Urteil des SozG Ulm vom 19.10.2009

SozG Ulm (örtliche zuständigkeit, sgg, ambulante behandlung, auslegung, stationäre behandlung, vertrag, zuständigkeit, vergütung, behandlung, niedersachsen)

SG Ulm Beschluß vom 19.10.2009, S 13 KR 529/09
Örtliche Zuständigkeit - Vertrag auf Landesebene nach § 112 Abs 1 SGB 5
Leitsätze
Die Zuständigkeitsregelung in § 57a Abs. 3 SGG greift nicht allein dann ein, wenn ein Rechtsstreit sich
ausschließlich auf den Bestand oder die Auslegung eines Landesvertrages bezieht.
Tenor
1.) Das Sozialgericht Ulm erklärt sich für örtlich unzuständig.
2.) Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht Stuttgart verwiesen.
Gründe
I.
1
Die Beteiligten streiten sich um die Vergütung für die stationäre Behandlung vierer bei der Beklagten
versicherter Patienten.
2
Die Klägerin, die der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft angehört, betreibt ein Krankenhaus.
Dort wurden zwei Versicherte jeweils im Mai und Juli 2004 sowie zwei weitere Versicherte jeweils im Juli 2005
und 2006 aus unterschiedlichen Gründen stationär behandelt. Die hierfür geltend gemachten Vergütungen
wurden von der Beklagten zunächst in voller Höhe bezahlt. Im weiteren Verlauf verrechnete die Beklagte sie
jedoch teilweise mit anderen Forderungen der Klägerin, weil sie die Auffassung vertrat, dass in den genannten
Fällen jeweils eine ambulante Behandlung ausreichend gewesen wäre.
3
Die Klägerin verlangte von der Beklagten zunächst die Rückzahlung der verrechneten Beträge.
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Mit der am 11. Februar 2009 zum Sozialgericht Ulm erhobenen Klage begehrt die Klägerin die Verurteilung der
Beklagten zur Rückzahlung des durch Aufrechnung nachträglich einbehaltenen Teilbetrages in Höhe von
insgesamt 3.444,09 EUR.
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Mit Schreiben vom 7. September 2009 hat die Kammer die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es sich auf
der Grundlage von § 57a Abs. 3 SGG in der ab 1. April 2008 geltenden Fassung für örtlich unzuständig halte
und eine Verweisung an das Sozialgericht Stuttgart beabsichtige. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur
Stellungnahme bis zum 15. Oktober 2009. Die Beteiligten haben zu diesem Hinweis nicht Stellung genommen.
6
Auf den Inhalt des Hinweisschreibens vom 7. September 2009 (Bl. 20 der Gerichtsakte) wird verwiesen.
II.
7
Nach § 98 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 17a Abs. 2 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes
(GVG) hat das SG Ulm vorliegend seine örtliche Unzuständigkeit auszusprechen und den Rechtsstreit an das
SG Stuttgart zu verweisen.
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Die örtliche Zuständigkeit richtet sich vorliegend nach § 57a Abs. 3 SGG in der seit dem 1. April 2008
geltenden Fassung (vgl. Art. 5 SGGArbGGÄndG). Danach ist in Angelegenheiten, die Entscheidungen oder
Verträge auf Landesebene betreffen, das Sozialgericht zuständig, in dessen Bezirk die Landesregierung ihren
Sitz hat.
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Da die Klage am 11. Februar 2009 erhoben wurde, ist diese Norm im vorliegenden Verfahren anwendbar.
10 Die Klage betrifft auch einen Vertrag auf Landesebene, nämlich den gemäß § 112 Abs. 1 Sozialgesetzbuch -
Fünftes Buch (SGB V) zwischen der baden-württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG) und den
Landesverbänden der Krankenkassen abgeschlossenen Vertrag über die Allgemeinen Bedingungen der
Krankenhausbehandlung nach § 112 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V vom 21. September 2005 (Datum der
Entscheidung der Landesschiedsstelle). Die Beklagte ist Mitglied in der BWKG. Der Rechtsstreit betrifft den
Landesvertrag, weil die §§ 108 ff. SGB V zwar eine grundsätzliche Vergütungspflicht der Krankenkassen auch
für im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB V erforderliche stationäre Krankenhausbehandlungen
selbstverständlich voraussetzen, wenn ein gesetzlich Versicherter in einem zugelassenen Krankenhaus
behandelt wird und die Anspruchsvoraussetzungen im übrigen vorliegen (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl.
v . 5. Januar 2009 - L 1 B 73/08 KR - juris Rz. 14 mit Verweis auf BSG, Urt. v. 17. Mai 2000 - B 3 KR 33/99 R -
SozR 3-2500 § 112 Nr. 1).
