Urteil des StGH Hessen vom 09.08.2000
StGH Hessen: vorläufiger rechtsschutz, verordnung, verfassungsgericht, hessen, gewalt, menschenwürde, subsidiaritätsprinzip, eigentum, persönlichkeitsrecht, eingriff
1
Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 1564
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 132 Verf HE, § 45 Abs 2
StGHG, § 47 VwGO
Leitsatz
1. Die Ausschöpfung der zumutbaren fachgerichtlichen Abhilfemöglichkeiten ist nach
dem Subsidiaritätsprinzip Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Grundrechtsklage.
2. Der Subsidiaritätsgrundsatz greift nicht nur dann ein, wenn eine anderweitige
Möglichkeit besteht, die Verfassungswidrigkeit des beschwerenden Aktes der
öffentlichen Gewalt, soweit sie der Beurteilung durch das angerufene
Verfassungsgericht unterliegt, geltend zu machen. Es genügt, wenn dessen Beseitigung
aus anderen Gründen erreicht werden kann.
3. § 47 Abs. 3 VwGO bestimmt, dass das Oberverwaltungsgericht die Vereinbarkeit der
im Normenkontrollverfahren zur Überprüfung gestellten Rechtsvorschrift mit
Landesrecht nicht prüft, "soweit" gesetzlich vorgesehen ist, dass die Rechtsvorschrift
ausschließlich durch das Verfassungsgericht eines Landes nachprüfbar ist. Diese
ausschließliche Prüfungskompetenz steht dem Staatsgerichtshof nach Art. 132 HV
allein hinsichtlich der Vereinbarkeit von Normen mit der Hessischen Verfassung zu.
Einer Prüfung im Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO bleiben die Normen einer
Rechtsvorschrift grundsätzlich zugänglich, soweit es um ihre Vereinbarkeit mit anderen
Normen geht.
4. Der Staatsgerichtshof hat keine Bedenken gegen eine Übernahme der vom
Bundesverfassungsgericht zu § 93 Abs. 2 des Gesetzes über das
Bundesverfassungsgericht vertretenen Auffassung, dass bei einem
Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO die Jahresfrist des § 45 Abs. 2 StGHG erst
mit Abschluss des fachgerichtlichen Verfahrens zu laufen beginnt, sofern dieses
Verfahren selbst innerhalb eines Jahres seit Inkrafttreten der angegriffenen
Rechtsvorschrift eingeleitet worden ist.
Tenor
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet.
Gründe
A.
Die Antragsteller wenden sich mit der Grundrechtsklage gegen die
Gefahrenabwehrverordnung über Hunde mit gesteigerter Aggressivität und
Gefährlichkeit (KampfhundeVO) vom 5. Juli 2000 (GVBl. I S. 355). Die Antragsteller
sind Halter und Eigentümer einer Staffordschire-Terrier-Hündin, die zu den in § 1
KampfhundeVO als Kampfhunde qualifizierten Tieren gehört. Die Antragsteller
meinen, dass die Kampfhundeverordnung gegen die Menschenwürde, die
allgemeine Handlungsfreiheit, das Eigentumsrechts und das Willkürverbot
verstoße- Zudem sei sie mit § 2 Abs. 2 und § 4 des Tierschutzgesetzes des
Bundes unvereinbar. § 2 Satz 2 KampfhundeVO verstoße insoweit gegen das
Bestimmtheitsgebot der Hessischen Verfassung, als er die Erteilung einer
Genehmigung zur Haltung eines Kampfhundes vom Nachweis eines berechtigten
Interesses für die Haltung abhängig mache. Was unter dem berechtigten Interesse
zu verstehen sei, stehe in keiner Weise fest. Soweit die Erlaubnis zum Halten eines
2
3
4
zu verstehen sei, stehe in keiner Weise fest. Soweit die Erlaubnis zum Halten eines
Hundes entsprechend den Ausführungsvorschriften zur Kampfhundeverordnung
den Nachweis der fristgerechten Zahlung der Hundesteuer voraussetze, sei diese
Verknüpfung zwischen fiskalischem Interesse und Erlaubniserteilung willkürlich. Der
in der Kampfhundeverordnung liegende Eingriff in Eigentum und allgemeines
Persönlichkeitsrecht könne verfassungsgemäß nur durch Gesetz, nicht durch bloße
Verordnung erfolgen. Gegen die Menschenwürde verstoße es, dass im
Antragsformular für die Erlaubnis in stigmatisierender Weise nach Verurteilungen
wegen bestimmter Straftaten gefragt werde. Vorschriften des Tierschutzgesetzes
des Bundes würden verletzt, da nach der Kampfhundeverordnung Tiere ohne
vernünftigen Grund Schmerzen oder dem Tod ausgeliefert würden. Eine
unmittelbare Entscheidung des Staatsgerichtshofs sei wegen der über den
Einzelfall hinausgehenden Bedeutung der Sache geboten. Die Erschöpfung des
Rechtswegs sei unzumutbar.
