Urteil des SozG Wiesbaden vom 23.10.2006

SozG Wiesbaden: fahrtkosten, alter, pflege, darlehen, aufrechnung, bahn, niedersachsen, ermessensausübung, glaubhaftmachung, rückzahlung

Sozialgericht Wiesbaden
Beschluss vom 23.10.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Wiesbaden S 16 AS 376/06 ER
Hessisches Landessozialgericht L 9 AS 261/06 ER
Die Antragsgegnerin wird im Rahmen der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller die für seine Person
seit dem 23. August 2006 bis einschließlich 30. November 2006 tatsächlich entstandenen und tatsächlich
entstehenden Fahrtkosten zur Ausübung des Umgangsrechts mit seinem Sohn ... in H. (Schleswig-Holstein) bis zu
einer Höhe von monatlich 252,- EUR vorläufig als Darlehen zu gewähren.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zur Hälfte zu tragen.
Gründe:
Der am 23. August 2006 bei dem Sozialgericht Wiesbaden eingegangene Antrag, mit dem der Antragsteller
sinngemäß begehrt, die Antragsgegnerin vorläufig zu verpflichten, dem Antragsteller die Reisekosten für zwei
Besuche pro Monat zur Pflege des Umgangsrechts mit seinem Sohn in F. zu gewähren, hat nur teilweise Erfolg.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn dies zur Abwehr
wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies setzt voraus, dass das Bestehen eines zu sichernden Rechts
(Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht werden, § 86 b Abs.
2 Satz 3 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO).
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ein Anspruch auf darlehensweise Gewährung der
durch Ausübung des Umgangsrechts entstehenden Fahrtkosten des Antragstellers ergibt sich mit hoher
Wahrscheinlichkeit aus § 23 Abs. 1 SGB II. Danach kann im Einzelfall ein von den Regelleistungen umfasster und
nach den Umständen unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts bei entsprechendem Nachweis als
Sach- oder Geldleistung durch Darlehensgewährung erbracht werden, wenn er weder durch das Vermögen noch auf
andere Weise gedeckt werden kann. Das Umgangsrecht steht unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1
Grundgesetz (GG). Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen
obliegende Pflicht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG). Das Umgangsrecht des § 1626 BGB sichert die Verwirklichung dieses
Rechts und die Erfüllung der Verpflichtung. Es spricht daher Einiges dafür, dass der Bedarf eines nach § 7 SGB II
leistungsberechtigten Elternteils, das Umgangsrecht mit dem getrennt lebenden Kind auszuüben, zum Grundbedürfnis
seines täglichen Lebens zählt und von der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 20 Abs. 1 SGB
II umfasst ist. Im Falle außergewöhnlich hoher Kosten wegen der Entfernung zum Wohnsitz des Kindes dürfte daher
nach § 23 Abs. 1 SGB II grundsätzlich ein unabweisbarer Bedarf vorliegen (vgl. zum Ganzen: BVerfG, Beschluss
vom 25. Oktober 1994, Az.: 1 BvR1197/93; BVerwG, Urteil vom 22. August 1995, Az.: 5 C 15/94 zum alten
Sozialhilferecht des BSHG; Bayr. LSG, Beschl. vom 4. Oktober 2005; Az.: L 11 B 441/05 SO ER; LSG
Niedersachsen - Bremen vom 28.04.2005 Az: L 8 AS 57/05 ER; SG Wiesbaden, Beschluss vom 31. August 2005,
Az.: S 15 AS 112/05 ER zur Rechtslage nach dem SGB II). Schließt man § 23 Abs. 1 SGB II mangels einer Nähe zu
Bedarfen des täglichen Lebens oder wegen der Dauerbelastung, die einer darlehensweisen Gewährung entgegensteht,
als Rechtsgrundlage aus, so käme als Anordnungsanspruch § 73 SGB XII i. V. m. Art. 6 GG in Betracht. Es handelt