11 § 57a Abs. 3 SGG ist dabei auch nicht so auszulegen, als beschränke er sich auf Angelegenheiten des
Vertragsarztrechts oder auf Fragen, die ausschließlich das Bestehen oder die Auslegung eines Vertrages auf
Landesebene berührten.
12 Dies zeigt bereits der Wortlaut der Norm. Danach muss die Angelegenheit eine Entscheidung oder einen
Vertrag „betreffen“. Dieser Begriff mag so verstanden werden, dass sich der Gegenstand eines Rechtsstreits in
einer reinen Rechtsfragen erschöpft, also allein die Auslegung einer bestimmten Vertragsklausel im Streit steht
oder die Frage im Raum steht, ob der Vertrag überhaupt wirksam abgeschlossen wurde (hierfür etwa Schreiber
in SGb 2009, S. 525 (526), der unter Verweis auf LSG Sachsen, Beschl. v. 13. Oktober 2008 - L 1 B 614/08
KR-ER und SG Dresden, Beschl. v. 5. Juni 2009 - S 18 KR 167/09 ein „qualifiziertes Betroffensein“ in dem
Sinne fordert, dass der Streitgegenstand des jeweiligen Verfahrens sich allein auf Rechtsfragen beschränkt).
Zwingend ist das aber nicht, denn als „betroffen“ kann ein Vertrag allein dem Wortsinn nach auch schon dann
verstanden werden, wenn sich daraus die Anspruchsgrundlage für eine eingeklagte Vergütung ergeben soll.
Hier könnte sich dann auch inzident etwa die Frage stellen, ob der Vertrag überhaupt wirksam abgeschlossen
worden ist.
13 In regelungssystematischer Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass der § 57a Abs. 3 SGG im Gegensatz zu den
Absätzen 1 und 2 ausdrücklich nicht von „Vertragsarztangelegenheiten“, sondern von „Angelegenheiten“
spricht. Wäre es dem Gesetzgeber darum gegangen, auch die inhaltliche Reichweite des Absatzes 3 allein auf
Vertragsarztangelegenheiten zu beschränken oder andere inhaltliche Begrenzungen einzubauen, so hätte er
das durch die Formulierung des Gesetzestextes ohne weiteres zum Ausdruck bringen können und, wie die
Absätze 1 und 2 zeigen, auch gebracht (hierfür auch LSG Niedersachsen-Bremen aaO, Rn. 15). Dass sich
dieselbe Formulierung in § 57a Abs. 4 SGG wiederfindet, spricht in systematischer Hinsicht nicht gegen eine
solche Auslegung.
14 Die Entstehungsgeschichte und insbesondere die Ausführungen in der Gesetzesbegründung sprechen
ebenfalls für das hier gefundene Ergebnis. Der Beschluss des BSG vom 27. Mai 2004 (B 7 SF 6/04 S; SozR 4-
1500 § 57a Nr. 2) hatte einen Rechtsstreit über einen Vergütungsanspruch eines Krankenhauses zur
Grundlage, kann jedoch der hier vertretenen Auslegung nicht entgegengehalten werden. Denn der vom BSG
vertretenen Rechtsauffassung, die zuvor geltende Fassung des § 57a SGG sei in allen damals schon
genannten Alternativen ausschließlich auf Vertragsarztangelegenheiten anzuwenden, ist der Gesetzgeber, der
dabei entsprechende Kritik aus dem Schrifttum (Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. 2002, § 57a, Rn. 6; Groß, in
Handkommentar-SGG, 2003, § 57a Rn. 7) aufgenommen hat, ausweislich der Gesetzesbegründung
ausdrücklich entgegengetreten (vgl. dazu BT-DS 16/7716; S. 17 und BR-DS 820/07, S. 20). Danach gilt § 57a
Abs. 3 SGG für vertragsärztliche und nichtvertragsärztliche Streitigkeiten auf Landesebene gleichermaßen.