Die Antragsteller beantragen,
die Gefahrenabwehrverordnung über Hunde mit gesteigerter Aggressivität und
Gefährlichkeit (KampfhundeVO) vom 5. Juli 2000 (GVBl. I S. 355) aufzuheben.
B.
I.
Die Grundrechtsklage ist unzulässig. Die Antragsteller haben die fachgerichtlichen
Möglichkeiten, ihrem Begehren zum Erfolg zu verhelfen, bislang nicht genutzt. Die
Ausschöpfung der zumutbaren fachgerichtlichen Abhilfemöglichkeiten aber ist
nach dem vom Staatsgerichtshof in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsbeschwerde zugrundegelegten
Subsidiaritätsprinzip Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Grundrechtsklage.
Nach der verfassungsmäßigen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung
gewähren vorrangig die Fachgerichte Rechtsschutz. Durch die umfassende
fachgerichtliche Vorprüfung der Beschwerdepunkte soll dem Verfassungsgericht
ein gerichtlich geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und ihm die
Fallanschauung und Rechtsauffassung der Fachgerichte vermittelt werden (vgl.
StGH, Beschluss vom 13.09.1989 - P.St. 1077 -, StAnz. 2084 = ESVGH 40, 10;
Beschluss vom 12.06.1991 - P.St. 1108 -, StAnz. 2654; Beschluss vom 10.06.1992
- P.St. 1128 -, StAnz. 1584; Beschluss vom 01.02.1995 - P.St. 1192 -, StAnz. S.
1060; BVerfG, Beschluss vom 08.01.1985, BVerfGE 68, 376 380; Beschluss vom
26.01.1988, BVerfGE 77, 381 401; Beschluss vom 24.06.1992, BVerfGE 86, 382
386ff.; Beschluss vom 18.12.1996, BVerfGE 95, 163 171ff.; Beschluss vom
14.01.1998, BVerfGE 97, 157 165). Dessen bedarf es gerade im vorliegenden Fall,
in dem es um die Einschätzung der Aggressivität und Gefährlichkeit von Hunden
und um die Auslegung eines einfachgesetzlichen unbestimmten Rechtsbegriffs
geht. Der Subsidiaritätsgrund greift nicht nur dann ein, wenn eine anderweitige
Möglichkeit besteht, die Verfassungswidrigkeit des beschwerenden Aktes der
öffentlichen Gewalt, soweit sie der Beurteilung durch das angerufene
Verfassungsgericht unterliegt, geltend zu machen. Es genügt, wenn dessen
Beseitigung aus anderen Gründen erreicht werden kann (so StGH, Beschluss vom
01.02.1995 - P.St. 1192 -, a.a.O., BVerfG, Beschluss vom 08.03.1988, BVerfGE 78,
58 68f.; Beschluss vom 01.02.1989, BVerfGE 79, 275 278ff.). Die Antragsteller
können ihr letztlich gegen die Wirksamkeit der angegriffenen Verordnung
gerichtetes Begehren im Normenkontrollverfahren nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in
Verbindung mit § 15 Abs. 1 des Hessischen Gesetzes zur Ausführung der
Verwaltungsgerichtsordnung in der Fassung vom 27. Oktober 1997 (GVBl. I S. 381)
vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof verfolgen. Das
Normenkontrollverfahren ist ihnen durch § 47 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit Art.
