Urteil des VG Aachen vom 11.05.2004

VG Aachen: stationäre behandlung, jugendhilfe, hauptsache, kenntnisnahme, sozialhilfe, notlage, unterbringung, zusammenarbeit, ermessen, leistungsausschluss

Verwaltungsgericht Aachen, 2 K 3204/99
Datum:
11.05.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 K 3204/99
Tenor:
Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger und die Beklagte es in
der Hauptsache für erledigt erklärt haben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten
nicht erhoben werden, zu 58%, der Kläger zu 42 %.
Tatbestand:
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Der Kläger begehrt von der Beklagten die Erstattung der von ihm im Hilfefall des am 24.
August 1976 geborenen T. L. (im Folgenden: Hilfeempfängers) im Zeitraum vom 13.
September 1995 bis zum 31. März 1996 aufgewendeten Kosten gemäß §§ 102, 105 des
Sozialgesetzbuches, Zehntes Buch (SGB X).
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Der Hilfeempfänger wuchs vom Kleinkindalter an im Rahmen der Jugendhilfe in
Kinderheimen auf; er befand sich mehrfach in stationärer psychiatrischer Behandlung.
So wurde er auch nach einem Aufenthalt bei seinem Vater und Bruder in E. am 13.
September 1995 in das B.-Krankenhaus für Psychiatrie und Neurologie in O.
aufgenommen. Am 21. September 1995 stellte das B.- Krankenhaus bei der Beklagten
einen Antrag auf Kostenzusicherung für eine sonstige stationäre Behandlung. Am 27.
September 1995 stellte der Hilfeempfänger über das Sozialamt des Landrates des
Kreises E. bei dem Kläger einen Antrag auf Eingliederungshilfe, dem eine ärztliche
Stellungnahme vom 19. September 1995 beigefügt war, wonach der Hilfeempfänger
psychisch krank sei. Der Kläger bewilligte ab dem 13. September 1995
Eingliederungshilfe in Form der Gewährung eines monatlichen Barbetrages. Die
Krankenhausaufenthaltskosten trug die Krankenkasse. In einer ärztlichen
Stellungnahme des B.-Krankenhauses vom 5. Januar 1996 wurde ausgeführt, dass bei
dem Hilfeempfänger Anpassungsstörungen mit vorwiegend emotionaler Symptomatik
und verhaltensbezogene Beeinträchtigungen vorlägen.
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Mit Schreiben vom 9. Februar 1996 bat der Kläger die Beklagte um Übernahme des
Hilfefalles unter Hinweis auf den zum 1. Januar 1995 erfolgten gesetzlichen
Zuständigkeitswechsel. Da noch Prüfungen notwendig seien, ersuchte die Beklagte den
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Kläger mit Schreiben vom 27. Februar 1996 um vorläufige weitere Zahlung des
Barbetrages. Der Kläger erteilte daraufhin dem Krankenhaus eine befristete
Zahlungsmitteilung, meldete bei der Beklagten mit Schreiben vom 12. März 1996 einen
Erstattungsanspruch seit dem 13. September 1995 an und bezifferte diesen in der Folge
für die Zeit vom 13. September 1995 bis zum 31. März 1996 auf 387,80 EUR (758,48
DM). Die Beklagte gewährte dem Hilfeempfänger aufgrund einer entsprechenden
amtsärztlichen Stellungnahme vom 21. März 1996 mit Bescheid vom 2. April 1996
Eingliederungshilfe gemäß § 35 a des Sozialgesetzbuches, Achtes Buch (Kinder- und
Jugendhilfe, SGB VIII) ab dem 1. April 1996. Unter dem 6. September 1999 lehnte sie
gegenüber dem Kläger eine Kostenerstattungsverpflichtung für die Zeit vom 13.
September 1995 bis zum 31. März 1996 wegen fehlender pädagogischer Notwendigkeit
ab.
Der Kläger hat am 30. Dezember 1999 Klage erhoben. Zur Begründung führt er aus, er
habe gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung der Kosten im vorliegenden
Hilfefall für die Zeit vom 13. September 1995 bis zum 31. Januar 1996 gemäß § 105
SGB X, für die Zeit vom 1. Februar bis zum 31. März 1996 gemäß § 102 SGB X. Der
Hilfeempfänger sei seelisch krank und gehöre daher zum Personenkreis, dem gemäß
§§ 41, 35 a SGB VIII durch die Beklagte Eingliederungshilfe zu gewähren sein. Der
Vorrang der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe gegenüber der
sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe ergebe sich aus § 10 Abs. 2 SGB VIII.
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Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend in Höhe des Betrages von
223,46 EUR in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, beantragt der Kläger nunmehr
schriftsätzlich sinngemäß noch,
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die Beklagte zu verurteilen, an ihn die im Hilfefall des Selim Kabil in der Zeit vom 13.
