Urteil des VG Aachen vom 16.03.2007
VG Aachen: gefahr, polizei, öffentliches interesse, betroffene person, wohnung, auflage, ersatzvornahme, verwaltungsakt, wahrscheinlichkeit, leib
Verwaltungsgericht Aachen, 6 K 2089/05
Datum:
16.03.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 K 2089/05
Tenor:
Der Leistungsbescheid des Beklagten vom 28. Januar 2003 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung Köln vom 9.
September 2005 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte
darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
Vollstreckungsbetrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
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Ausweislich des Einsatzberichts des Beklagten erschien der geschiedene Ehemann der
Klägerin am 15. Dezember 2002 gegen 13.05 Uhr bei der Polizeiinspektion 1 und gab
dort an, er lebe mit der Klägerin in Scheidung. Man habe drei gemeinsame Kinder. Er
habe das Recht, die Kinder an jedem zweiten Samstag zu besuchen. Da eines der
Kinder an diesem Samstag bei der Mutter habe Geburtstag feiern wollen, habe man sich
geeinigt, das Besuchsrecht auf Sonntag zu verschieben. Nach seinen, des Ehemannes
der Klägerin Angaben, habe der geplante Geburtstag am gestrigen Tag jedoch aus
unerklärlichen Gründen nicht stattgefunden. Das Sorgerechtsverfahren stehe kurz vor
dem Abschluss. Wahrscheinlich würden die Kinder ihm zugesprochen. Die Klägerin
habe vor einem Zeugen - einem Nachbarn - geäußert, sich selbst und ihre Kinder im
Falle, dass diese ihr weggenommen würden, zu töten. An der Wohnanschrift der
Klägerin habe - nach Beginn des Einsatzes um 13.10 Uhr - niemand geöffnet. Eine
Rücksprache der Beamten des Beklagten mit dem vorerwähnten Zeugen habe ergeben,
dass dieser die Klägerin und die Kinder seit Freitag nicht mehr gesehen habe. Weiterhin
hätten die Beamten des Beklagten telefonisch Kontakt mit dem Bruder und mit der
Mutter der Klägerin aufgenommen. Beiden hätten keine Angaben zum Aufenthaltsort der
Klägerin machen können oder wollen. Die Mutter habe angegeben, die Klägerin zuletzt
am Freitag gesehen zu haben. Daraufhin hätten die Beamten des Beklagten einen
Schlüsseldienst bestellt, um die Wohnungstür zu öffnen. Eine Nachschau in der
Wohnung habe ergeben, dass die Klägerin sich nicht mit ihren Kindern in der Wohnung
aufhalte.
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Die Klägerin hatte sich am 14. Dezember 2002 beim Einwohnermeldeamt des
Oberbürgermeisters der Stadt B. abgemeldet.
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Der beauftragte Schlüsseldienst stellte dem Beklagten für sein Tätigwerden 158,22
EUR in Rechnung.
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Mit Leistungsbescheid vom 28. Januar 2003 forderte der Beklagte die Klägerin nach
Anhörung zur Erstattung der durch die Beauftragung des Schlüsseldienstes
entstandenen Kosten in Höhe von 158,21 EUR auf. Zur Begründung führte er aus, es
habe die Gefahr bestanden, dass die Klägerin sich und ihre Kinder töten würde,
nachdem sie diese Absicht einem Mitbewohner ihres Hauses gegenüber für den Fall
geäußert habe, dass die Kinder ihr nach Abschluss des Scheidungsverfahren
weggenommen würden. Aus diesem Grund habe der Schlüsseldienst mit dem Öffnen
der Tür beauftragt werden müssen. Die entstandenen Kosten seien von der Klägerin als
Verantwortlicher zu erstatten.
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Der Leistungsbescheid wurde der mittlerweile nach C. verzogenen Klägerin am 11.
März 2004 bekannt.