15 Sinn und Zweck des § 57a Abs. 3 SGG legen ebenfalls eine Auslegung in der hier vertretenen Form nahe. Die
spezielle örtliche Zuweisung der genannten Rechtsstreitigkeiten erfolgt aus Gründen der Verwaltungsökonomie
und der Einheitlichkeit der Rechtsprechung (so BT-DS 16/7716 a.a.O.). Es handelt sich um eine äußerst
komplexe Materie, die eine Vielzahl von Sach- und Rechtsfragen birgt; etwa dann, wenn es um besondere
Therapierichtungen im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB V geht oder auch dann, wenn im Rahmen
konventioneller Therapierichtungen besondere Behandlungsformen (z. B. durch psychiatrische
Institutsambulanzen, § 118 SGB V) in Rede stehen. Es kommt hinzu, dass die Entscheidung des Großen
Senats des BSG zu den Voraussetzen der Gewährung vollstationärer Krankenhausbehandlung (Beschl. v. 25.
September 2007; BSGE 99, 111-122) neben einer Klarstellung auch eine Reihe von rechtlichen und
tatsächlichen Folgeproblemen mit sich bringt (vgl. hierzu BSG Urt. v. 10. April 2008 - B 3 KR 19/05 R; zur
Aufnahme in die amtliche Sammlung vorgesehen). Dabei geht es nicht ausschließlich um die Auslegung eines
Bundesgesetzes, nämlich des § 39 Abs. 1 SGB V. Vielmehr gibt der Landesvertrag selbst in § 3 die
Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung als Anspruchsvoraussetzung vor und konturiert diesen Begriff
näher. § 14 des Landesvertrages befasst sich indirekt mit der Dauer der Behandlung, indem dort die
Entlassung des Patienten vorgeschrieben wird, wenn die Behandlung nicht mehr notwendig ist.
16 Wie sich aus § 112 Abs. 2 Satz 1 SGB V weiterhin ergibt, regeln die Landesverträge im einzelnen die weiteren
Bedingungen der Krankenhausbehandlung bei Aufnahme und Entlassung der Versicherten, der
Kostenübernahme und noch weitere Vorgaben, die erfüllt sein müssen, damit ein konkreter
Vergütungsanspruch entsteht, sowie weiter gehende Fragen bis hin zu den zu entrichtenden Verzugszinsen
(dazu LSG Niedersachsen-Bremen aaO, juris Rn. 14). So ist es auch nach § 19 Abs. 2 des hier maßgeblichen
baden-württembergischen Landesvertrages für das Bestehen des Anspruchs regelmäßig von Belang, ob das
MDK-Überprüfungsverfahren durch die Krankenkasse rechtzeitig eingeleitet wurde. Dies ist jeweils vom Gericht
nachzuprüfen.
17 Aufgrund der Zuständigkeitsregelung in § 57a Abs. 3 SGG kann sich das zuständige Sozialgericht die
notwendige Fachkompetenz aneignen und eine einheitliche Rechtsprechung entwickeln. Auf diese Weise
entsteht auch ein höheres Maß an Rechtssicherheit für die Betroffenen. Darüber ist auch nicht mit der
Erwägung hinwegzugehen, dass § 57a Abs. 4 SGG in diesem Fall dazu führen müsse, sämtliche
Rechtsstreitigkeiten mit einer Berührung von Verträgen auf Bundesebene an das SG Berlin als Sitz der
(Kassenärztlichen Bundesvereinigung) oder das SG Köln (Sitz der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung)
zu verweisen (so aber SG Dresden, Beschl. v. 5. Juni 2009 - S 18 KR 167/09 mit Verweis auf die
Fallpauschalenvereinbarung zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und der Deutschen
Krankenhausgesellschaft). Diese Konsequenz ist jedoch nicht zwingend. Sie käme dann in Frage, wenn
ausschließlich um die Höhe der Fallpauschale, etwa wegen unterschiedlicher Auffassungen um die DRG-
Kodierung, gestritten wird. Sind gleichzeitig aber auch Fragen, die Verträge oder Entscheidungen auf
Landesebene betreffen, Gegenstand des Rechtsstreits, so lässt sich für einen solchen Fall aus der
systematischen Stellung des § 57a Abs. 4 SGG ableiten, dass dieser nur dann eingreifen soll, wenn nicht
bereits eine Zuständigkeit nach einem anderen Absatz des § 57a SGG besteht.