September 1995 bis zum 31. März 1996 entstandenen Aufwendungen für das B.-
Krankenhaus O. in Höhe von 164,34 EUR (321,42 DM) zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
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die Klage abzuweisen.
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Sie trägt vor, dass es sich bei dem B.-Krankenhaus bereits nicht um eine Einrichtung
nach dem SGB VIII handele und eine pädagogische Notwendigkeit zur Hilfegewährung
nicht gesehen werde. Der Hilfeempfänger sei psychisch krank, nicht jedoch im Sinne
von § 41 SGB VIII seelisch behindert.
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Unter dem 16. Juni 2003 hat das Gericht dem Kläger und der Beklagten einen Vergleich
vorgeschlagen, der eine Zahlungsverpflichtung der Beklagten an den Kläger in Höhe
von 223,46 EUR (= 437,04 DM) vorsah. Die Vergleichssumme berechnet sich aus der
Erstattung der Aufwendungen für die Monate Februar und März 1996 sowie der -
aufgrund der rechtlichen Problematik der rechtzeitigen Kenntnis der Beklagten gemäß §
105 SGB X - hälftigen Erstattung der Aufwendungen für die Zeit vom 13. September
1995 bis zum 31. Januar 1996. Diesen Vorschlag hat die Beklagte am 14. Juli 2003
abgelehnt und gleichzeitig auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung
verzichtet. Gleiches hat der Kläger unter dem 14. August 2003 getan. Am 16. August
2003 hat die Beklagte mitgeteilt, dass sie dem Kläger die Summe von 223,46 EUR
aufgrund des gerichtlichen Vergleichsvorschlages zahlen werde. Sie hat das Urteil des
Verwaltungsgerichts Köln vom 31. Juli 2003 - 26 K 10656/00 - beigefügt, mit dem ihre
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Klage gegen den hiesigen Kläger auf Erstattung der für den Hilfeempfänger
aufgewendeten Kosten im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 39 BSHG wegen
ihrer (vorrangigen) jugendhilferechtlichen Zuständigkeit nach §§ 41, 35 a SGB VIII
abgewiesen worden war. Am 22. August 2003 hat sie mitgeteilt, dass sie dem Kläger
223,46 EUR ausgezahlt habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der von den Beteiligten beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Aufgrund entsprechenden Einverständnisses konnte die Kammer ohne Durchführung
einer mündlichen Verhandlung entscheiden, § 101 Abs. 2 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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Das Verfahren war in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen,
soweit der Kläger und die Beklagte es in der Hauptsache für erledigt erklärt haben.
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Im Übrigen ist die Klage unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen
Anspruch auf weitere Erstattung der im Hilfefall des Hilfeempfängers in der Zeit vom 13.
September 1995 bis zum 31. März 1996 durch die Unterbringung im B.- Krankenhaus O.
entstandenen Kosten in Höhe von 164,34 EUR gemäß § 105 SGB X. Dabei bezieht sich
die Summe von 164,34 EUR ausweislich der Berechnungen des Gerichts in dem am 16.
Juni 2003 unterbreiteten Vergleichsvorschlag auf die Hälfte der für den Hilfeempfänger
im B.-Krankenhaus aufgewendeten Kosten abzüglich der Einnahmen für die Zeit vom
13. September 1995 bis zum 31. Januar 1996.
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Nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist der zuständige oder zuständig gewesene
Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein unzuständiger Leistungsträger
Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 102 Abs. 1
vorliegen, soweit der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger nicht bereits
selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis
erlangt hat. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Falle erfüllt.
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Der Kläger hat als unzuständiger Leistungsträger an den Hilfeempfänger in der
genannten Zeit Leistungen der Eingliederungshilfe erbracht, ohne dass er vorläufig im
Sinne von § 102 Abs. 1 SGB X gehandelt hat. Die Beklagte war auch für die
Leistungsgewährung an den Hilfeempfänger zuständig, weil diesem Leistungen der
Eingliederungshilfe gemäß §§ 41, 35 a SGB VIII, für die die örtlichen Jugendhilfeträger
zuständig sind, zu gewähren waren. Hiervon geht mittlerweile auch die Beklagte selbst
aus. Im Übrigen wird auf das im Verfahren umgekehrten Rubrums ergangene Urteil des
Verwaltungsgerichts Köln vom 31. Juli 2003 - 26 K 10656/00 - verwiesen, dessen
Begründung sich das erkennende Gericht zur Frage der Einschlägigkeit der
Eingliederungshilfe im Sinne von §§ 41, 35 a SGB VIII im Falle des Hilfeempfängers
anschließt.
