Urteil des StGH Hessen vom 13.03.2017
StGH Hessen: hessen, soziales grundrecht, wahlberechtigung, ministerpräsident, antragsrecht, universität, meinung, eltern, anfechtungsklage, karenzzeit
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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 204
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 133 Verf HE, Art 59 Verf
HE, LernMFrhG HE
Leitsatz
1. a) Nach dem Wortlaut des Art. 133 HV mußte das vorlegende Gericht seine
Bedenken gegen die Rechtsnorm in den Beschluß aufnehmen, den es dem
Präsidentendes höchsten ihm übergeordneten Gerichts zuleitet.
b) Es ist jedoch ausreichend, wenn der Kammervorsitzende, der bei der Entscheidung
mitgewirkt hat, die Bedenken der Kammer formuliert.
2. a) Die Verfassung eines Landes der Bundesrepublik ist im Zweifel nur für denjenigen
bestimmt, der zu dem Lande eine enge, auf Dauer gerichtete Beziehung hat. Die
Unterrichtsgeldfreiheit nach Art. 59 I HV wird nur Deutschen gewährt, die in Hessen
ihren Wohnsitz haben.
b) § 3 des Gesetzes über Unterrichtsgeld- und Lernmittelfreiheit vom 16.02.1949 (GVBl.
S. 18) widerspricht nicht der Hessischen Verfassung.
Tenor
1. § 3 des Gesetzes über Unterrichtsgeld- und Lernmittelfreiheit vom 16.2.1949
GVBl. S. 18 widerspricht nicht der Hessischen Verfassung.
2. Die Entscheidung ergeht gebührenfrei; Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Nach Art. 59 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung des Landes Hessen (HV) ist in allen
öffentlichen Grund-, Mittel-, höheren Schulen und Hochschulen der Unterricht
unentgeltlich. Der Staatsgerichtshof hat in seinem Urteil vom 8.7.1949 P.St. 22
(StAnz. S. 348) diese Bestimmung für unmittelbar geltendes Recht erklärt.
Unter Berufung hierauf hat der sich zu Studienzwecken in Frankfurt (Main)
aufhaltende stud.phil. ..., der aus ... stammt, wo seine Eltern wohnen,
Unterrichtsgeldfreiheit für den Besuch der Johann Wolfgang Goethe-Universität in
Frankfurt (Main) in Anspruch genommen. Der Rektor der Universität hat die
Befreiung vom Unterrichtsgeld unter Bezugnahme auf § 3 des Gesetzes über
Unterrichtsgeld- und Lernmittelfreiheit vom 16.2.1949 abgelehnt. Nach dieser
Vorschrift wird Unterrichtsgeldfreiheit nur gewährt, wenn die Schüler, die
Studierenden oder deren Eltern und sonstigen Unterhaltspflichtigen im Lande
Hessen ihren Wohnsitz haben. Das gleiche gilt, wenn Gegenseitigkeit verbürgt ist.
... hat Anfechtungsklage gegen das Land Hessen erhoben. Das Verwaltungsgericht
in Frankfurt (Main) hat in der Verhandlung vom 18.1.1956 folgenden Beschluß
verkündet:
"Die Bedenken des Gerichts gegen die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des §
3 Ges. über Unterrichtsgeld- und Lernmittelfreiheit vom 16.2.1949 sollen gemäß
Art. 133 HVerf. dem Präsidenten des Hess. Verwaltungsgerichtshofes im Hinblick
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Art. 133 HVerf. dem Präsidenten des Hess. Verwaltungsgerichtshofes im Hinblick
auf die Herbeiführung einer Entscheidung des Staatsgerichtshofs mitgeteilt
werden."
Der Vorsitzende der beschließenden Kammer hat unter dem 27.1.1956 die Akten
"unter Bezugnahme auf den Gerichtsbeschluß vom 18.1.1956 gemäß Art. 133 HV"
dem Präsidenten des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs mit folgenden Zusatz
vorgelegt:
"Das Gericht hält die Vorschrift des § 3 Ges. v. 16.2.1949 für verfassungswidrig,
weil diese die in Art. 59 Abs. 1 Satz 1 HV als aktuelles Recht (StGH GVBl. 1949 S.