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Am 22. März 2004 erhob sie Widerspruch. Sie sei nicht die Verursacherin der
Wohnungsöffnung. Sie sei bereits seit dem Jahre 2001 von ihrem Ehemann
geschieden. Während des Bestehens der Ehe und in der Folgezeit sei sie immer wieder
durch ihren Ehemann bedroht worden. Dieser sei auch wiederholt gewalttätig
geworden, weshalb sie ihre damalige Wohnung am 14. Dezember 2002 gemeinsam mit
ihren Kindern verlassen habe, um in einem Frauenhaus in N. Zuflucht zu finden. Sie
habe zuvor auch nicht geäußert, sich umbringen zu wollen, sofern ihr die Kinder
weggenommen würden. Allen Beteiligten sei klar gewesen, dass der Lebensmittelpunkt
der Kinder bei ihrer Mutter und nicht bei ihrem Vater gewesen sei. Dies habe auch dem
Kindsvater bewusst gewesen sein müssen. Er habe daher wahrheitswidrig eine
Gefahrensituation geschildert, die die Polizei zum Herbeirufen des Schlüsseldienstes
veranlasst habe. Verursacher der entstandenen Kosten sei damit nicht die Klägerin,
sondern ihr geschiedener Ehemann. Im Übrigen habe der genannte Zeuge den
Polizeibeamten gegenüber lediglich angegeben, die Klägerin seit Freitag nicht gesehen
zu haben. Lediglich der geschiedene Ehemann der Klägerin habe angegeben, die
Klägerin habe dem Zeugen gegenüber geäußert, sich und die Kinder töten zu wollen.
Die Kosten des Schlüsseldienstes seien somit bei dem geschiedenen Ehemann der
Klägerin einzutreiben.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 9. September 2005 wies die C1. L. den Widerspruch
zurück. Namentlich greife das Argument der Klägerin in Bezug auf die
Kostenerstattungspflicht ihres geschiedenen Ehemannes nicht durch. Die polizeilichen
Maßnahmen seien weit überwiegend zugunsten der Klägerin und ihrer Kinder getroffen
worden. Dass der Beklagte erst später von der Ummeldung erfahren habe, sei nicht von
ausschlaggebender Bedeutung.
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Der Klägerin hat am 26. September 2005 Klage erhoben.
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Zur Begründung trägt sie ergänzend vor, der Beklagte habe aus vielfachen Einsätzen
wissen müssen, dass sie von ihrem geschiedenen Ehemann bedroht worden sei. Die
Körperverletzungen durch den geschiedenen Ehemann seien auch Gegenstand
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staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren gewesen. Dem polizeilichen Einsatz vom
15. Dezember 2002 sei vorausgegangen, dass der geschiedene Ehemann sie am 27.
November 2002 in ihrer Wohnung aufgesucht und sie dort besinnungslos geschlagen
habe. Auch dieser Vorfall sei dem Beklagten bekannt gewesen. Vor diesem Hintergrund
habe es keinen Anlass gegeben, den Angaben ihres geschiedenen Ehemannes
Bedeutung beizumessen. Es habe die Möglichkeit bestanden, sich bei Verwandten
nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen. Ihr geschiedener Ehemann habe bewusst
wahrheitswidrige Angaben gemacht, um ihren Aufenthaltsort mit Hilfe des Beklagten
ausfindig zu machen.
Die Klägerin beantragt,
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den Leistungsbescheid des Beklagten vom 28. Januar 2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids der C1. L. vom 9. September 2005 aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er verteidigt den angefochtenen Bescheid.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und den von dem Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgang Bezug
genommen. Bezug genommen wird darüber hinaus auf die Strafakte der
Staatsanwaltschaft B. - 0000000 - dem Gericht vorgelegen hat.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
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Gemäß § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) konnte trotz des
Nichterscheinens der Klägerin verhandelt und entschieden werden, da sie mit der
Ladung darauf hingewiesen wurde.
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Der Leistungsbescheid des Beklagten vom 28. Januar 2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids der C1. L. vom 9. September 2005 ist rechtswidrig und verletzt
die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Der Beklagte hat die Klägerin zu Unrecht zur Erstattung der durch die Beauftragung des
Schlüsseldienstes mit der Türöffnung entstandenen Kosten herangezogen.
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Ermächtigungsgrundlage für den Erlass des Leistungsbescheids ist § 52 Abs. 1 Satz 2
des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (PolG NRW) i.V.m. § 77 Abs. 1
Satz 1 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes für das Land Nordrhein- Westfalen
(VwVG NRW), § 11 Abs. 2 Satz 2 Nr. 7 der Kostenordnung zum
Verwaltungsvollstreckungsgesetz (KostO NRW).
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Gemäß dem durch § 52 Abs. 1 Satz 2 PolG NRW für anwendbar erklärten § 77 Abs. 1
Satz 1 VwVG NRW werden für Amtshandlungen nach diesem Gesetz nach näherer
Bestimmung einer Kostenordnung von dem Vollstreckungsschuldner oder dem
Pflichtigen Kosten (Gebühren und Auslagen) erhoben. § 11 Abs. 2 Satz 2 Nr. 7 KostO
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NRW sieht vor, dass zu den Auslagen insbesondere die Beträge gehören, die bei der
Ersatzvornahme an Beauftragte und an Hilfspersonen zu zahlen sind.
