antragsgegner
ein auf einer Untersuchung am 4.3.2013 beruhendes Gutachten der Gutachterin
der F. in Münster vor. Zur speziellen Anamnese ist dem Gutachten zu
entnehmen:
Der Antragsteller „berichtete, dass er seit 2 Jahren die Sevredol- und
Tramadoltabletten wegen seiner heftigen Schmerzen einnehme. Eine
ärztliche Verordnung habe vorgelegen. Er habe das Medikament nach
ärztlicher Weisung eingenommen.
Auf dem Verordnungsplan … „vom 01.03.2013 steht, dass die
Sevredolgabe bei Bedarf erfolgen soll. Außerdem ist vermerkt: unter
Vorbehalt.“ Der Antragsteller „gab an, dass er auch das Tramadol nach
Bedarf einnehme.
Letztmalige Einnahme: tägliche Einnahme“
Ein am Untersuchungstag durchgeführtes Drogen-/Medikamentenscreening
ergab positive Ergebnisse für Opiate, Tramadol und Tilidin. Auf die
Ausführungen des Gutachters zur Befundbewertung (Punkt IV. des Gutachtens)
wird Bezug genommen. Abschließend beantwortet die Gutachterin die ihr
gestellten Fragen dahingehend, dass beim Antragsteller keine Erkrankung
vorliege, die die Fahreignung in Frage stellen könnte. Jedoch sei die psycho-
physische Leistungsfähigkeit unter der gegebenen Medikation (Sevredol und
Tramadol) zwar noch ausreichend für Gruppe I aber nicht ausreichend für
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Gruppe II.
Auf Nachfrage des Antragsgegners vom 9.4.2013 bestätigte die Gutachterin am
22.4.2013, dass der Antragsteller trotz der Medikamente, welche er unkontrolliert
einnehme, noch fähig sei, ein Kraftfahrzeug der Gruppe 1 zu führen. Bezüglich
des Leistungstests seien an die Gruppe 2 weitaus höhere Anforderungen zu
richten. Insoweit habe der Antragsteller die erforderlichen Testergebnisse nicht
vorweisen können, so dass hier von keiner ausreichenden Kompensation
auszugehen sei. In der Regel sei es möglich, durch eine psychologische
Fahrverhaltensbeobachtung Zweifel an der Fahreignung auszuräumen, indem
der Proband nachweise, dass er im Straßenverkehr über die notwendige
Leistungsausstattung zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen verfüge.
Aufgrund der in der Untersuchung festgestellten kritischen Einnahmesituation
der Medikamente sei auf diese Fahrverhaltensbeobachtung verzichtet worden,
um eine Änderung der Medikation empfehlen zu können. Eine Empfehlung für
eine opioidfreie Therapie habe auch deshalb erfolgen sollen, weil die Möglichkeit
bestehe, das sich beim Antragsteller eine Abhängigkeit entwickeln könne.
Mit Schreiben vom 24.4.2013 hörte der Antragsgegner den Antragsteller unter
Bezugnahme auf das Gutachten zur beabsichtigten Entziehung seiner
Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Klassen C1, C1E, C und CE an. Bedenken an
der Kraftfahreignung hätten nicht ausgeräumt werden können. Aufgrund der
nach wie vor bestehenden Bedenken sei er als ungeeignet zum Führen eines
Kraftfahrzeugs der o.g. Klassen zu bezeichnen.
Unter dem 7.5.2013 rügte der Antragsteller durch seine Bevollmächtigten die
Unverhältnismäßigkeit der Entziehung und erklärte, er habe die Einnahme der
Medikamente bereits deutlich reduziert. Die Anwendung von Schmerzpflastern
(Fentanylpflaster) habe er vollkommen eingestellt. Die Einnahme von
Schmerzmitteln in Tablettenform habe er innerhalb von zwei Wochen auf eine
Tablette täglich reduziert. Er strebe langfristig eine Schmerztherapie ohne
entsprechende Medikamente, die die psychophysische Leistungsfähigkeit
einschränkten, an. Insbesondere wolle er auf die Einnahme von Tramadol
verzichten. In diesem Zusammenhang habe er mit einem Schmerztherapeuten
für den 22.5.2013 einen Termin vereinbart. Er sei bereit, dem Antragsgegner
innerhalb der nächsten Wochen regelmäßig nachzuweisen, dass er die
Medikation durch Tramadol und Sevredol stark reduziert bzw. eingestellt habe.