sich um einen Auffangtatbestand, der Bedarfe erfassen soll, die ansonsten in den Grundsicherungssystemen nach
dem SGB II und XII nicht hinreichend geregelt sind. In diese Anspruchsgrundlage auch Sonderbedarfe, wie die Kosten
des Umgangsrechts mit dem eigenen Kind, einzubeziehen, steht nicht notwendigerweise entgegen, dass die
Rechtsprechung des BVerwG für den Geltungszeitraum des BSHG entschieden hat, solche Sonderbedarfe als
Bedarfe zum Lebensunterhalt anzusehen (BVerwG a. a. O.), die nach Maßgabe der Regelungen zum Lebensunterhalt
zu decken sind. Insoweit ist zu erwägen, dass die Reichweite eines Auffangtatbestandes sich nach den Lücken
bestimmt, die das Anspruchssystem im Übrigen lässt. Im Gegensatz zum Sozialhilferecht (§ 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII
; vormals §§ 21 Abs. 1 , 22 Abs. 1 S. 2 BSHG) sieht das SGB II zur Sicherung des Lebensunterhalts grundsätzlich
nur die an einem durchschnittlichen Bedarf orientierte pauschale Regelleistung gemäß § 20 SGB II vor. Ein hiervon
abweichender Sonderbedarf, der durch Ansparbeträge aus der Regelleistung nicht zu decken ist, wird nicht gesondert
erfasst. Zwar ist der Regelleistung eine abschließende Regelung zur Höhe der Bedarfsdeckung des regelmäßig
notwendigen Lebensunterhalts zu entnehmen, der nicht durch den Auffangtatbestand des § 73 SGB XII korrigiert
werden darf. Hinsichtlich der Sonderbedarfe hat der Gesetzgeber aber unter Berücksichtigung der von ihm im
Umkehrschluss zu § 5 Abs. 2 S. 1 SGB II, § 21 S. 1 SGB XII ausdrücklich eröffneten Anspruchsverpflichtung gemäß
§ 73 SGB XII gegenüber Berechtigten nach dem SGB II und der verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Behandlung
von Sonderbedarfen nicht zum Ausdruck gebracht, insoweit eine Bedarfsdeckung nach § 73 SGB XII ausschließen zu
wollen (vgl. ausführlich zum Ganzen: SG Darmstadt, Urteil vom 15. März 2006, Az.: S 18 AS 146/05). Vorliegend
konnte das Gericht offen lassen, welcher der beiden denkbaren Anordnungsansprüche in Betracht kommt, da eine
Bedarfsdeckung nach den vom BVerfG herausgearbeiteten Grundsätzen im Leistungssystem der SGB II und SGB XII
zwingend zu erfolgen hat und die Antragsgegnerin als Optionskommune in beiden Fällen passiv legitimiert ist.
Eine Möglichkeit, die Fahrtkosten aus dem Vermögen zu decken, ist nach Lage der Verwaltungsakten der
Antragsgegnerin nicht erkennbar.
Die Antragsgegnerin hat somit die Fahrtkosten des Antragstellers dem Grunde nach zu übernehmen. Nach § 23 Abs.
1 SGB II darlehenweise zu gewähren sind die tatsächlich entstanden Fahrtkosten, wobei sich deren Höhe auf den
Fahrpreis bei der hier möglichen und zumutbaren Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel in der zweiten Klasse, hier: der
Nutzung des Tarifs "Sparpreis 25" der Deutschen Bahn AG auf der Strecke W.-F. beschränkt. Dem Antragsteller ist
es zuzumuten, mittelfristig seine Besuchsfahrten zu planen und den entsprechenden Sondertarif der Bahn zu nutzen.
Eine Nutzung des "Sparpreises 50" scheidet wegen der strikten Wochenendbindung aus. Weiterhin ist es dem
Antragsteller zuzumuten, darüber hinaus anfallende – und bislang auch nicht glaubhaft gemachte – Kosten für
Busfahrten im Nahverkehr F.-H. aus dem Regelsatz zu bestreiten. Zur Klarstellung wird ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass die Antragsgegnerin lediglich die dem Antragsteller für seine Person entstehenden Fahrtkosten zu
erstatten hat – und nicht die Fahrtkosten des Kindes. Bei diesen Fahrtkosten handelt es sich um einen Bedarf des
Kindes.