132 HV nicht verschlossen. § 47 Abs. 3 VwGO bestimmt lediglich, dass das
Oberverwaltungsgericht die Vereinbarkeit der im Normenkontrollverfahren zur
Überprüfung gestellten Rechtsvorschrift mit Landesrecht nicht prüft, "soweit"
gesetzlich vorgesehen ist, dass die Rechtsvorschrift ausschließlich durch das
Verfassungsgericht eines Landes nachprüfbar ist. Diese ausschließliche
Prüfungskompetenz steht dem Staatsgerichtshof nach Art. 132 HV allein
hinsichtlich der Vereinbarkeit von Normen mit der Hessischen Verfassung zu. Einer
Prüfung im Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO bleiben die von den
Antragstellern angegriffenen Normen grundsätzlich zugänglich, soweit es um ihre
Vereinbarkeit mit anderen Normen geht (vgl. StGH, Beschluss vom 01.12.1995 -
P.St. -, a.a.O.). Nach § 45 Abs. 2 StGHG kann eine Grundrechtsklage gegen eine
Rechtsvorschrift oder einen sonstigen Hoheitsakt, gegen den der Rechtsweg nicht
5
Rechtsvorschrift oder einen sonstigen Hoheitsakt, gegen den der Rechtsweg nicht
offen steht, allerdings nur binnen eines Jahres seit Inkrafttreten der
Rechtsvorschrift oder seit Erlass des Hoheitsaktes erhoben werden. Diese
Vorschrift steht der Forderung nach Erschöpfung der verwaltungsgerichtlichen
Rechtsschutzmöglichkeiten indessen nicht entgegen. Dabei kann offen bleiben, ob
§ 45 Abs. 2 StGHG sich nach seinem Sinnzusammenhang überhaupt auf
Rechtsverordnungen bezieht, gegen die nach § 47 VwGO Rechtsschutz durch ein
Normenkontrollverfahren eröffnet ist. Denn die Frist des § 45 Abs. 2 StGHG könnte
auch bei Bejahung dieser Frage eingehalten werden. Der Staatsgerichtshof hat
keine Bedenken gegen eine Übernahme der vom Bundesverfassungsgericht zu §
93 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vertretenen
Auffassung, dass in einem solchen Fall die Jahresfrist mit Beschluss des
fachgerichtlichen Verfahrens, hier des verwaltungsgerichtlichen
Normenkontrollverfahrens zu laufen beginnt, sofern dieses Verfahren selbst
innerhalb eines Jahres seit Inkrafttreten der angegriffenen Rechtsvorschrift
eingeleitet worden ist (StGH, Beschluss vom 01.02.1995 - P.St. -, a.a.O., unter
Bezugnahme auf BVerfGE 76, 107 115). Den Antragstellern kann auch zugemutet
werden, zunächst das verwaltungsgerichtliche Normenkontrollverfahren in
Anspruch zu nehmen. Es ist jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen, dass
in diesem Verfahren den von den Antragsteller gegen die angegriffene Verordnung
erhobenen Bedenken nachgegangen wird. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob §
47 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit Art. 132 HV einer Prüfung der angegriffenen
Normen auf ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten des Grundgesetzes
entgegensteht, soweit diese mit Grundrechten der Hessischen Verfassung
inhaltsgleich sind (vgl. einerseits Hess. VGH, Urteil vom 10.09.1980, ESVGH 31, 1,
andererseits Hess. VGH, Beschluss vom 01.10.1991, ESVGH 42, 62). Denn auch
die Überprüfung am Maßstab des einfachgesetzlichen Landesrechts, das in einem
solchen Normenkontrollverfahren zugrunde zu legen wäre, kann sich als geeignet
erweisen, die von den Antragstellern geltend gemachten Bedenken aufzugreifen
und damit schon auf dieser Stufe zur Feststellung einer sich daraus etwa
ergebenden Nichtigkeit der Verordnung zu führen. Den Bedenken der Antragsteller
könnte nämlich möglicherweise bereits durch eine Überprüfung der Vereinbarkeit
der angegriffenen Verordnung mit dem ihr zugrunde liegenden Hessischen Gesetz
über die Sicherheit und Ordnung (HSOG) in der Fassung vom 31. März 1994 (GVBl.