Die Voraussetzungen für eine Kostenanforderung sind zwar insoweit gegeben, als die
im Sofortvollzug durchgeführte Ersatzvornahme rechtmäßig war. Die Klägerin trifft
jedoch gleichwohl keine Kostenerstattungspflicht.
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Die vom Beklagten am 15. Dezember 2002 im Wege des sofortigen Vollzuges mit der
Beauftragung des Schlüsseldienstes mit dem Öffnen und Wiederverschließen einer
Wohnungstür und mit der Durchführung dieser Arbeiten durchgeführte Ersatzvornahme
i.S.v. § 52 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW,
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vgl. dazu Verwaltungsgericht Köln, Urteil vom 13. März 2003 - 20 K 3208/01 -, juris,
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war rechtmäßig.
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Gemäß § 50 Abs. 2 PolG NRW kann der Verwaltungszwang ohne vorausgehenden
Verwaltungsakt angewendet werden, wenn das zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr
notwendig ist, insbesondere weil Maßnahmen gegen Personen nach den §§ 4 bis 6
PolG NRW nicht oder nicht rechtzeitig möglich sind oder keinen Erfolg versprechen, und
die Polizei hierbei innerhalb ihrer Befugnisse handelt.
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Der Beklagte handelte bei seinem Vorgehen am 15. Dezember 2002 innerhalb seiner
Befugnisse.
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Die Polizei handelt beim Sofortvollzug innerhalb ihrer Befugnisse, wenn sie berechtigt
wäre, gegenüber dem Betroffenen einen Verwaltungsakt mit dem Inhalt zu erlassen, den
sie im Rahmen des Sofortvollzugs vollstreckt. Das, was die Polizei mit Zwang und ohne
vorausgehenden Verwaltungsakt durchsetzt, müsste sie vom Betroffenen auch durch
einfachen Verwaltungsakt verlangen dürfen (Rechtmäßigkeit einer hypothetischen
Grundverfügung).
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Dies ist hier der Fall. Der Beklagte hätte gegenüber der Klägerin anordnen dürfen, dass
sie das Öffnen und das Betreten ihrer Wohnung duldet.
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Vgl. insoweit auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Auflage 2003, Rn. 152.
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Eine solche Anordnung hätte in § 41 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 PolG NRW ihre Grundlage
gefunden.
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Nach dieser Vorschrift kann die Polizei eine Wohnung ohne Einwilligung des Inhabers
betreten, wenn das zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder
Freiheit einer Person oder für Sachen von bedeutendem Wert erforderlich ist.
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Die handelnden Polizeibeamten durften am 15. Dezember 2002 davon ausgehen, dass
eine gegenwärtige Gefahr gegeben ist.
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Unter Gefahr ist eine Sachlage zu verstehen, die im Einzelfall tatsächlich oder jedenfalls
aus der (ex-ante-)Sicht des für die Polizei handelnden Amtswalters bei verständiger
Würdigung der Sachlage in naher Zukunft die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines
Schadenseintritts in sich birgt.
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Vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Auflage 2003, Rn. 69.
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Bei dem von der Polizei zu fällenden prognostischen Urteil ist von wesentlicher
Bedeutung, welchem Rechtsgut ein Schaden droht. Je höherrangiger ein Rechtsgut ist
und je größer der ihm drohende Schaden, um so geringere Anforderungen sind an die
Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts zu stellen.
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Vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Auflage 2003, Rn. 77 m.w.N.
39
Eine "echte Gefahr" im vorgenannten Sinne liegt auch dann vor, wenn, obwohl aus der
Sicht ex ante bei verständiger Würdigung des Sachverhaltes von einer Gefahr
auszugehen war, ein Schaden nicht gedroht hat (s. g. Anscheinsgefahr).
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Vgl. etwa Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein- Westfalen (OVG NRW), Urteil
vom 16. März 1993 - 5 A 496/92 -, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1993, 358 und
juris; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Auflage 2003, Rn. 80 f.
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Gemessen an diesen Maßstäben war die Annahme einer Gefahr durch die Beamten des
Beklagten bei ihrem Einsatz am 15. Dezember 2002 gerechtfertigt.
