Urteil des StGH Hessen vom 13.03.2017

StGH Hessen: verfassungskonforme auslegung, staatliches gericht, erlass, hessen, unvereinbarkeit, grundrecht, gesetzgebung, bestandteil, ministerpräsident, bestrafung

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 225
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 125 Nr 2 GG, Art 74 Nr 1
GG
Leitsatz
1. Die Hessische Rechtsanwaltsordnung gilt als Bundesrecht fort.
2. Der StGH kann nicht prüfen, ob Recht, das im Falle seines Fortgeltens Bundesrecht
ist, mit dem GG vereinbar ist. Der StGH ist dagegen in ausschließlicher Zuständigkeit
zu der Prüfung befugt, ob nach 1945 erlassenes Landesrecht schon vor Inkrafttreten
des GG wegen Unvereinbarkeit mit der Verf HE nichtig gewesen ist und daher nicht in
Bundesrecht umgewandelt werden konnte. Der Ehrengerichtshof für Rechtsanwälte
genügt den an ein Gericht zu stellenden Anforderungen. Die Ehrengerichte sind keine
Ausnahmegerichte.
Tenor
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Die Kosten werden auf 300 DM festgesetzt und sind vom Antragsteller zu tragen.
Gründe
I. Der Antragsteller ist durch Urteil des Ehrengerichts der Rechtsanwaltskammer in
... vom 21.4.1956 wegen mißachtender Äußerungen über einen Richter nach §§ 31,
96 der Hess. Rechtsanwaltsordnung vom 18.10.1948 GVBl. S. 126 (Hess. RAO) mit
einem Verweis bestraft worden. Seine Berufung ist durch Urteil des
Ehrengerichtshofes in Frankfurt a.M. vom 2.3.1957 verworfen worden, das dem
Antragsteller am 18.5.1957 zugestellt wurde. Mit Schriftsatz vom 11., eingegangen
12.6.1957 hat er die Entscheidung des Staatsgerichtshofes wegen Verletzung von
Grundrechten angerufen mit dem Antrage,
das ehrengerichtliche Verfahren... der Anwaltskammer... für unzulässig zu
erklären.
Zur Begründung führt er aus, die Hess. RAO sei mit Erlass des Grundgesetzes
(GG) außer Kraft getreten. Sie sei nicht nach Art. 125 GG Bundesrecht geworden,
da sie nicht innerhalb der amerikanischen Besatzungszone einheitlich gegolten,
auch nicht früheres Reichsrecht abgeändert habe. Die Hess. RAO sei ein neues
Gesetz, das an die Stelle der Reichs-RAO getreten sei. Im übrigen sei die Hess.
RAO nach Art. 123 Abs. 1 GG jedenfalls insoweit nicht Bundesrecht geworden, als
sie dem Bundesrecht widerspricht; sie widerspreche aber, soweit sie die
Ehrengerichtsbarkeit regelt, den Art. 92, 101 GG. Insoweit sei die Hess. RAO auch
schon vor dem Erlass des Grundgesetzes wegen Unvereinbarkeit mit der Hess.
Verfassung (HV) nichtig gewesen und habe demzufolge nicht Bundesrecht werden
können. Die Ehrengerichte der Rechtsanwaltskammern seien nicht den Art. 126,
127 HV entsprechend eingesetzt und besetzt worden und daher nicht als Gerichte
anzusehen, weil sämtliche Richter aus den Kreisen der Anwälte durch diese
gewählt werden (§ 75 Hess. RAO). Dem könne nicht entgegengehalten werden,
daß ein auch mit Berufsrichtern besetzter Ehrengerichtshof als Gericht anzusehen
sei und ein Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in zwei Rechtszügen nicht
bestehe. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers habe die Hess. RAO einen
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bestehe. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers habe die Hess. RAO einen
Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in zwei Rechtszügen gewähren wollen, und
die Tätigkeit eines Berufungsgerichts setze begriffsnotwendig voraus, daß die
Entscheidung eines anderen Gerichts vorangegangen sei. Der Antragsteller ist
weiter der Auffassung, daß die Ehrengerichte Ausnahmegerichte seien und als
solche gegen Art. 20 Abs. 1 Satz 2 HV verstießen, da sie nicht für besondere
Sachgebiete, sondern für einen besonderen Personenkreis eingesetzt seien. Dies
ergebe sich auch aus Art. 20 Abs. 2 HV, wonach jeder als unschuldig gelte? bis er
durch Urteil eines ordentlichen Gerichts für schuldig befunden sei. Schließlich führt
der Antragsteller aus, daß das Ehrengericht zur Aburteilung seines Falles nicht
zuständig gewesen sei. Die ihm vorgeworfenen Äußerungen stellten eine
Beleidigung dar. Nach § 69 Hess. RAO sei eine ehrengerichtliche Bestrafung nur
verwirkt, wenn spezifische Anwaltspflichten verletzt werden; die Pflicht aber, sich
beleidigender Äußerungen zu enthalten, liege jedem Menschen ob; für die
Entscheidung seien daher nur die allgemeinen Strafgerichte zuständig gewesen.
