Urteil des SozG Leipzig vom 21.02.2007
SozG Leipzig: innere medizin, leistungsfähigkeit, verfügung, erwerbsfähigkeit, rente, minderung, arbeitsmarkt, halle, arbeitsunfähigkeit, arbeitslosigkeit
Sozialgericht Leipzig
Urteil vom 21.02.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Leipzig S 8 AL 591/05
I. Der Bescheid vom 11.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 11.10.2005 wird aufgehoben. II. Die
Beklagte wird verurteilt, dem Kläger auch für den Zeitraum 19.07. bis 23.11.2005 Arbeitslosengeld in gesetzlicher
Höhe zu bewilligen. III. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über Arbeitslosengeld.
Der am ... geborene Kläger ist gelernter Dreher. Er war ab 01.11.1993 beschäftigt als Lagermitarbeiter und
Gabelstaplerfahrer. Seit 05.02.2004 war er wegen einer Herzerkran-kung arbeitsunfähig und bezog vom 01.03.2004 bis
18.07.2005 Krankengeld. Nach 78 Wochen war er ausgesteuert. Das Arbeitsverhältnis endete durch Kündigung zum
31.05.2005 und Zahlung einer Abfindung.
Im Dezember 2004 hatte der Kläger bei der Knappschaft eine Rente wegen Erwerbsminde-rung beantragt. Gegen den
Ablehnungsbescheid hat er Widerspruch eingelegt, den die Knappschaft durch Widerspruchsbescheid zurückwies.
Beim Sozialgericht Chemnitz ist diesbezüglich ein Rentenverfahren anhängig. Es hat am 30.01.2007 Beweis erhoben
durch ärztliches Sachverständigengutachten.
Am 22.06.2005 beantragte der Kläger Arbeitslosengeld.
Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11.08.2005 ab. Der Kläger sei nicht arbeitslos, weil er ihren
Vermittlungsbemühungen nicht zur Verfügung stehe. Er sei auch nicht ar-beitsfähig, weil er auf Grund seiner
Arbeitsunfähigkeit nicht in der Lage sei, mindestens 15 Stunden in der Woche eine versicherungspflichtige
Beschäftigung auszuüben.
Hiergegen legte er am 15.08.2005 Widerspruch ein. Die Nahtlosigkeitsregelung greife auch gegenüber dem
Rentenversicherungsträger, soweit dessen Bescheid noch nicht in Bestandskraft erwachsen sei. Bei Vorsprache am
27.09.2005 legte er der Beklagten eine weitere Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung vor, wonach er keine Tätigkeiten
ausüben dürfe.
Durch Widerspruchsbescheid vom 11.10.2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Da er ihren
Vermittlungsbemühungen nicht zur Verfügung stehe, sei er nicht arbeitslos. Die Nahtlosigkeitsregelung greife
vorliegend nicht, weil bereits bei Antragstellung eine Entscheidung des Rentenversicherungsträgers vorgelegen habe.
Auf deren Bestands- oder Rechtskraft komme es nicht an.
Der Kläger hat deswegen am 17.10.2005 Klage zum Sozialgericht Leipzig erhoben. Die Nahtlosigkeitsregelung finde
auch auf Fälle laufender Rechtsmittelverfahren Anwendung. Ausweislich einer Bescheinigung der
Allgemeinmedizinerin Dr. J. vom 23.11.2005 könne der Kläger bis zu 3 Stunden am Tag mit leichter Arbeit belastet
werden. Durch Bescheid vom 02.02.2006 bewilligte ihm die Beklagte am 24.11.2005 Arbeitslosen-geld bis 23.01.2008
zu einem Leistungsbetrag von täglich 9,62 EUR. Nach Hinweis vom 03.03.2006 hat das Gericht noch Unterlagen der
Krankenkasse des Klägers, der AOK Sachsen, weitere medizinische Unterlagen der Universität A. – Herz-zentrum –
(Klinik für Innere Medizin/Kardiologie) vom 20.04.2006, sowie einen Befund-bericht von Frau Dr. J. vom 14.07.2006
beigezogen. Vom 15. bis 18.08.2006 befand sich der Kläger stationär im Herzzentrum.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 11.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.10.2005 aufzuheben und die Beklagte
zu verurteilen, dem Kläger Arbeitslosengeld auch für den Zeitraum 19.07. bis 23.11.2005 in gesetz-licher Höhe zu
bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf Akteninhalt, eine Gerichtsakte sowie
einen Verwaltungsvorgang der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid vom 11.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.10.2005 ist rechtswidrig und verletzt
den Kläger in seinen Rechten. Er hat einen Rechtsanspruch auf Bezug von Arbeitslosengeld auch für den Zeitraum
19.07. bis 23.11.2005.