Als vorläufige Regelung zur Höhe des Mehrbedarfs hält das Gericht die Kosten für drei Besuche in zwei Monaten für
sachgerecht. Dabei war einerseits zu berücksichtigen, dass es kein abstraktes Maß für den Bedarf zur Pflege des
Umgangsrechts gibt. Aus den zitierten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des
Bundesverfassungsgerichts kann insbesondere nicht hergeleitet werden, dass Besuche im Zwei-Wochen-Takt
gleichsam den "Regelfall" des Bedarfes darstellten, wie offenbar der Antragsteller meint. Zu berücksichtigen sind
vielmehr in jedem Einzelfall Alter, Entwicklung und Zahl der Kinder, Intensität ihrer Bindung zum
Umgangsberechtigten, Einstellung des anderen Elternteils zum Umgangsrecht, Vorliegen und Inhalt einverständlicher
Regelungen, Entfernung der jeweiligen Wohnorte beider Elternteile und Art der Verkehrsverbindungen etc. (BVerwG a.
a. O.). Insoweit hat der Antragsteller lediglich zum Alter und zum Wohnort Angaben gemacht; mangels
Glaubhaftmachung mussten die übrigen Gesichtspunkte - die allein in der Sphäre des Antragstellers Iiegen - im
hiesigen Eilverfahren außer Betracht bleiben. Das Alter des Kindes spricht in diesem Zusammenhang allerdings
deutlich dafür, dass das von der Antragsgegnerin vorgeschlagene Sechs-Wochen-Intervall am Maßstab des Art. 6 GG
unzureichend ist. Vor dem Hintergrund, dass im Eilverfahren keine optimale, sondern nur eine nachteilsverhindernde
Regelung getroffen werden muss, sind drei Besuche in zwei Monaten sachgerecht. Andererseits geht die
Antragsgegnerin fehl in der Annahme, dass allein wegen der Entfernung nach Schleswig-Holstein der Anspruch
"gedeckelt" werden könnte. Die Entfernung und die Art der Verkehrsverbindungen sind zwei Gesichtspunkte von
vielen, denen freilich im Extremfall (etwa Tagesreisen mit dem Flugzeug) eine stark begrenzende Funktion mit hohem
Gewicht zukommen kann. Von einem solchen Extremfall ist der vorliegende indes weit entfernt.
Der Antragsteller hat die tatsächlichen entstehenden bzw. entstandenen Kosten jeweils nachzuweisen.
Der Ausspruch war weiterhin auf eine Gewährung als Darlehen zu begrenzen, um einerseits der Rechtsfolge des § 23
Abs. 1 SGB II Rechnung zu tragen und andererseits nicht vor einer Ermessensausübung der Antragsgegnerin im
Rahmen des § 73 SGB XII vollendete Tatsachen zu schaffen. Sowohl hierbei als auch bei der Regelung der
Rückzahlung eines Darlehens wird die Antragsgegnerin allerdings zu beachten haben, dass ein Darlehen gemäß § 23
Abs 1 Satz 3 SGB II durch monatliche Aufrechnung in Höhe von bis zu 10 vom Hundert der an den Antragsteller zu
zahlenden Regelleistung zu tilgen ist. Im Hinblick auf die Höhe der zu gewährenden Leistungen könnte darin
möglicherweise ein Verfassungsverstoß liegen, weil der Antragsteller dann durch die Ausübung seines durch Art 6
Abs 2 GG geschützten Umgangsrechts auf Dauer finanziell nachteilig behelligt wird. Wenn die Leistungen nach § 23
Abs 1 Satz 1 SGB II für längere Zeit – etwa mehr als 1 Jahr – zu zahlen sind, wird die Antragsgegnerin prüfen
müssen, ob sie im Wege der Ermessensausübung von einer Aufrechnung absieht (LSG Niedersachsen-Bremen a. a.
O.). Denn im Wege verfassungskonformer Auslegung unter Berücksichtigung der Regelung in § 37 Abs 2 SGB XII
und § 44 SGB II könnte dazu Anlass bestehen (vgl. dazu Conradis in: Rothkegel, Handbuch Sozialhilferecht 2005,
Teil III Kapitel 18, Rdnr 16, Seite 398ff.).
Ein Anordnungsgrund ist ebenfalls glaubhaft gemacht. Eine Entscheidung des Gerichts im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren ist erforderlich zur Abwehr wesentlicher Nachteile. Ohne die vorläufige Gewährung der
Fahrtkosten besteht die Gefahr, dass der Antragsteller sein nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschütztes Umgangsrecht
mit seinem Sohn aus finanziellen Gründen nicht mehr ausüben kann. Es ist offensichtlich, dass der Antragsteller die
im Ausspruch genannte Summe nicht aus dem Regelsatz decken kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Da der Antragsteller mit seinen
Anträgen nur teilweise Erfolg hat, entspricht es billigem Ermessen, dass die Antragsgegnerin die außergerichtlichen
Kosten des Antragstellers anteilig zur Hälfte zu tragen hat.