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Aufgrund der ihnen ausweislich des Einsatzberichts vorliegenden Informationen
bestand aus der Sicht ex ante eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die
Klägerin sich und ihre drei Kinder töten würde. Der geschiedene Ehemann der Klägerin
hat dem Beklagten konkret geschildert, dass ein geplanter Kindergeburtstag am Vortag
aus unerklärlichen Gründen nicht stattgefunden habe und dass ein Zeuge erklärt habe,
die Klägerin habe geäußert, sie werde sich und ihre Kinder umbringen, sollten diese ihr
nach dem Abschluss des laufenden Sorgerechtsverfahrens weggenommen werden,
was er, der geschiedene Ehemann der Klägerin, erwarte. Beim Eintreffen der Beamten
am Wohnhaus der Klägerin wurde die Wohnungstür nicht geöffnet und auch die
kontaktierten Verwandten der Klägerin gaben keine Auskunft hinsichtlich ihres
Aufenthaltsortes. Vielmehr gab die Mutter der Klägerin an, sie habe diese seit Freitag
nicht gesehen. Bei dieser Sachlage lagen bei verständiger Würdigung hinreichend
konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass bei ungehinderten Fortgang des Geschehens
ein Schaden für Leib oder Leben der Klägerin und ihrer Kinder eintreten könnte.
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Mit Blick auf die in Rede stehenden hochrangigen Rechtsgüter waren nur geringe
Anforderungen an die Wahrscheinlichkeitsprognose zu stellen. Auch wenn der
geschiedene Ehemann der Klägerin diese in der Vergangenheit misshandelt haben
sollte, musste dies aus der Sicht der handelnden Beamten - denen diese Vorfälle im
Übrigen im Einsatzzeitpunkt ebenso unbekannt gewesen sein dürften wie der Stand des
Sorgerechtsverfahrens - nicht ausschließen, dass eine Gefahrenlage bestand.
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Dass sich im nachhinein herausstellte, dass die Klägerin und ihre Kinder die Wohnung
nach am 14. Dezember 2002 erfolgter Abmeldung bereits verlassen hatten und die aus
der Sicht ex ante angenommene Gefahrenlage tatsächlich nicht bestanden hatte, ändert
nach dem oben Gesagten daran nichts, weil auch die s. g. Anscheinsgefahr eine Gefahr
im polizeirechtlichen Sinne darstellt.
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Die Annahme einer Gefahr war im Übrigen auch hinsichtlich einer drohenden
Selbsttötung der Klägerin gerechtfertigt. Denn ein öffentliches Interesse am Schutz von
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Individualrechtsgütern ist bei drohendem Selbstmord stets zu bejahen.
Vgl. etwa Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 28. September 2006 -
11 LC 185/06 -, juris; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Auflage 2003, Rn. 57.
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Die solchermaßen zu bejahende Gefahr war auch gegenwärtig, weil ein
Schadenseintritt aus der Perspektive des Zeitpunktes des polizeilichen Handels
unmittelbar bevorstand.
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Die Klägerin wäre im Weiteren gemäß §§ 41 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, 4 Abs. 1 PolG NRW
als Wohnungsinhaberin richtige Adressatin der hypothetischen Polizeiverfügung
gewesen, weil sie die Gefahr dem Anschein nach aus der Sicht ex ante - als
"Anscheinsstörerin" - verursacht hatte.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 16. März 1993 - 5 A 496/92 -, Neue Juristische
Wochenschrift (NJW) 1993, 358 und juris.
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Die Verfügung wäre auch i.S.d. § 114 Satz 1 VwGO, § 3 PolG NRW ermessensfehlerfrei
gewesen. Namentlich hätte sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. § 2 PolG
NRW) entsprochen. Die Beamten handelten zur Abwehr einer Gefahr für Leib und
Leben. Ihr Tätigwerden war auch erforderlich, da die in der Kürze der Zeit möglichen
Ermittlungen hinsichtlich des Aufenthaltsorts der Klägerin ohne Erfolg geblieben waren.
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Aus dem Vorstehenden ergibt sich zugleich, dass die weiteren Voraussetzungen des §
50 Abs. 2 PolG NRW - Notwendigkeit des Verwaltungszwangs zur Abwehr einer
gegenwärtigen Gefahr - gegeben sind.
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Die Anwendung des Zwangsmittels der Ersatzvornahme ist mit Rücksicht auf die
einschlägigen Vorgaben der §§ 52 Abs. 1 Satz 1, 56 PolG NRW nicht zu beanstanden.
