Urteil des VG Aachen vom 05.04.2005

VG Aachen: schüler, realschule, stadt, erlass, eltern, neurologie, datum, blutuntersuchung, gesellschaft, konzentration

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Verwaltungsgericht Aachen, 9 L 157/05
05.04.2005
Verwaltungsgericht Aachen
9. Kammer
Beschluss
9 L 157/05
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung
verpflichtet, den Sohn N. der Antragsteller vorläufig in die laufende
Jahrgangsstufe 8 der Städtischen Realschule der Stadt T. aufzunehmen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
G r ü n d e :
Der sinngemäße Antrag der Antragsteller,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihren Sohn N.
vorläufig in die laufende Jahrgangsstufe 8 der Städtischen Realschule der Stadt T.
aufzunehmen,
hat Erfolg.
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß den §§ 123
Abs. 1 und 3 VwGO, 920 Abs. 2, 294 ZPO sind erfüllt. Die Kammer hat in ihrem durch
Beschluss vom heutigen Tag entschiedenen Verfahren 9 L 155/05 Folgendes ausgeführt:
"Grundlage des Anordnungsanspruchs ist § 26 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 des
Schulverwaltungsgesetzes in Verbindung mit § 6 der Allgemeinen Schulordnung (ASchO).
Gemäß § 6 Abs. 1 ASchO werden Schülerinnen und Schüler, die die Schule wechseln, in
die Schulstufe, die Schulform und die Klasse oder Jahrgangsstufe aufgenommen, die ihrem
bisherigen Bildungsgang und ihrem Zeugnis entsprechen. Nach § 6 Abs. 2 ASchO gilt im
Übrigen § 5 des Gesetzes entsprechend. Nach dessen Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz
entscheidet der Schulleiter über die Aufnahme eines Schülers in die Schule innerhalb des
vom Schulträger für die Aufnahme festgelegten allgemeinen Rahmens. Innerschulische
Gesichtspunkte stehen dem Schulwechsel der Tochter der Antragsteller bei der im
einstweiligen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen Prüfung nicht
entgegen. Dem Hinweis des Antragsgegners, die Kapazität in der laufenden
Jahrgangsstufe 8 sei erschöpft, kann nicht gefolgt werden. Auf sich beruhen kann daher, ob
Kapazitätsgesichtspunkte einem Schulwechsel bei Vorliegen zwingender Gründe
überhaupt entgegengehalten werden können.
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Vgl. in diesem Zusammenhang Beschluss der Kammer vom 27. Mai 2004 - 9 L 434/04 - mit
Hinweis auf Pöttgen, Jehkul, Kumpfert, Allgemeine Schulordnung, Kommentar, 20. Auflage,
§ 6, Erl. 2.
Ausweislich der Stellungnahme des Antragsgegners vom 16. März 2005 hat der
Schulträger durch Beschluss von Dezember 1997 die Zügigkeit seiner Schule auf drei
Eingangsklassen festgeschrieben. Dementsprechend werde die Schule im
Schulentwicklungsplan sowie vom Gebäude her als dreizügige Schule ausgewiesen.
Allerdings sei die Raumkapazität des Gebäudes erschöpft. Mit Stand 11. März 2005
besuchten 32 Schüler die Klasse 8 a, 31 die Klasse 8 b und 26 die Klasse (scil.) 8 c.
Vorerwähnte Zahlen erreichen sämtlich nicht die nach den einschlägigen Bestimmungen
zulässigen Höchstbandbreiten. Nach § 6 Abs. 5 der Verordnung zur Ausführung des § 5
Schulfinanzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. April 2002, zuletzt
geändert durch Gesetz vom 24. Februar 2004 (SGV. NRW. 223) beträgt der
Klassenfrequenzrichtwert in der Realschule 28. Nach Satz 2 vorerwähnter Bestimmung
gelten bei Dreizügigkeit 26-30 Schüler als Bandbreite. Diese kann um bis zu 5 Schüler
überschritten werden. Demgemäß ist selbst in der am stärksten besuchten Klasse 8 a eine
Zahl von noch 3 Schülern aufnahmefähig.