Außerdem sei ihm durch das Urteil des Ehrengerichts das Recht der freien
Meinungsäußerung beschnitten worden, welches nur den Begrenzungen des
allgemeinen Rechts, nicht dem nur für einen bestimmten Personenkreis geltenden
Gesetz unterliege. Das Ehrengericht verstoße durch sein Urteil gegen Art. 1, 2, 5
GG und gegen Art. 2 Abs. 3, 11, 20 Abs. 1 Satz 1 HV. Der Antragsteller hält den
Staatsgerichtshof gemäß Art. 147 Abs. 2 HV zum Einschreiten für verpflichtet.
Der Hessische Ministerpräsident hat beantragt,
den Antrag als unzulässig zurückzuweisen.
Der Landesanwalt hat sich am Verfahren nicht beteiligt.
II. Der Antrag ist zulässig und rechtzeitig, aber offenbar unbegründet.
1) Der Antragsteller ist der Auffassung, die Hess. RAO sei mit Erlass des GG außer
Kraft getreten. Er will damit geltend machen, daß er ohne gesetzliche Grundlage
ehrengerichtlich bestraft worden sei. Träfe diese Annahme zu, so wäre sein Recht
auf Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 HV) verletzt, da ungültige Rechtsvorschriften
keinen Bestandteil der öffentlichen Ordnung bilden und dieses Grundrecht nicht
wirksam beschränken können (ebenso BVerfGE 7, 115, 119 für Art. 2 Abs. 1 GG).
Die Auffassung des Antragstellers trifft aber nicht zu. Nach Art. 74 Ziff. 1 GG
erstreckt sich die konkurrierende Gesetzgebung auf das Gebiet der
Rechtsanwaltschaft. Recht, das Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung
des Bundes betrifft, wird nach Art. 125 Ziff. 2 GG innerhalb seines
Geltungsbereichs Bundesrecht, soweit es sich um Recht handelt, durch das nach
dem 8.5.1945 früheres Reichsrecht abgeändert worden ist. Als Änderung ist jede
Verfügung des Landesgesetzgebers über früheres Reichsrecht anzusehen. Auch
die Ersetzung einer reichsrechtlichen Gesamtregelung durch eine landesrechtliche
stellt sich demnach als Abänderung von Reichsrecht in diesem Sinne dar (so auch
BVerfGE 7, 18 ff. für das Bayer. Ärztegesetz). Dies trifft für die Hess. RAO zu, die
die Reichsrechtsanwaltsordnung ersetzt hat (ebenso BVerwG 1, 99).
Dementsprechend ist das Hess. Gesetz zur Einführung der RAO zweimal durch
Bundesgesetze (BGBl. 52 I 830, 55 I 865) geändert worden und die Aufhebung der
Hess. RAO im Entwurf einer Bundesrechtsanwaltsordnung (3. Wahlperiode
Drucksache 120 § 245 Abs. 1 Ziff. 20) vorgesehen.
2) Zu einer Prüfung, ob die die Ehrengerichtsbarkeit regelnden Bestimmungen der
RAO insoweit nicht Bundesrecht geworden sind, als sie dem GG widersprechen, ist
der Staatsgerichtshof nicht befugt. Er würde damit prüfen, ob Recht, das im Falle
seines Fortgeltens Bundesrecht ist, mit dem GG vereinbar ist. Der
Staatsgerichtshof kann Recht nur am Maßstab der Landesverfassung messen.
Seine Zuständigkeit beschränkt sich im vorliegenden Fall auf die Prüfung, ob
Vorschriften der Hess. RAO wegen Unvereinbarkeit mit der HV schon vor Erlass
des GG nichtig gewesen sind und daher nicht mehr in Bundesrecht umgewandelt
werden konnten. Hierfür ist er nach Art. 131 Abs. 1 HV zuständig. Zwar ist an sich
für Entscheidungen, welche den Geltungsbereich des Art. 125 GG betreffen, nach
Art. 126 die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts gegeben. Diese kann
sich aber nicht auf Vorfragen des Landesverfassungsrechts erstrecken, deren
Lösung eine Voraussetzung der Transformierung von Landesrecht in Bundesrecht
ist. Insoweit ist die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes eine ausschließliche.
Diesen Standpunkt hat der Staatsgerichtshof in seiner Entscheidung vom
24.6.1955 (P.St. 68 - Staats-Anzeiger 55, 827 unter II 2) für das Hess.