18 Zu bedenken ist weiterhin, dass eine Reduzierung der Reichweite des § 57a Abs. 3 SGG auf die Klärung reiner
Rechtsfragen die gerade beschriebene Zielsetzung dieser Regelung auszuhöhlen droht. Es ist nicht Aufgabe
der Sozialgerichte, als Gutachter zu abstrakten Rechtsfragen, wie etwa die Auslegung bestimmter
Vertragsinhalte oder das Zustandekommen oder Fortbestehen bestimmter Verträge tätig zu werden. Solcherlei
Fragen sind vielmehr regelmäßig in einen Rechtsstreit eingebettet, der aus Sicht der Beteiligten einen anderen
Ausgangspunkt hat. Streitigkeiten über die Vergütung für Krankenhausbehandlungen sind nur ein Beispiel
hierfür.
19 Die hier umstrittene Frage nach der Notwendigkeit einer stationären Krankenhausbehandlung zeigt noch eine
weitere Problematik eines Ansatzes auf, der für die Klärung der Frage der örtlichen Zuständigkeit nach strikt
nach Rechts- und Sachfragen unterscheiden will. Denn ob eine stationäre Krankenhausbehandlung notwendig
ist oder nicht und ob die konkreten Bedingungen des Landesvertrages zum Entstehen der Vergütung
eingehalten wurden, verursacht zwar regelmäßig eine Beweisaufnahme, die sich auf die Einholung ärztlicher
Befundberichte und medizinischer Sachverständigengutachten erstreckt (vgl. hierzu auch BR-DS 750/09, S. 5).
Gemäß der Rechtsprechung des BSG zur Notwendigkeit von Krankenhausbehandlungen handelt es sich aber
bei der medizinischen Erforderlichkeit, die § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V zur Bedingung einer stationären
Krankenhausbehandlung macht, um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Ausfüllung durch die Gerichten
in eigener Verantwortung zu erfolgen hat ist und nicht einem Sachverständigen überlassen werden darf (BSG
Urt. v. 10. April 2008 - B 3 KR 19/05 R - juris Rn. 23 und 42). Die Beantwortung der Rechtsfrage kann also
nicht in jedem Fall völlig isoliert von der Klärung der Sachfrage gesehen werden. Diesen Umstand räumt
letztlich auch Schreiber in SGb 2009, 525 (527) ein, wenn er davon spricht, dass sich erst durch die im
Rahmen der Amtsermittlung zur Kenntnis des Gerichts gelangten Tatsachen ergeben kann, dass sich hinter
dem Streit eine klärungsbedürftige Rechtsfrage in einer Entscheidung oder einem Vertrag auf Landesebene
verbirgt.
20 Soweit schließlich der Beschluss des SG Wiesbaden vom 9. Mai 2008 - S 17 KR 93/08 ER (juris) gegen ein
weites Verständnis des § 57a Abs. 3 SGG angeführt wird, so ist dazu zu bemerken, dass diese Norm für ihre
Anwendbarkeit voraussetzt, dass die Beteiligten den vertragsschließenden Landesverbänden, etwa der
Krankenkassen und der Landeskrankenhausgesellschaft, angehören. Dies war im vom SG Wiesbaden
entschiedenen Fall nicht gegeben (SG Wiesbaden aaO, Rn. 6), sodass § 57a Abs. 3 SGG von vorne herein
nicht eingreifen konnte. Daher ist jener Beschluss zur Klärung der hier zu entscheidenden Frage nur in Grenzen
verwertbar.
21 Abweichende landesrechtliche Regelungen im Hinblick auf die örtliche Zuständigkeit bestehen schließlich auch
nicht, sodass für den vorliegenden Rechtsstreit die örtliche Zuständigkeit des SG Stuttgart begründet ist.
22 Dieser Beschluss ist nach § 98 Satz 2 SGG unanfechtbar.