129) statuierte allgemeine Unentgeltlichkeit des Unterrichts über das nach Satz 4
aaO. zulässige Maß hinaus einschränkt. Das Bedenken ist für die Entscheidung des
Verwaltungsrechtsstreits von Erheblichkeit, weil das Gericht der Ansicht ist, daß
der Anfechtungskläger keinen Wohnsitz im Lande Hessen hat. Ihm steht daher
Unterrichtsgeldfreiheit für sein Studium an der Universität Ffm. nur dann zu, wenn
das in § 3 aaO. enthaltene Wohnsitzerfordernis für verfassungswidrig erklärt wird."
Der Präsident des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs hat die Akten des
Verwaltungsgerichts an den Hessischen Staatsgerichtshof mit nachstehendem
Schreiben weitergeleitet:
"Betr.: Antrag nach § 41 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof
Vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt (Main) schwebt die Anfechtungssache... /.
Land Hessen, deren Entscheidung bei Bejahung der sonstigen Voraussetzungen
von der Auslegung des Art. 59 Hess. Verf. abhängt. Die III. Kammer des
Verwaltungsgerichts Frankfurt (Main) hat gemäß Beschluß vom 18.1.1956 (III/V -
964/55) mir ihre Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit von § 3 des Gesetzes
über die Unterrichtsgeld- und Lernmittelfreiheit vom 16.2.1949 (GVBl. S. 18)
mitgeteilt, um mir die Möglichkeit zu geben, von dem Antragsrecht nach, § 41 des
Gesetzes über den Staatsgerichtshof Gebrauch zu machen."
Er hat folgenden Antrag gestellt:
Der Staatsgerichtshof des Landes Hessen möge eine Entscheidung darüber
herbeiführen,
I. ob die Unterrichtsgeldfreiheit nach Art. 59 I 1 Hess.Verf.
a) nur Personen, die ihren Wohnsitz in Hessen haben,
oder
b) auch Deutschen, die ihren Wohnsitz außerhalb Hessens haben, gewährt
wird.
II. (für den Fall, daß Art. 59 I 1 Hess.Verf. im Sinne von I b dieses Antrages
ausgelegt wird) ob § 3 des Gesetzes über Unterrichtsgeld- und Lernmittelfreiheit
vom 16.2.1949 (GVBl. S. 18) im Widerspruch Zu Art. 59 I 1 Hess.Verf. steht.
Zur Begründung seines Antrages hat er sich auf den Beschluß des
Verwaltungsgerichts vom 18.1.1956 und auf den Vorlagebericht vom 27.1.1956
bezogen.
Der Hessische Ministerpräsident hat beantragt,
den Antrag als unzulässig zurückzuweisen,
hilfsweise,
festzustellen, daß § 3 des Gesetzes über Unterrichtsgeld- und
Lernmittelfreiheit vom 16. Februar 1949 (GVBl. S. 18) nicht der Hessischen
Verfassung widerspricht.
Er hat Bedenken gegen die Zulässigkeit des Antrags daraus hergeleitet, daß der
Beschluß des Verwaltungsgerichts nicht den Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 1
Satz 1 HV genüge, da aus ihm weder hervorgehe, daß das Gericht den § 3 des
Gesetzes für verfassungswidrig erachte, noch welche Zweifel gegen die
Verfassungsmäßigkeit bestünden; das Vorlageschreiben vom 27.1.1956 könne die
Mängel des Beschlusses nicht beheben. Ein vom Art. 133 HV Losgelöstes
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Mängel des Beschlusses nicht beheben. Ein vom Art. 133 HV Losgelöstes
Antragsrecht stehe aber dem Präsidenten des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofes nicht zu.
In der Sache selbst ist der Hessische Ministerpräsident der Meinung, daß der
Anspruch auf Unterrichtsgeldfreiheit nach dem Sinn der Verfassungsbestimmung
nur den Deutschen zustehe, die im Lande ihren Wohnsitz haben.