Gemäß § 117 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) haben Arbeitnehmer Anspruch auf
Arbeitslosengeld bei Arbeitslosigkeit. Anspruch auf Arbeitslosengeld bei Arbeitslosigkeit haben Arbeitnehmer, die
arbeitslos sind, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und die Anwartschaftszeit erfüllt haben (§ 118 Abs.
1 Nr. 1-3 SGB III). Arbeitslos ist ein Arbeitnehmer, der nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht, sich bemüht,
seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden und den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung
steht (§ 119 Abs. 1 Nr. 1-3 SGB III). Vorliegend war der Kläger zwar auf Grund seiner Arbeitsunfähigkeit an der
tatsächlichen Aufnahme einer Tätigkeit gehindert, sodass er – entsprechend dem Vorbringen der Beklagten – den
Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit tatsächlich nicht zur Verfügung stand.
Gleichwohl wird auch bei Minderung der Leistungsfähigkeit im Wege der Nahtlosigkeit ein Anspruch auf
Arbeitslosengeld zuerkannt. Gemäß § 125 Abs. 1 SGB III hat Anspruch auf Arbeitslosengeld auch, wer allein deshalb
nicht arbeitslos ist, weil er wegen einer mehr als 6-monatigen Minderung seiner Leistungsfähigkeit
versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigungen nicht unter den
Bedingungen aus-üben kann, die auf dem für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarkt ohne Berücksichti-gung der
Minderung der Leistungsfähigkeit üblich sind, wenn verminderte Erwerbsfähig-keit im Sinne der gesetzlichen
Rentenversicherung nicht festgestellt worden ist. Die Fest-stellung, ob verminderte Erwerbsfähigkeit vorliegt, trifft der
zuständige Träger der gesetz-lichen Rentenversicherung. Nach Rechtsauffassung des erkennenden Gerichts ist unter
"Feststellung der verminderten Erwerbsfähigkeit durch den zuständigen Träger der gesetz-lichen Rentenversicherung"
die rechtskräftige Entscheidung zu verstehen. Rechtskräftig ist die Entscheidung indes erst dann, wenn über die beim
Sozialgericht Chemnitz erhobene Klage gegen den Widerspruchsbescheid, d. h. über die Ablehnung einer
Zuerkennung von Rente wegen Erwerbsminderung, entschieden und die Entscheidung in Rechtskraft er-wachsen ist.
Dies ist hier jedoch nicht der Fall, zumal das Verfahren vor dem Sozialgericht Chemnitz derzeit noch nicht
abgeschlossen ist.