Der Hinweis des Antragsgegners, mit Blick auf die Grundsätze für die Aufstellung von
Raumprogrammen für allgemein bildende Schulen und Sonderschulen (Runderlass des
Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom 19. Oktober 1995 - GABl. NRW. I S. 229)
sei eine Aufnahme zusätzlicher Schüler wegen Überbelegung der genutzten
Klassenräume unmöglich, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Wenngleich diese
Grundsätze für den Schulträger Orientierungshilfe sein sollen und für Unterrichtsräume der
Klasse 8 grundsätzlich eine Anzahl von 30 bei 2,0 m²/Schüler vorsehen, kann der
Schulträger ausweislich der Einleitung des Runderlasses von ihnen abweichen, soweit
Besonderheiten im Einzelfall dies erforderlich machen und sich die Abweichungen im
Rahmen gesetzlicher Bestimmungen halten. Aus Sicht des Gerichts ist dies bereits deshalb
der Fall, weil die Pflicht, für ausreichenden und würdigen Schulraum zu sorgen, gemäß § 3
Abs. 2 des Schulordnungsgesetzes (SchOG) den Schulträger trifft. Vor diesem Hintergrund
stellt es sich als eine innerorganisatorische, im Verhältnis Schule/Schulträger
abzuwickelnde Vollziehungsmaßnahme dar, die letztlich im vorerwähnten Ratsbeschluss
über die Zügigkeit der Realschule des Antragsgegners gründet. Derartige
Abwicklungsfragen können indes den Antragstellern nicht wirksam entgegengehalten
werden.
Stehen Kapazitätsgesichtspunkte demgemäß dem begehrten Schulwechsel nicht
entgegen, sind auch die weiteren Voraussetzungen hierfür erfüllt. In entsprechender
Anwendung des § 5 Abs. 1 ASchO verlangt der Schulwechsel nach Beginn des
Schuljahres das Vorliegen wichtiger Gründe. Derartiges ist beispielsweise bei einer
Erkrankung anzunehmen.
Vgl. Beschluss der Kammer vom 27. Mai 2004, a.a.O., m. w. N.
Das Vorliegen eines wichtigen Grundes bemisst sich im Wege einer Abwägung der
Interessen der Eltern sowie des Kindes an einem Schulwechsel sowie der
Schulverwaltung an einem Ausschluss vermeidbarer Störungen des Schulbetriebs.
Vgl. Beschluss der Kammer vom 27. Mai 2004, a. a. O., m. w. N.
Die gebotene Interessenabwägung fällt hier zugunsten der Antragsteller aus. Sie haben
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eine Erkrankung ihrer Tochter L. glaubhaft gemacht. Diese führt nach der allein möglichen
und gebotenen summarischen Überprüfung auf einen Anspruch auf den angestrebten
Schulwechsel.
Den vorgelegten Bescheinigungen des Herrn Dr. med. S., Arzt für Neurologie/Psychiatrie,
Umweltmedizin, H., vom 14. März 2005 sowie vom 16. März 2005 ist insbesondere zu
entnehmen, dass die Schülerin L. an einer Polyneuropathie, nicht näher bezeichnet, sowie
einer Polyneuropathie durch sonstige toxische Agenzien, v. a. (G62.9G und G62.2V) leidet.
Als Therapievorschlag wird neben Medikation aufgeführt: "Dringend Schulwechsel". Die
fachärztliche Bescheinigung vom 16. März 2005 verlautbart zusätzlich:
"Nach Untersuchungen in der hiesigen Praxis liegt eine Polyneuropathie vor, die mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch Schadstoffe in der besuchten Schule
ausgelöst wurden."