Aufbaugesetz eingenommen. Er befindet sich hierbei in Übereinstimmung mit der
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Aufbaugesetz eingenommen. Er befindet sich hierbei in Übereinstimmung mit der
bisherigen Rechtsprechung des Bayer. VerfGHofes (vgl. VGH n.F. 4 II 109, 131 und
9 II 27, 32). Dieser hat allerdings in zwei Entscheidungen vom 2.5.1957 (VGH n.F.
10 II 15 und DÖV 57, 664) erklärt, daß er seine Zuständigkeit für ehemaliges
Reichsrecht, das unter Art. 125 GG fällt, nicht länger in Anspruch nehmen könne.
Er hält es nicht für vertretbar, daß durch die Entscheidung eines
Landesverfassungsgerichts nur mit Beschränkung auf ein Bundesland eine
Vorschrift aus dem Bestande des im gesamten Bundesgebiet als geltend
betrachteten Rechts herausgebrochen werde. Diese Erwägung trifft aber für den
vorliegenden Fall, wo ein neues Bandesgesetz mit einer ganz anderen Verfassung
der Ehrengerichte an die Stelle des früheren Reichsgesetzes getreten ist, nicht zu,
so daß für den Staatsgerichtshof kein Anlaß besteht, seinen Standpunkt
aufzugeben.
Die Frage, ob die Hess. RAO, soweit sie die Ehrengerichtsbarkeit regelt, der HV
widerspricht, ist Jedoch zu verneinen. Der Antragsteller beruft sich in erster Linie
darauf, die Zusammensetzung der Ehrengerichte widerspreche den Art. 126, 127
HV. Diese Artikel enthalten zwar keine Grundrechte, doch könnte der Antragsteller
durch Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes, wie schon ausgeführt, in
einem Grundrecht verletzt sein. Das ist aber nicht der Fall. Mögen auch die
Ehrengerichte der Hesse. Rechtsanwaltskammern nicht den an ein staatliches
Gericht zu stellenden Anforderungen entsprechen, so genügt doch der
Ehrengerichtshof, wie der Antragsteller selbst anerkennt, diesen Erfordernissen
(ebenso Hess. VerwGH in NJW 54, 1262, ferner Bayer. VerfGHof in VGH n.F. 4 II 42,
43 für die entsprechenden Vorschriften der Bayer. RAO und BVerfGE 4, 92 für das
ärztliche Berufsgericht Niedersachsen). Das Prinzip des Rechtsstaates gebietet
nicht, daß der Rechtsweg in allen Zweigen einen Instanzenzug habe (so BVerfGE 4,
74, 95); auch die HV verlangt dies nicht. Richtig ist, daß die Hess. RAO den
Ehrengerichtshof als Berufungsgericht einsetzen wollte. Sieht man in den
Ehrengerichten nur Verwaltungsbehörden, so ist die "Berufung" als
Anfechtungsklage zum Ehrengerichtshof zu werten (ebenso Bayer. VerfGHof in
VGH n.F. 4 II 44). Dies ist eine verfassungskonforme Auslegung der Hess. RAO; ein
Gesetz ist nicht für nichtig zu erklären, wenn es im Einklang mit der Verfassung
ausgelegt werden kann (vgl. BVerfGE 2, 266, 282; Bayer. VerfGHof a.a.O.; Hess.
StGH Urt. v. 24.6.1955 a.a.O. unter IV a.E.). Der Antragsteller vertritt weiter die
Auffassung, die Ehrengerichte seien Ausnahmegerichte und widersprächen dem
Art. 20 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 HV. Auch diese Auffassung ist unrichtig. Die
Ehrengerichte sind keine Ausnahmegerichte, weil sie nicht für einzelne Fälle oder
einzelne Personen eingerichtet, ihnen vielmehr alle Berufsangehörigen hinsichtlich
ihrer Berufspflichten unterworfen sind (ebenso Bayer. VerfGHof in VGH n.F. 4 II 43;
vgl. Bonner Komm. Anm. II zu Art. 101 GG). Art. 20 Abs. 2 aber, der die
Aburteilung durch ein ordentliches Gericht verlangt, kann sich nur auf den
eigentlichen Strafprozeß beziehen (so auch Zinn-Stein HV Anm. 5 zu Art. 20),
nicht auf dienststraf- oder ehrengerichtliche Verfahren.
3) Soweit der Antragsteller sich darauf beruft, das Ehrengericht sei für seinen Fall
nicht zuständig gewesen und er werde durch das Urteil des Ehrengerichts in
seinem Recht der freien Meinungsäußerung beschränkt, ist der Staatsgerichtshof
für die Entscheidung nicht zuständig, da die Hess. RAO vor der Urteilsfällung
Bundesrecht geworden ist und das sie auslegende und anwendende Urteil lediglich
am Grundgesetz zu messen ist (vgl. Art. 31 GG).
Von einem Verfassungsbruch (Art. 147 Ziff. 2 HV) kann nicht die Rede sein; vgl.
Beschluß P.St. 212, zitiert in JZ 58, 565 (568).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.