Der Hessische Minister für Erziehung und Volksbildung hat sich am Verfahren
beteiligt und zum § 3 des Gesetzes und zum Art. 59 HV den gleichen Standpunkt
eingenommen wie der Hessische Ministerpräsident.
Der Landesanwalt ist den Ausführungen des Hessischen Ministerpräsidenten
beigetreten, ohne sich dem Verfahren anzuschließen.
Dem Vorsitzenden und dem Berichterstatter des Kulturpolitischen Ausschusses
des Landtags, die mit den Vorarbeiten für das Gesetz befaßt waren, ist vor der
Hauptverhandlung Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden.
Gemäß § 42 Abs. 2 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof (StGHG) ist den an
dem Verwaltungsstreitverfahren Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme in der
Hauptverhandlung gewährt worden.
II.
Der Antrag ist nach Art. 133 HV zulässig.
Zweifellos wollte das Verwaltungsgericht in seinem Beschluß vom 18.1.1956 zum
Ausdruck bringen, daß es § 3 des Gesetzes für verfassungswidrig halte; nur so
kann der im Beschluß enthaltene Hinweis auf Art. 133 HV verstanden werden.
Zwar wäre es nach dem Wortlaut des Art. 133 HV Sache des Gerichts gewesen,
seine Bedenken in die Gründe des Beschlusses aufzunehmen, den es dem
Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofes vorlegte. Allein es wäre formalistisch,
dem Entscheidungsbegehren des Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofes nur
deshalb nicht, zu entsprechen, weil die Kammer des Verwaltungsgerichts ihre
Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nicht selbst
niedergelegt, sondern deren Ausführung dem Kammervorsitzenden überlassen
hat, der bei der Entscheidung mitgewirkt hat.
Dem steht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 3, 47
nicht entgegen; denn dort hatte der Präsident des Gerichte, der die Bedenken
formulierte, an der Entscheidung des Gerichts nicht mitgewirkt.
Damit erübrigt sich eine Stellungnahme zu der Frage, ob den Präsidenten der
höchsten Landesgerichte - unabhängig von den Voraussetzungen des Art. 133 HV
- ein selbständiges Antragsrecht zusteht; da der Präsident des
Verwaltungsgerichtshofes mit der Ausübung eines solchen Rechtes hier dasselbe
Ziel erstreben würde wie mit der Vorlage nach Art. 133 HV, zu der er verpflichtet
ist, würde es insoweit am Rechtsschutzbedürfnis fehlen (vgl. Geiger, Gesetz über
das Bundesverfassungsgericht § 24 Anm. 5 b ff und Stein-Jonas-Schönke,
Zivilprozeßordnung 18. Aufl., Einleitung D III, insbes. 2 b, c).
III.
Unter dem Wohnsitz im Sinne des § 3 des Gesetzes ist nach dem Sinn und Zweck
dieser Vorschrift der bürgerlich-rechtliche Wohnsitz des § 7 BGB zu verstehen. § 3
ist nur dann rechtsgültig, wenn er sich im Rahmen des Art. 59 HV hält. Es bedarf
daher der Klärung, inwieweit dieses Grundrecht den persönlichen Geltungsbereich
der Unterrichtsgeldfreiheit abgrenzt.
Daß sich aus der Fassung des Art. 59 HV und seiner Einreihung in den ersten
Hauptteil der Verfassung kein Anhaltspunkt für seinen Geltungsbereich
entnehmen läßt, hat der Staatsgerichtshof bereits in seiner Entscheidung vom
11.5.1956 P.St. 191 dargelegt; dort ist auch ausgeführt, daß es sich bei der
Unterrichtsgeldfreiheit um ein soziales Grundrecht handelt, welches als neues,
noch vages, der Differenzierung zugängliches Recht einschränkend auszulegen ist.
Die Verfassung eines Gliedstaates ist im Zweifel nur für diejenigen bestimmt, die
zu dem Lande eine enge, auf die Dauer gerichtete räumliche Beziehung haben, so
daß das Grundrecht der Unterrichtsgeldfreiheit grundsätzlich nur solchen Personen
gewährt ist, bei denen diese Verbundenheit besteht. Das können aber mangels
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gewährt ist, bei denen diese Verbundenheit besteht. Das können aber mangels
eines anderen, die Abgrenzung sicher ermöglichenden Anknüpfungspunktes nur
die Deutschen sein, die in Hessen ihren Wohnsitz haben.