Klarstellend merkt das Gericht an, dass die Frage, ob Belastungen der Raumluft in den
Schulräumen der besuchten Schule - insbesondere dem Klassenraum 314 - für die
attestierte Erkrankung der Tochter L. der Antragsteller (mit-)ursächlich sind, mit den Mitteln
des summarischen Verfahrens nicht abschließend beurteilen lässt. Zur Raumluftbelastung
in der bislang besuchten Schule lagen der Kammer in dem mehrfach erwähnten
Eilverfahren - 9 L 434/04 - zu unterschiedlichen Aussagen gelangende Gutachten und
Stellungnahmen vor (Gutachten des Pathologen Prof. Dr. P. S. vom 26. Februar 2002;
Gutachten des Umweltanalytischen Dienstes Nr. 630/2003 vom 8. Mai 2003 zum Verfahren
Landgericht B. - 4 OH 9/02 -; Gutachten des ECO-Instituts vom 16. April 2003 nebst
Stellungnahme vom 4. Juni 2003 zum Gutachten des Umweltanalytischen Dienstes). Ein
weiteres Gutachten der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Landesverband
Nordrhein-Westfalen, stammte aus dem Jahr 2002. Vor dem Hintergrund dieser
Gutachtenlage vermochte die Kammer bereits im Mai vergangenen Jahres weder
festzustellen noch auszuschließen, dass es einen Zusammenhang zwischen den
bescheinigten Erkrankungen und der Raumluftsituation gibt. Die demgemäß offene
Beurteilungslage steht der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs hier nicht
entgegen. Zum einen geht es um eine nicht unerhebliche, gegebenenfalls unter
Langzeitgesichtspunkten zu bewertende Beeinträchtigung des Schutzguts der Gesundheit
bei einem Kind. Zum anderen ist der Klassenraum der Tochter der Antragsteller der Raum
314. Dieser ist ausweislich der vom Bürgermeister der Stadt Nideggen unter dem 31. März
2005 zu dem durch Beschluss vom heutigen Tag entschiedenen Verfahren 9 L 149/05
gereichten Stellungnahme des Gesundheitsamts des Kreises Düren vom 17. März 2005
der Schulraum, bei dem die Gesamtbelastung an TVOC (Total Volatile Organic
Compounds) 350 µg/m³ Luft beträgt. Demgegenüber belief sich die Konzentration im
Musikraum, der Gegenstand des durch rechtskräftigen Beschuss vom 27. Mai 2004 - 9 L
434/04 - im Sinne der damaligen Antragsteller entschiedenen Verfahrens gewesen war,
"lediglich" 270 µg/m³.
Eine abweichende Beurteilung ist nicht im Hinblick auf die mit am heutigen Tag bei Gericht
eingegangenen Fotokopien von Verwaltungsvorgängen geboten. Soweit das
Gesundheitsamt des Kreises Düren unter dem 1. April 2005 einen
Ursachenzusammenhang zwischen "eventuell bestehenden Erkrankungen von Kindern mit
der Raumluft des Schulzentrums O. auf Grundlage der vorliegenden Gutachten und
Stellungnahmen" ausschließt, vermag das Gericht dieser Bewertung auf der Grundlage der
vorstehenden Ausführungen nicht zu folgen. Soweit die Bezirksregierung Köln dem
Gesundheitsamt des Kreises Düren unter dem gleichen Datum mitgeteilt hat, die Kinder in
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anderen Räumen der Schule unterzubringen, handelt es sich ausweislich des Wortlauts um
eine reine Absichtserklärung. Im Übrigen hat der Schulträger der bislang besuchten Schule
im Verfahren 9 L 149/05 angegeben, eine Unterbringung der Schüler namentlich der
Klasse 8 c in anderen Räumen komme nicht in Betracht.
Dem vor diesem Hintergrund anzunehmenden Anordnungsanspruch steht weder die
Tatsache, dass bei der Schülerin L. bislang - soweit ersichtlich - eine Blutuntersuchung
bezüglich TVOC unterblieben ist, entgegen noch die Spruchpraxis des
Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, nach der lediglich die freie
Wahl der Schulform gewährleistet ist, oder aber eine nachhaltige Beeinträchtigung der
zukünftigen Mitschüler in eigenen Rechten.
Was zunächst eine etwaige Blutuntersuchung betreffend TVOC anbetrifft, so vermag das
Gericht eine derartige, nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
zu den verpflichtenden Basisuntersuchungen in der Diagnostik von Polyneuropathien
gehörende, Diagnostik,
vgl.http://www.dgn.org/112.0.html?&no_cache=1&sword_list []=PNP,
vorliegend nicht als zwingend zu betrachten. Mit Blick auf die an anderer Stelle,
vgl. http://www.allum.de/index.php?mod=noxe&n_id=9,
zu findende Überlegung, wonach die Messung flüchtiger organischer Verbindungen im Blut
nur bei ungewöhnlich hoher Belastung - etwa nach Lackierarbeiten in engen unbelüfteten
Räumen - und dann auch nur während oder unmittelbar nach der Exposition sinnvoll ist,
kann Derartiges nicht zuletzt wegen des seit längerer Zeit ausgebliebenen Schulbesuchs
der Schülerin L. hier nicht verlangt werden.