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Der Erstattungsanspruch des Klägers scheitert jedoch an § 105 Abs. 3 SGB X. Nach
dieser Vorschrift gelten die Absätze 1 und 2 des § 105 SGB X unter anderem gegenüber
den Trägern der Jugendhilfe nur von dem Zeitpunkt ab, von dem ihnen bekannt war,
dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorlagen.
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Diese Kenntnis der Beklagten war im vorliegenden Fall jedoch erst mit dem Schreiben
des Klägers an sie vom 9. Februar 1996, in dem um Übernahme des Hilfefalles gebeten
wurde, gegeben.
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Dass dem Sozialamt der Beklagten bereits am 21. September 1995 die Notlage des
Hilfeempfängers aufgrund eines entsprechenden Antrages auf Gewährung des
Barbetrages bekannt war, kann der Beklagten als Jugendhilfeträger nach Auffassung
des Gerichts nicht zugerechnet werden.
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Dem Sozialleistungsträger ist im Sinne des § 105 Abs. 3 SGB X bekannt, dass die
Voraussetzungen seiner Leistungspflicht vorliegen, wenn er weiß, dass deren
tatsächliche Voraussetzungen, insbesondere die Hilfebedürftigkeit gegeben sind. Es
kommt danach also auf den Zeitpunkt des Bekanntwerdens des Bedarfes an, wobei im
Hinblick auf die im vorliegenden Rahmen ebenfalls zu berücksichtigende Bestimmung
des § 5 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) auch die zumindest behauptete oder
anzunehmenden Hilfebedürftigkeit fällt.
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Vgl. hierzu: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 30. März 2000 - 12 A
12373/99 -, Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch (ZfSH/SGB) 2000, 552.
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In der Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob § 105 Abs. 3 SGB X die
tatsächliche Kenntnisnahme des zuständigen Jugendhilfesachbearbeits erfordert,
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vgl. so Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 19. Dezember 1984 - Gr. Sen. 1,2.84
-, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl) 1985, 522, zu § 48 VwVfG; Roos in: von Wulffen,
SGB X, Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz, Kommentar, 4. Auflage
2001, §§ 105, Rdn. 13, 103 Rdn. 24,
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oder aber die Kenntnis anderer Dienststellen des Sozialleistungsträgers ausreichend
ist,
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vgl. so Hauck in: Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch, SGB X 3, Stand: März 2003, § 103
Rdn. 24; Schellhorn in : von Maydell/Schellhorn, Gemeinschaftskommentar zum
Sozialgesetzbuch - Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu
Dritten, 1984, § 103 Rdn. 33.
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Das Gericht folgt der ersten Auffassung und hält die positive Kenntnis des Jugendamtes
der Beklagten von dem (möglichen) Hilfebedarf für maßgeblich. Abgesehen davon, dass
der Gesetzgeber, wenn er denn auch die Kenntnis anderer Dienststellen für
ausreichend erachtet hätte, unschwer auf das "Kennenmüssen" hätte abstellen können,
entspricht diese (enge) Auslegung dem gesetzgeberischen Zweck, den
Sozialleistungsträger möglichst weitgehend von nachträglichen Leistungspflichten
freizustellen.
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vgl. Roos in : v. Wulffen, SGB X, § 103 Rdn. 22.
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Darüber hinaus ist zu bedenken, dass dem Jugendhilfeträger nach Kenntnis eines
möglichen Hilfebedarfes besondere Verpflichtungen (Vorbereitung eines
Hilfeplanverfahrens etc.) obliegen, die von einer anderen Dienststelle weder
eingeschätzt noch ersetzt werden können.
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Hinzu kommt im vorliegenden Verfahren, dass es dem Kläger unschwer möglich
gewesen wäre, den Erstattungsausschluss des § 105 Abs. 3 SGB X zu umgehen. Ihm
musste mit Leistungsbeginn im September 1995 bekannt gewesen sein, dass seine
Zuständigkeit aufgrund des Erkrankungsbildes des Hilfeempfängers (zumindest) sehr
zweifelhaft ist. Es hätte daher nichts näher gelegen, als die Beklagte unmittelbar von
dem gegen ihn geltend gemachten Bedarf zu unterrichten und nur vorläufig die Leistung
gemäß § 43 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches, Erstes Buch (SGB I) zu erbringen, um
damit einen Erstattungsanspruch gemäß § 102 SGB X geltend machen zu können, der
keinen dem § 105 Abs. 3 SGB X entsprechenden Leistungsausschluss enthält.
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Dementsprechend war eine weitere Kostenerstattung gegenüber der Beklagten gemäß
§ 105 Abs. 3 SGB X ausgeschlossen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 2, 188 Satz 2, 194 Abs. 5
VwGO. Es entspricht billigem Ermessen, der Beklagten die Kosten aufzuerlegen, soweit
sie die Klageforderung erfüllt hat. Damit hat sie dem Rechtsstreit insoweit den Boden
entzogen.
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