I S. 174, ber. S. 284), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Mai 2000 (GVBl. I S.
278), Rechnung getragen werden. Denn die von den Antragstellern geltend
gemachten rechtsstaatlichen Bestimmtheitsanforderungen haben in § 76 Abs. 1
Satz 1 HSOG, wonach Gefahrenabwehrverordnungen in ihrem Inhalt bestimmt sein
müssen, einfachgesetzlichen Ausdruck gefunden. Die Bedenken der Antragsteller,
die darauf gestützt sind, dass die Kampfhundeverordnung zu der
Hundeverordnung in Widerspruch stehe und hinsichtlich der in ihr als Kampfhunde
qualifizierten Rassen Maßnahmen vorsehe, die hinsichtlich gleich zu beurteilender
anderer Hunderassen nicht für nötig erachtet würden, könnten für eine
Überprüfung der Kampfhundeverordnung am Maßstab des § 4 HSOG - Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit - erheblich sein. Danach ist nicht auszuschließen, dass die
angegriffene Verordnung bereits im verwaltungsgerichtlichen
Normenkontrollverfahren für nichtig erklärt wird. Zu einer Entscheidung des
Staatsgerichtshofs vor Erschöpfung der fachgerichtlichen
Rechtsschutzmöglichkeiten nach der im Rahmen des Subsidiaritätsgrundsatzes
sinngemäß anwendbaren Vorschrift des § 44 Abs. 2 StGHG (vgl. BVerfGE 86, 382
388) besteht kein Anlass. Sie kommt ungeachtet einer über den Einzelfall
hinausgehenden Bedeutung der Sache schon deshalb nicht in Betracht, weil
entscheidungserhebliche Tatsachen noch fachgerichtlich aufklärungsbedürftig sind
(vgl. BVerfGE, a.a.O.). Auch ist nicht ersichtlich, dass den Antragstellern durch die
Verweisung auf das Normenkontrollverfahren ein schwerer und unabwendbarer
Nachteil entstünde. Die Antragsteller haben die Möglichkeit, zunächst eine
Erlaubnis nach § 2 KampfhundeVO zu beantragen. Die vorübergehende Einhaltung
der Vorschriften über das Führen und Halten von Kampfhunden nach § 3 Abs. 1
und 2 KampfhundeVO kann nicht als schwerer und unabwendbarer Nachteil im
Sinne des § 44 Abs. 2 StGHG qualifiziert werden. Auf eine Beschwer durch das
Gebot des § 3 Abs. 3 KampfhundeVO, Kampfhunde zu kastrieren oder zu
sterilisieren, berufen sich die Antragsteller selbst nicht, insbesondere haben sie
nicht vorgetragen, dass die von ihnen gehaltene Hündin nicht bereits kastriert
oder sterilisiert sei. Im Übrigen kann vorläufiger Rechtsschutz nach § 47 Abs. 6
VwGO auch im Normenkontrollverfahren gewährt werden.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 28 Abs. 1 StGHG
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.