Zwar könnte für die Rechtsauffassung der Beklagten sprechen, dass der Gesetzgeber ledig-lich auf die "Feststellung"
von Erwerbsminderung abstellt, nicht auf die tatsächliche Ren-tengewährung. Es könne nicht Sinn und Zweck der
Nahtlosigkeitsregelung sein, bei einem nach Auffassung beider Sozialversicherungsträger objektiv nicht verfügbaren
Arbeitslosen diesem einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu verschaffen bis tatsächlich Rente gewährt wird (in
diesem Sinne wohl: BSG, Urteil vom 14.12.1995, Az: 11 RAr 19/95). Anderer-seits soll die Fiktion eines für die
Arbeitsvermittlung ausreichenden gesundheitlichen Leis-tungsvermögen bis zum Eintritt des in der
Rentenversicherung versicherten Risikos der Erwerbsminderung helfen zu vermeiden, dass unterschiedliche
Beurteilungen der Leis-tungsfähigkeit durch die Sozialversicherungsträger zu Lasten des Versicherten gehen (in
diesem Sinne auch: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12.12.2003, Az: L 8 AL 4897/02). Um unterschiedliche
Beurteilungen der Leistungsfähigkeit auszuschließen, sind die Sozialversicherungsträger – laut richterlichem Hinweis
vom 03.03.2006 – gehalten, entsprechend der Verwaltungsvereinbarung vom 05.03.1980 unterschiedliche Beurteilun-
gen der Leistungsfähigkeit und unnötige Doppeluntersuchungen des Versicherten zu ver-meiden. In § 3 ist
ausdrücklich eine einvernehmliche Klärung vorgesehen, an der es hier fehlt. Für den Fall, dass ein Einvernehmen zur
Beurteilung des Leistungsvermögens nicht erzielt werden kann, muss das Gutachten eines einvernehmlich zu
bestimmenden Sachver-ständigen eingeholt werden. Dessen Beurteilung haben beide Leistungsträger zu Grunde zu
legen. Eine entsprechende Vorgehensweise der Beklagten und der Knappschaft war hier jedoch nicht festzustellen.
Deren unterschiedliche Einschätzung der Leistungsfähigkeit kann damit nicht zu Lasten des Klägers gehen (wie hier:
SG Halle, Urteil vom 24.10.2006, Az: S 2 AL 701/05). Andernfalls würden ihm die, für ihn nachteiligen, Folgen
fehlender Abstimmung der Sozialversicherungsträger untereinander auferlegt, die durch die Nahtlo-sigkeitsregelung
und die vorgenannte Verwaltungsvereinbarung vermieden werden sollen. Nur wenn der Rentenversicherungsträger die
verminderte Erwerbsfähigkeit festgestellt hätte, verlöre die Nahtlosigkeitsregelung des § 125 SGB III ihre
Wirksamkeit.
Verneint der Rentenversicherungsträger hingegen Erwerbsminderung, wie im vorliegenden Fall, ist der Arbeitslose für
den Arbeitsmarkt verfügbar (BSG, Urteil vom 09.09.1999, Az: B 11 AL 13/99 R; Pilz, in: Gagel, SGB III,
Arbeitsförderung, § 125 EL 22 Rdnr. 25). Die Bundesagentur für Arbeit ist damit nicht berechtigt, eine Entscheidung
des Rentenversi-cherungsträgers über die Erwerbsminderung in Zweifel zu ziehen. Sie ist insoweit hinsicht-lich der
Entscheidung über die objektive Verfügbarkeit des Arbeitslosen an dessen Ent-scheidung gebunden.
Hinsichtlich der subjektiven Verfügbarkeit, d. h. der Arbeitsbereitschaft des Klägers, hat die Kammer keine
begründeten Zweifel. Vielmehr war zu berücksichtigen, dass der Ar-beitslose wegen des von ihm angestrengten
Erwerbsminderungsrenten-Verfahrens sogar dazu gedrängt ist, entgegenstehende ärztliche Gutachten zu entkräften.
Somit kann von einem Wegfall der subjektiven Verfügbarkeit erst dann die Rede sein, wenn sich der Ar-beitslose trotz
umfassender Beratung über die Auswirkungen seines Verhaltens, sowohl in Beziehung auf das laufende
Erwerbsminderungsrenten-Verfahren als auch auf das laufende Leistungsverfahren, weigert, die
Verfügbarkeitserklärung abzugeben (ebenso: SG Berlin, Urteil vom 14.09.2001, Az: S 58 AL 2107/01; ebenso: SG
Halle, Urteil, a.a.O.). Dies war hier nicht festzustellen.
Der Klage war mithin aus der sich aus §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergebenden Kostenfolge
stattzugeben.