Mit Bescheid vom 8.5.2013 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller
daraufhin unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Fahrerlaubnis der
Klassen C1, C1E, C und CE. Im Rahmen der Begründung übernimmt der
Antragsgegner Ausführungen des ihm vorgelegten Gutachtens der F.. Dabei
stellt er insbesondere auf die mit einer unkontrollierten Einnahme wie beim
Antragsteller mit schwankenden Medikamentenspiegeln verbundenen Risiken
ab und weist darauf hin, dass eine Medikamenteneinnahme nach festem
Zeitplan erforderlich sei, um einen gleichmäßigen Blutspiegel zu erhalten.
Der Antragsteller hat am 3.6.2013 Klage erhoben und die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes beantragt. Zur Begründung hebt er unter näherer
Darlegung im Einzelnen auf zwischenzeitliche Änderungen seiner Medikation
ab, weshalb die Aussagen des Gutachtens nicht unverändert Geltung
beanspruchen könnten. Insbesondere habe er in Zusammenarbeit mit seinem
Schmerztherapeuten die Einnahme von Sevredol vollständig abgebaut. Er sei
frei von Opiaten oder anderen Medikamenten, die die psychophysische
Leistungsfähigkeit einschränkten.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage wiederherzustellen.
Der Antragsgegner beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
Er hält an seinem Bescheid und den Aussagen des Gutachtens fest.
Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen
des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen
Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung einer
Klage anordnen oder wiederherstellen. Diese Entscheidung erfolgt aufgrund
einer Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen
Vollziehung einerseits und dem Interesse des Rechtsschutzsuchenden an der
vorläufigen Aussetzung des angefochtenen Verwaltungsakts andererseits. Im
Rahmen dieser Interessenabwägung sind die Erfolgsaussichten der Klage zu
berücksichtigen. Bei offensichtlicher Rechtmäßigkeit des angefochtenen
Verwaltungsakts überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse an der
sofortigen Vollziehung, während bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit
des Verwaltungsakts regelmäßig dem Aussetzungsinteresse des
Rechtsschutzsuchenden Vorrang einzuräumen ist. Unter Berücksichtigung
dieser Grundsätze überwiegt vorliegend das private Interesse des
Antragstellers, weil der angefochtene Bescheid aller Voraussicht nach
rechtswidrig ist.
Gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde einem Inhaber
einer Fahrerlaubnis, der sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen
erwiesen hat, die Fahrerlaubnis zu entziehen. Werden indes Tatsachen
bekannt, die Bedenken gegen seine Fahreignung begründen, finden die §§ 11
bis 14 FeV entsprechende Anwendung. Nach diesen Bestimmungen kann die
Fahrerlaubnisbehörde bei Vorliegen der dort näher geregelten Voraussetzungen
vom Fahrerlaubnisinhaber die Beibringung eines zur Aufklärung seiner
Fahreignung einschlägigen Gutachtens verlangen. Mit der Anordnung über die
Gutachtenvorlage kommt die Fahrerlaubnisbehörde ihrer Pflicht zur
Amtsermittlung (§ 2 Abs. 7 S. 1 StVG) nach. Der Fahrerlaubnisbewerber genügt
seiner Mitwirkungspflicht, indem er den Auftrag zur Erstellung des von der
Fahrerlaubnisbehörde bestimmten Gutachtens erteilt (zivilrechtlicher
Werkvertrag, so Hentschel-Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. A., § 11 FeV Rn.
20) und die Behörde hierüber unterrichtet (§ 11 Abs. 6 S. 3 und 5 FeV). Legt der
Fahrerlaubnisbewerber das Gutachten der Behörde nicht (fristgerecht) vor, so
darf diese auf dessen Nichteignung schließen (§ 11 Abs. 8 S. 1 FeV). Ein ihr
vorgelegtes Gutachten berücksichtigt die Fahrerlaubnisbehörde zur
Überprüfung der Fahreignung des Fahrerlaubnisinhabers. Das Gutachten ist
von ihr zu würdigen und fließt je nach seiner Aussage- und Überzeugungskraft
in ihre Entscheidungsfindung ein. Verneint das Gutachten die Fahreignung, so
wird die Fahrerlaubnisbehörde dem Fahrerlaubnisinhaber regelmäßig die
Fahrerlaubnis entziehen müssen. Bestätigt das Gutachten seine Fahreignung,
so hat es damit regelmäßig sein Bewenden. Kommt indes das Gutachten
insofern zu einem - teilweise - offenen Ergebnis, als es eine weitere, vom
Gutachter selbst nicht durchzuführende Überprüfung der Fahreignung durch
eine andere, insoweit fachlich qualifizierte Stelle für erforderlich hält, so gebietet
die Amtsermittlungspflicht der Fahrerlaubnisbehörde, dem regemäßig weiter
nachzugehen. Erfordert diese weitere Sachaufklärung sodann eine weitere
Gutachtenerteilung seitens des Fahrerlaubnisinhabers oder seine anderweitige
Mitwirkung, so hat dieser im Rahmen des rechtlich gebotenen den
Aufklärungsanordnungen der Fahrerlaubnisbehörde nachzukommen.