Die Spruchpraxis des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein- Westfalen,
vgl. zum Beispiel Beschlüsse vom 18. Dezember 2000 - 19 B 1306/00 -, und vom 1.
Oktober 1997 - 19 A 6455/96 -,
wonach die verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechte von Eltern und Schülern
(Erziehung und Bildung, Bestimmung von Erziehung und Bildung; vgl. Art. 8 Abs. 1
Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen, Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes)
lediglich die freie Wahl der Schulform, nicht aber die freie Wahl einer bestimmten Schule
innerhalb einer bestimmten Schulform gewährleisten, führt zu keiner abweichenden
Beurteilung. Diese Spruchpraxis ist in Fällen der in Rede stehenden Art nicht einschlägig.
Sie ist zu Schulaufnahmeverfahren mit erstmaliger Wahl der Schulform ergangen.
Demgegenüber geht es hier um den im laufenden Schuljahr erstrebten Wechsel von der
einen zur anderen Schule nach bereits erfolgter Schulformwahl. Die insoweit gebotene
Auslegung der §§ 5, 6 ASchO ist von dieser Spruchpraxis nicht erfasst.
Schließlich werden durch den zugesprochenen Anspruch der Antragsteller Rechte der
zukünftigen Mitschüler nicht in einer den Anordnungsanspruch ausschließenden Weise
nachhaltig beeinträchtigt. Bei der lediglich möglichen summarischen Überprüfung ist kein
ausreichender Anhaltspunkt dafür erkennbar, dass ebenfalls verfassungsrechtlich
geschützte Ansprüche der künftigen Mitschüler, die die für die Schülerin L. in Betracht
kommenden Klassen besuchen, auf Erziehung und Bildung sowie die Rechte der Eltern
der Mitschüler auf Erziehung und Bildung ihrer Kinder in der Schule entgegenstehen.
Zwangsläufig werden die Mitschüler im Falle einer Aufnahme der Schülerin L. nicht im
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gleichen Umfang wie bisher gefördert werden können. Diesem Gesichtspunkt kommt aber
kein durchgreifendes Gewicht zu. Es ist mit Blick auf die an anderer Stelle bereits erfolgte
Bewertung namentlich der Raumkapazität nicht erkennbar, dass die Lernsituation in den
Klassen 8 a, b und/oder c des Antragsgegners derartig beeinträchtigt sein könnte, dass die
erforderliche Unterrichtung der Schüler unmöglich würde oder sonst schlechthin
unzumutbare Lernverhältnisse entstünden. Im Übrigen hat der Antragsgegner nicht - auch
nicht mit seinem am heutigen Tag bei Gericht eingegangenen Schreiben - substantiiert
dargelegt, dass aufgrund der konkreten Lernsituation in den für die Schülerin L. in Betracht
kommenden Klassen die Aufnahme eines (oder auch mehrerer) Schüler schlechthin
unzumutbare Nachteile für die anderen Schüler dieser Klassen hätte.
Vgl. in diesem Zusammenhang OVG NRW, Beschluss vom 22. September 2003 - 19 B
1923/03 -.
Der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsgrund ist
ebenfalls gegeben. Angesichts des zu Ende gehenden Schuljahres und der damit
verbundenen Erteilung eines versetzungserheblichen Zeugnisses erscheint es notwendig,
die ausgesprochene einstweilige Anordnung zu erlassen.
Das so genannte Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache steht dem Erlass der
begehrten einstweiligen Anordnung schließlich ebenfalls nicht entgegen. Der durch
Zeitablauf drohende Verlust des Rechts auf zeitnahe Beschulung der Tochter der
Antragsteller an der Realschule der Stadt T. macht aus Gründen wirksamen
Rechtsschutzes eine Ausnahme von diesem Verbot erforderlich."
Diese Bewertung ist angesichts der den Schüler N. betreffenden (fach-)ärztli- chen
Bescheinigungen des Herrn Dr. med. S1. vom 26. Januar 2005 und vom 16. März 2005
auch in diesem Fall gültig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus den §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG in der Fassung
des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 5. Mai 2004, BGBl. I, 718. Das Gericht hält
mit Blick auf den summarischen Charakter des vorliegenden Verfahrens die Hälfte des so
genannten Auffangstreitwerts für ausreichend und angemessen.