Insbesondere konnte von einer Androhung des Zwangsmittels nach § 56 Abs. 1 Satz 3
PolG NRW abgesehen werden und war die Beauftragung des Schlüsseldienstes durch
den Beklagten mit der Türöffnung nicht unverhältnismäßig.
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Der Beklagte hat die Klägerin jedoch nichtsdestotrotz zu Unrecht zur Kostenerstattung
herangezogen.
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Gemäß § 52 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW kann die Polizei eine vertretbare Handlung auf
Kosten der betroffenen Person selbst vornehmen oder einen anderen mit der
Durchführung beauftragen.
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Zwar kann die Klägerin aus der ex-ante-Perspektive des polizeilichen Einschreitens -
wie dargelegt - auch als "Anscheinsstörerin" als "betroffene Person" im Sinne dieser
Bestimmung angesehen werden.
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Allerdings ist der Eingriff in den Rechtskreis des nur vermeintlichen Störers allein
bezüglich der tatsächlichen Gefahrenabwehr - auf der Primärebene - erforderlich und
zumutbar. Die durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gezogene Grenze würde
indessen überschritten, wenn er auch - auf der Sekundärebene - mit den Kosten der
Maßnahme belastet bliebe. Denn dies führte zu einer aus Gründen einer effektiven
Gefahrenabwehr nicht gebotenen Abwälzung der Kostentragungspflicht des tatsächlich
Verantwortlichen oder des Kostenrisikos der Allgemeinheit (vgl. § 67 PolG NRW i.V.m.
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§§ 39 ff. des Gesetzes über Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden - OBG -) auf
denjenigen, der objektiv Nichtstörer ist.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 16. März 1993 - 5 A 496/92 -, Neue Juristische
Wochenschrift (NJW) 1993, 358 und juris unter Hinweis auf Bundesgerichtshof (BGH),
Urteil vom 12. März 1992 - III ZR 128/91 -, Die öffentliche Verwaltung (DÖV) 1992, 1065.
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Bei der Frage der Kostentragungspflicht für eine Vollzugsmaßnahme bezüglich des
entscheidenden Kriteriums der Verantwortlichkeit ist in der Regel jedoch nicht die Sicht
im Zeitpunkt des Eingriffs maßgeblich, sondern die wirkliche Sachlage, wie sie sich bei
späterer rückschauender Betrachtung objektiv darstellt.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 16. März 1993 - 5 A 496/92 -, Neue Juristische
Wochenschrift (NJW) 1993, 358 und juris sowie Urteil der Kammer vom 16. Februar
2005 - 6 K 2235/01 -, S. 31 des amtlichen Umdrucks unter Hinweis auf BGH, Urteil vom
23. Juni 1994 - III ZR 54/93 -, Amtliche Entscheidungssammlung in Zivilsachen 126, 279
ff.
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Etwas anderes mag nur dann gelten, wenn der vermeintliche Störer die den Anschein
oder Verdacht der Verursachung begründenden Umstände zu verantworten hat.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 16. März 1993 - 5 A 496/92 -, Neue Juristische
Wochenschrift (NJW) 1993, 358 und juris; Hamburgisches Oberverwaltungsgericht,
Urteil vom 24. September 1985 - Bf VI 3/85 -, NJW 1986, 2005 und juris;
Oberverwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 28. November 2001 - 1 N 45.00 -, Neue
Zeitschrift für Verwaltungsrecht- Rechtsprechungsreport 2002, 623.
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Nach diesen Grundsätzen trifft die Klägerin vorliegend keine Kostenerstattungspflicht.
Denn sie war bei der auf der Kostenerstattungsebene maßgeblichen rückschauenden
Betrachtung lediglich vermeintliche Störerin und hat die den Anschein der
Verursachung der Gefahr begründenden Umstände nach Lage der Dinge auch nicht zu
verantworten. Die Angabe des geschiedenen Ehemannes der Klägerin, diese habe
gegenüber einem Zeugen geäußert, sich und ihre Kinder töten zu wollen, ist unbestätigt.
Für eine derartige Aussage hat offenbar auch keine Veranlassung bestanden, weil die
Klägerin das Sorgerecht über ihre Kinder erhalten hat und keine durchgreifenden
Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dies im Laufe des Sorgerechtsverfahrens
zweifelhaft gewesen sein könnte.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; diejenige über die vorläufige
Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 der
Zivilprozessordnung.
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