Im vorliegenden Verfahren hat der Antragsteller dem Antragsgegner ein
Gutachten der F. vorgelegt, in dem die Gutachterin die Fahreignung des
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Antragstellers (nur) für Fahrzeuge der Gruppe 2 verneint. Auf die wohl auf die
Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 zielende Nachfrage des
Antragsgegners vom 9.4.2013 relativierte die Gutachterin ihr Gutachten mit
Schreiben vom 22.4.2013 jedoch in entscheidender Weise. Sie hielt zwar daran
fest, dass aufgrund der von ihr beim Antragsteller gewonnenen Testergebnisse
nicht von einer auch für Fahrzeuge der Gruppe 2 ausreichenden Kompensation
auszugehen sei. Sie erklärte jedoch zugleich, dass es in der Regel möglich sei,
durch eine psychologische Fahrverhaltensbeobachtung Zweifel an der
Fahreignung auszuräumen, indem der Proband nachweise, dass er im
Straßenverkehr über die notwendige Leistungsausstattung zum sicheren
Führen von Kraftfahrzeugen verfüge. Damit stellt die Gutachterin klar, dass die
Frage der Kompensationsfähigkeit des Antragstellers von ihr nicht abschließend
geklärt worden ist, vielmehr diese Frage sich insoweit als offen darstellt und -
erst - durch eine “psychologische Fahrverhaltensbeobachtung“ abschließend
geklärt werden kann. Der von der Gutachterin für den Verzicht auf die
Empfehlung einer solchen Fahrverhaltensbeobachtung angeführte Grund, dem
Antragsteller auf diese Weise - nach ihrer Einschätzung wohl
erfolgsversprechender - eine Änderung seiner „kritischen Einnahmesituation der
Medikamente … empfehlen zu können“, mag aus medizinischer Sicht sinnvoll
erschienen, erweist sich im vorliegenden Zusammenhang einer Überprüfung der
aktuellen Fahreignung jedoch als sachwidrig. Dies zu erkennen und die
Fahreignung des Antragstellers als weiterhin aufklärungsbedürftig zu erachten,
oblag dem Antragsgegner. Dieser war im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht
nach Lage der Dinge gehalten, in Ergänzung des vorliegenden Gutachtens eine
„psychologische Fahrverhaltensbeobachtung“ anzuordnen. Indes konnte er eine
Entziehung der Fahrerlaubnis nicht - so wie mit dem angefochtenen Bescheid
erfolgt - allein auf die im Gutachten selbst formulierte Verneinung der
Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 2 stützen, ohne sich mit der
relativierenden Aussage der Gutachterin auseinander zu setzen. Auch der
Bescheid lässt nicht erkennen, dass der Antragsgegner entgegen der
Auffassung der Gutachterin die von dieser als zur weiteren Sachaufklärung
geeignet angesehene psychologische Fahrverhaltensbeobachtung aus -
abweichenden - sachlich-fachlichen Gründen als zur weiteren Sachaufklärung
nicht geeignet ansehen hätte wollen und dürfen.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass maßgeblich für die Beurteilung der
Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids die Sach- und Rechtslage bei
Abschluss des Verwaltungsverfahrens ist, vorliegend mithin im Zeitpunkt des
Ergehens der angefochtenen Entscheidung (Hentschel u.a.,
Straßenverkehrsrecht, 40. Auflage, § 3 StVG Rn. 4 m. w. Nachw.). Deshalb ist
es für die Entscheidung im vorliegenden Rechtsstreit ohne Belang, ob der
Antragsteller seine Medikation nach Erlass des Entziehungsbescheids
umgestellt hat und wie die neue Sachlage hinsichtlich der Fahreignung zu
bewerten ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG.