Urteil des StGH Hessen vom 13.03.2017
StGH Hessen: hessen, normenkontrolle, grundrecht, akte, wiederaufnahme, beschränkung, willkürverbot, anfechtung, verfassungsgerichtsbarkeit, rechtslehre
1
2
3
Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 72
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 1 Verf HE, Art 9 Verf HE,
Art 22 Abs 1 Verf HE, Art 22
Abs 3 Verf HE
Leitsatz
1. Der Kontrollbefugnis des Verfassungsgerichts sind dort Grenzen gesetzt, wo der
Gesetzgeber, ohne den Grundsatz der Gleichheit anzutasten und ohne dem
Willkürverbot entgegenzuhandeln, innerhalb eines staatspolitisch motivierten
Ermessensspielraums tätig geworden ist.
2. Art. 9 HV deckt sich inhaltlich mit Art. 4 Abs. 1 GG.
3. Art. 22 Abs. 3 HV gilt nicht für Verfahren, die unter anderen als kriminellen
Gesichtspunkten angängig gemacht worden sind.
4. Das Rückwirkungsverbot des Art. 22 Abs. 1 HV bezieht sich nur auf kriminelle Strafen.
Tenor
Der Antrag wird als offenbar unbegründet zurückgewiesen. Diese Entscheidung
ergeht gebührenfrei.
Gründe
I.
Der Kläger, der bis zum Zusammenbruch in ... eine Praxis als Rechtsanwalt und
Notar unterhielt, war Mitglied der früheren NSDAP seit dem Jahre 1922 und nach
Aufhebung ihres Verbots erneut seit 1929. Im Jahre 1930 trat er der SA bei und
übernahm hier die weltanschauliche Schulung innerhalb seiner Standarte. Im Jahre
1943 wurde ihm der Ehrenrang eines SA-Sturmführers verliehen. Dem NSRB seit
Gründung zugehörig, bekleidete der Kläger hier zeitweilig das Amt eines
Bezirksjuristenführers.
Wegen dieser politischen Haltung durfte der Kläger auf Grund der
Kontrollratsdirektive Nr. 24 vom 12.1.1946 (Amtsblatt des Kontrollrats S. 98) seine
Tätigkeit als Rechtsanwalt und Notar nach dem Zusammenbruch nicht mehr
ausüben. Im Spruchkammerverfahren wurde er, ohne dass ihm
Sühnemaßnahmen auferlegt wurden, in die Gruppe der Mitläufer eingestuft. Sein
Antrag auf Wiederzulassung als Rechtsanwalt wurde vom Hessischen Minister der
Justiz unter Hinweis auf § 123 Abs. 2 RAO abgelehnt. Hiergegen rief der Kläger
gemäß §§ 124, 18 RAO die Entscheidung des Ehrengerichts an, die bisher nicht
getroffen ist. Auf seinen Antrag, ihn erneut zum Notar zu bestellen, wurde der
Kläger gleichfalls abschlägig beschieden.
Nunmehr hat der Kläger sich gemäß § 45 Abs. 2 StGHG an den Staatsgerichtshof
mit der Begründung gewandt, § 123 Abs. 2 RAO und auch § 6 Abs. 3 des Gesetzes
über den Abschluss der politischen Befreiung in Hessen vom 30.11.1949, worauf
der Hessische Minister der Justiz die Ablehnung des Antrages auf Wiederverleihung
des Notariats offenbar gestützt habe, seien rechtsunwirksam, weil sie die in der
Hessischen Verfassung garantierten Grundrechte der Gleichheit (Art. 1 HV) und
der Überzeugungsfreiheit (Art. 9 HV) verletzten und weil sie ferner gegen das
4
5
6
7
8
9
10
der Überzeugungsfreiheit (Art. 9 HV) verletzten und weil sie ferner gegen das
Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen, das Verbot der strafrechtlichen
Haftung für Taten Dritter und das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 22 Abs. 1,2,3
HV) verstießen. Schließlich hat der Kläger geltend gemacht, er sei als Notar auf
Grund der Kontrollratsdirektive Nr. 24 lediglich suspendiert, keineswegs aber
entlassen worden und habe als Mitläufer, dem eine Sühnemaßnahme nicht
auferlegt worden sei, Anspruch auf Wiedereinstellung nach dem Beamtengesetz.
Er hat den aus dem entscheidenden Teil dieses Beschlusses ersichtlichen Antrag
gestellt.
Der Hessische Minister der Justiz hat namens des Beklagten Zurückweisung des
Antrages in erster Linie schon deshalb beantragt, weil der Kläger nicht zu den
Personen gehöre, die gemäß §§ 17, 41 StGHG, Art. 131 HV ausschließlich zur
Anrufung des Staatsgerichtshofs legitimiert seien, im Übrigen aber auch aus
sachlichen Gründen.
Der Landesanwalt hat sich dem Verfahren nicht angeschlossen.
II.
Die Frage, ob jedermann legitimiert sei, vom Staatsgerichtshof mit der auf
Verletzung eines Grundrechts gestützten Klage eine Prüfung der
Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu begehren, hat der Staatsgerichtshof in
seinen Entscheidungen P. St. 41, 62 und 73 wiederholt bejaht. Insbesondere in
dem letztgenannten Beschluss ist unter Hinweis auf die Verfassungsbeschwerde
des bayerischen Rechts, die lediglich eine Anfechtung behördlicher Akte zulässt,
ausgeführt, dass der hessische Gesetzgeber, wie sich aus dem Wortlaut des § 46
Abs. 3 StGHG ergebe, eine solche Beschränkung der Anfechtungsmöglichkeit nicht
gewollt habe. Im § 46 Abs. 3 StGHG seien den Behörden des Landes dessen
Organe , mithin auch der Hessische Landtag, gleichgestellt, woraus hervorgehe,
dass auch diejenigen Akte der Gesetzgebung, die auf Landtagsbeschlüssen
beruhen, von jedem Staatsbürger gemäß § 45 Abs. 3 StGHG angefochten werden
könnten. An dieser Auffassung hält der Staatsgerichtshof fest.
Für die weitere Frage, ob das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der
Verfolgbarkeit seines Anspruchs mit dem Hinweis auf § 48 Abs. 3 StGHG etwa
deswegen zu verneinen sei, weil der Kläger eine Entscheidung des Ehrengerichts
bisher nicht eingeholt hat, kann es auf sich beruhen bleiben, ob das
ehrengerichtliche Verfahren ein gerichtliches Verfahren i. S. des § 48 StGHG ist,
wie der Hessische Minister der Justiz meint, oder nicht, welche Auffassung der
Kläger vertritt. Wie der Staatsgerichtshof bereits in den Entscheidungen vom
14.4.1950 (P. St. 41) und 10.11.1950 (P. St. 73) ausgeführt hat, ist der Vorschrift
des § 48 Abs. 1 Satz 3 StGHG im System der Grundrechtsklagen eine weitere
Anwendungsmöglichkeit zuzumessen, als es nach dem Gesetzestext den
Anschein hat. Diese Anwendungsmöglichkeit wirkt sich keineswegs nur negativ als
eine Beschränkung jurisdiktioneller Befugnisse, vielmehr auch positiv dahin aus,
dass ohne vorherige Erschöpfung des Rechtswegs, wie sie § 48 Abs. 3 StGHG
vorsieht, nach erhobener Grundrechtsklage ein Verfahren vor dem
Staatsgerichtshof durchgeführt werden kann, wenn die Bedeutung der Sache über
den Einzelfall hinausgeht, mithin eine allgemeine Regelung erforderlich erscheint,
ein Tatbestand, der im vorliegenden Fall zweifellos erfüllt ist.
III.
Der verfahrensrechtlich zulässigen Anfechtung der umstrittenen
Gesetzgebungsakte war ein Erfolg gleichwohl zu versagen.
1) Soweit der Kläger die Auffassung vertritt, der in Art. 1 HV verankerte Grundsatz
der Gleichheit sei durch die Bestimmungen des § 123 Abs. 2 RAO und des § 6 Abs.
3 des Befreiungsschlussgesetzes verletzt, ist seine Ansicht unbegründet. Zu der
Frage, wie weit das Verfassungsgericht im Wege der Normenkontrolle eine
Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit feststellen könne, hat der
Staatsgerichtshof in der Entscheidung vom 14.4.1950 (P. St. 41 –
Verwaltungsrechtsprechung in Deutschland Band 2 S. 299), auf die verwiesen wird,
erschöpfend Stellung genommen. Nach den hier in Übereinstimmung mit dem
Bayer. Verfassungsgerichtshof (Verwaltungsrechtsprechung in Deutschland Band
2 S. 158, 161) entwickelten Grundsätzen sind der Kontrollbefugnis des
Verfassungsgerichts dort Grenzen gesetzt, wo der Gesetzgeber, ohne den
Grundsatz der Gleichheit anzutasten und ohne dem Willkürverbot
11
12
13
14
15
16
17
Grundsatz der Gleichheit anzutasten und ohne dem Willkürverbot
entgegenzuhandeln, innerhalb eines staatspolitisch motivierten
Ermessensspielraums tätig geworden ist. Diese Grenzen zu achten, ist für die
Verfassungsgerichtsbarkeit um so mehr geboten, als sie ihrer Aufgabe zuwider
spezifisch gesetzgeberische Maßnahmen an sich reißen und damit die zwischen
Gesetzgeber und Richter gegebene Ordnung umstoßen würde, wenn sie Prüfungen
legislatorischer Akte in vollem Umfange und nicht nur bei "Verletzung gewisser
äußerster Grenzen" vornehmen wollte.