Bei der Beratung des Gesetzes, das den nach der damaligen Auffassung in Art. 59
Abs. 1 Satz 1 HV enthaltenen Programmsatz verwirklichen sollte, haben mehrere
Abgeordnete diesen Gedanken zum Ausdruck gebracht, indem sie von einer Pflicht
des Staates gegenüber den Staatsbürgern oder dem Hessischen Volk sprachen
(Sitzung vom 12.1.1949, Drucksachen des Landtags, Abt. III S. 1854/55, 1859).
Die hier aufgeworfene Frage hat schon in dem Verfahren des Staatsgerichtshofes
P.St. 22 insofern eine Rolle gespielt, als die Meinung vertreten wurde, daß es sich
bei Art. 59 Abs. 1 Satz 1 HV nicht um ein aktuelles Recht handeln könne, weil der
Personenkreis der zu Begünstigenden nicht fest umrissen sei. Demgegenüber ist
damals vom Landesanwalt geltend gemacht worden, die Bestimmung des § 3 des
Gesetzes hätte - ohne daß es eines Ausführungsgesetzes bedurfte - von der
Rechtsprechung unmittelbar aus Art. 59 HV entwickelt werden können. Dieser
Auffassung hat sich der Staatsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 8.7.1949
angeschlossen und damit zum Ausdruck gebracht, daß § 3 des damals bereits
erlassenen Gesetzes nur erläuternden, nicht einschränkenden Charakter hat.
Demgegenüber kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, daß die
Erwägungen, die zur Wahlberechtigung von Personen ohne Wohnsitz in Hessen
geführt haben, auch hier durchgreifen müßten. Allerdings hat das
Wahlprüfungsgericht beim Hessischen Landtag in seinen Entscheidungen vom
23.3.1951 (StAnz. 1951 Beilage Nr. 11 zu Nr. 23) und vom 16.3.1955 (StAnz. 1955
S. 521), obwohl Art. 73 HV und die Gesetze über die Wahlen zum Landtag vom
18.9.1950 (GVBl. S. 171) und vom 15.7.1954 (GVBl. S. 133) die Wahlberechtigung
an den Wohnsitz knüpfen, die Begründung eines Wohnsitzes im Sinne des § 7 BGB
nicht als zwingende Voraussetzung der Wahlberechtigung, vielmehr schon die
Begründung, eines "Wahlwohnsitzes" als ausreichend angesehen. Der Begriff
"Wahlwohnsitz", vom Wahlprüfungsgericht aus Zweckmäßigkeitserwägungen
verwendet, gewinnt aber nur Bedeutung bei der Ausübung bestimmter
staatsbürgerlicher Rechte und ist bei seinem Ausnahmecharakter der
ausdehnenden Auslegung nicht fähig. Dabei darf auch nicht verkannt werden, daß
die entsprechende Anwendung der zur Frage der Wahlberechtigung in der
Rechtsprechung des Wahlprüfungsgerichts entwickelten Grundsätze insofern zu
einer nicht zu rechtfertigenden Einschränkung der Unterrichtsgeldfreiheit führen
würde, als dann die Begründung des bürgerlich-rechtlichen Wohnsitzes allein nicht
die Vergünstigung des Art. 59 Abs. 1 Satz 1 HV nach sich ziehen könnte, vielmehr
der Ablauf der in den Wahlgesetzen vorgesehenen Karenzzeit abgewartet werden
müßte.
Der Staatsgerichtshof tritt jedenfalls insoweit der Entscheidung des
Wahlprüfungsgerichts vom 16.3.1955 bei, als in ihr ausgeführt wird, daß sich
"Wahlrecht und Recht auf Unterrichtsgeldfreiheit nicht decken".
§ 3 des Gesetzes vom 16.2.1949 steht daher mit der Hessischen Verfassung nicht
in Widerspruch.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.