Urteil des StGH Hessen vom 13.03.2017
StGH Hessen: industrie, handelskammer, hessen, zwangsmitgliedschaft, grundrecht, bundesgesetz, organisation, öffentlich, körperschaft, staatsaufsicht
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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 348
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 36 Verf HE, Art 131 Verf
HE , Art 31 GG
Leitsatz
1. Art. 36 HV schützt den einzelnen nicht vor einer gesetzlich angeordneten
Eingliederung in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft (z.B. Industrie- und
Handelskammer).
2. Der Staatsgerichtshof hat kein Prüfungsrecht darüber, ob Bundesrecht mit dem
Grundgesetz oder der Hessischen Verfassung vereinbar ist.
Gründe
Das Bundesgesetz zur vorläufigen Regelung des Rechtes der Industrie- und
Handelskammern vom 18.12.1956 (BGBl 1956 I, 920) in der Fassung des Art. 22
des Steueränderungsgesetzes vom 13.7.1961 (BGBl 1961 I, 981) regelt im § 2 die
Mitgliedschaft zu den Industrie- und Handelskammern, die nach § 3
Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind. Ihnen ist das Recht verliehen, von
den Mitgliedern Beiträge zu erheben. Das Hessische Ausführungsgesetz dazu vom
6.11.1957 (GVBl 1957, 147) erhält ergänzende Vorschriften im Rahmen des § 12
des Bundesgesetzes, z.B. Bestimmungen über die Staatsaufsicht und die innere
Organisation.
Der Antragsteller, der von der zuständigen Industrie- und Handelskammer zu
Beitragsleistungen herangezogen wird, hat den Staatsgerichtshof angerufen und
geltend gemacht, das Hessische Ausführungsgesetz ordne die beitragspflichtige
Zwangsmitgliedschaft der Gewerbetreibenden zu den Industrie- und
Handelskammern an und verstoße dadurch gegen Art. 26 der Hessischen
Verfassung (HV), wonach niemand gezwungen werden könne, Mitglied einer
Unternehmer-Vertreter - als solche sei die Industrie- und Handelskammer
anzusehen - zu werden. Art. 36 HV gewähre ihm auch ein Grundrecht, das in
Übereinstimmung mit Art. 9 GG stehe. Gemäß Art. 147 HV sei es seine Pflicht, den
Staatsgerichtshof anzurufen, damit die nötigen Schritte unternommen würden,
um das Grundrecht des Art. 36 HV aufrechtzuerhalten. Das Land Hessen könne
sich im Hinblick auf das Bundesgesetz vom 18.12.1956 nicht auf Art. 31 GG
berufen, wonach Bundesrecht Landesrecht breche. Dieser Bestimmung stehe Art.
152 II Satz 3 HV entgegen.
Der Hessische Ministerpräsident hält den Antrag für unzulässig, weil die
Zwangsmitgliedschaft und die Beitragspflicht nicht auf Hessischem Landesrecht
beruhten; sie seien vielmehr durch das Bundesgesetz vom 18.12.1956 eingeführt
worden. Die behauptete Einschränkung des Grundrechtes des Antragstellers fuße
daher ausschließlich auf nachkonstitutionellem Bundesrecht, das der HV, auch
deren Art. 152 HV, vorgehe. Der Staatsgerichtshof könne die Vereinbarkeit von
Bundesrecht mit der HV nicht prüfen.
Der Landesanwalt hält das Begehren des Antragstellers aus den gleichen Gründen
für unzulässig, auch für unbegründet, da das Grundrecht des Art. 36 HV nicht
gegen die Zugehörigkeit zu einer Organisation des öffentlichen Rechts schütze.
Von einem Verfassungsbruch könne im Hinblick auf den Inhalt des Hessischen
Ausführungsgesetzes keine Rede sein.
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Der Antrag kann keinen Erfolg haben.
Der Antragsteller ist nicht befugt, eine Entscheidung des Staatsgerichtshofs über
die Verfassungsmäßigkeit des Hessischen Ausführungsgesetzes herbeizuführen.
Dieses Recht steht ausschließlich den in Art. 131 HV §§ 17 und 41 StGHG
Genannten zu, zu denen der Antragsteller nicht gehört.
Auch seine Berufung auf Art. 147 II HV geht fehlt, wonach bei einem
Verfassungsbruch die Strafverfolgung der Schuldigen durch Anrufung des
Staatsgerichtshofs erzwungen werden kann. Es kann dahinstehen, ob diese
Bestimmung durch die Gesetzgebung des Bundes gegenstandslos geworden ist -
wie der Staatsgerichtshof wiederholt erörtert hat (vgl. P.St. 367). Denn das
Hessische Ausführungsgesetz, das keine Bestimmungen über die
beitragspflichtige Zwangsmitgliedschaft der Gewerbetreibenden zu den Industrie-
und Handelskammern, vielmehr Vorschriften über die Staatsaufsicht, die
Zuständigkeit und die innere Organisation der Industrie- und Handelskammern
enthält, verstößt selbst dann, wenn es mit einer Bestimmung der HV nicht
vereinbar sein sollte, nicht gegen die Gesamtgrundlage der Hessischen
Verfassung, was der Staatsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung als
Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Art. 147 Abs. 2 HV ansieht (vgl. P.St.
212).
Soweit der Antragsteller sich durch den Beitragsbescheid der Industrie- und
Handelskammer in dem ihm nach Art. 36 II HV gewährten Grundrecht der
negativen Koalitionsfreiheit verletzt glaubt, muss er vor Anrufung des
Staatsgerichtshofs den Rechtsweg erschöpfen, denn nach § 48 III StGHG findet ein
Verfahren vor dem Staatsgerichtshof wegen Verletzung eines Grundrechtes nur
statt, wenn der Antragsteller eine Entscheidung des höchsten in der Sache
zuständigen Gerichts herbeigeführt hat, wobei es sich um ein hessisches Gericht
handeln muss. Das hat der Antragsteller nicht getan.
Zu einer Verweisung nach § 48 I Satz 1 StGHG an das für sein Begehren
zuständige Gericht besteht kein Anlass, weil der Antragsteller durch nichts
gehindert, auch ausdrücklich auf das Erfordernis hingewiesen worden ist, selbst
dieses Gericht anzurufen. Eine Entscheidung nach § 48 I Satz 3 StGHG kommt
nicht in Betracht. da die Bedeutung der Sache nicht über den Einzelfall hinausgeht.
Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, dass der dem
Art. 36 HV verwandte Art. 9 GG den Einzelnen vor einer gesetzlich angeordneten
Eingliederung in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft - z.B. die Industrie- und
Handelskammer - nicht schützt (vgl. BVerfGE 15, 235). Der Antragsteller verkennt,
dass seine Zwangsmitgliedschaft zur Industrie- und Handelskammer nicht auf
hessischem Landesrecht, sondern auf Bundesrecht beruht. Seine auf Art. 152 II
Satz 3 HV gestützte Auffassung, Art. 31 GG sei für das Land Hessen nicht
verbindlich, ist irrig. Die Art. 152, 153 HV sind nach der Bildung der Bundesrepublik
Deutschland gegenstandslos geworden; die Bildung eines künftigen
gesamtdeutschen Staates richtet sich allein nach dem Grundgesetz. Dem
Staatsgerichtshof steht kein Prüfungsrecht darüber zu, ob Bundesrecht mit dem
Grundgesetz oder der Hessischen Verfassung vereinbar ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.