Die Beachtung dieses auch in der Rechtslehre anerkannten Grundsatzes führt im
vorliegenden Fall dazu, eine gesetzgeberische Willkür zu verneinen; denn die
Rechtsungleichheit, die sich bei einzelnen Berufsbeschränkungen nicht verkennen
lässt, beruht auf der durchaus einleuchtenden Erwägung, dass es notwendig sei,
sich bei der Erneuerung des Staatswesens gegen politisch unzuverlässige Kräfte
abzuschirmen.
2) Zu Unrecht beruft sich der Kläger auch auf das in Art. 9 HV gewährte
Grundrecht der Überzeugungsfreiheit. Diese Vorschrift deckt sich inhaltlich mit den
Bestimmungen des Art. 4 Abs. 1 GG, von denen anerkannt ist (v. Mangoldt: Das
Bonner Grundgesetz, Anm. 2 zu Art. 4), dass sie dem Gesetzgeber lediglich den
Erlass von Vorschriften verbieten, die sich gegen eine bestimmte Konfession oder
Weltanschauung als solche richten. Der Grundrechtskläger fühlt sich aber durch §
123 Abs. 2 RAO und § 6 Abs. 3 des Befreiungsschlussgesetzes insofern verletzt,
als seine politische Betätigung im 3. Reich die Wiederaufnahme seiner früheren
Berufstätigkeit ausschließen soll. Gerade nach dieser Richtung hin ist aber das
Grundrecht der Überzeugungsfreiheit nicht gewährleistet. Die Rechtsauffassung,
die zu dem inhaltsgleichen Grundrecht des Art. 4 GG vertreten wird, geht vielmehr
dahin, dass Handlungen, die sonst allgemein vom Gesetzgeber missbilligt werden,
nicht unter den Schutz der Überzeugungsfreiheit fallen. Insoweit kann der
Grundrechtskläger sich daher nicht auf eine Verletzung des in Art. 9 HV gewährten
Grundrechts und auch nicht darauf berufen, dass eine Verletzung des
Gleichheitssatzes vorliege, wenn die Wiederaufnahme seiner beruflichen Tätigkeit
an einer politischen Handlungsweise , die ihm zur Last gelegt wird, scheitert.
3) Die Berufung des Klägers auf das in Art. 22 Abs. 3 HV ausgesprochene Verbot
der Doppelbestrafung ist vom Blickpunkt der konkreten Normenkontrolle aus dahin
zu verstehen, dass der Kläger sich gegen die seiner Meinung nach durch die
angegriffenen Normen der RAO und des Befreiungsschlussgesetzes eröffnete
Möglichkeit wendet, ihn trotz vorausgegangenem Spruchkammerverfahren durch
Berufsbeschränkungen noch einmal zu bestrafen. Indes gilt dieses Verbot der
Doppelbestrafung nicht für Verfahren, die unter anderen als kriminellen
Gesichtspunkten anhängig gemacht worden sind, wie durch die Regelung des Art.
103 Abs. 3 GG bestätigt worden ist (vgl. Süsterhenn-Schäfer, Kommentar der
Verfassung für Rheinland-Pfalz Seite 97 und Nebinger, Kommentar zur Verfassung
für Württemberg-Baden Seite 20, Anm. 3 zu Art. 4).
Ob jene Berufsbeschränkungen, wenn sie als Straf- oder Sühnemaßnahmen
angesprochen werden, gleichzeitig auch eine Rückwirkung einschließen, kann
dahingestellt bleiben, weil auch das Verbot der Rückwirkung sich nur auf kriminelle
Strafen bezieht. In den einzelnen Absätzen des Art. 22 HV kann der Begriff der
"Strafe", wie er vorstehend der Auslegung des Abs. 3 zugrunde gelegt worden ist,
nicht verschiedene Bedeutung haben.
4) Der Hinweis des Klägers, er sei auf Grund der Kontrollratsdirektive Nr. 24 als
Notar nicht entlassen, sondern lediglich suspendiert und habe nach Abschluss des
für ihn günstigen Spruchkammerverfahrens nunmehr Anspruch auf
Wiederbestellung, liegt außerhalb des Rahmens der von ihm begehrten
Normenkontrolle. Insoweit greift der Kläger nicht die Norm sondern den
versagenden Verwaltungsakt an, worüber zu befinden ausschließlich Sache der
Verwaltungsgerichtsbarkeit ist.
Der Antrag war daher gemäß § 21 StGHG als offenbar unbegründet
zurückzuweisen.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.