Urteil des SozG Karlsruhe vom 20.12.2007
SozG Karlsruhe (kläger, wegfall, witwerrente, bundesrepublik deutschland, grobe fahrlässigkeit, vollendung, freibetrag, einkommen, rückforderung, zeitpunkt)
SG Karlsruhe Urteil vom 20.12.2007, S 4 R 172/07
Rücknahme eines Verwaltungsaktes für die Vergangenheit - Aufhebung eines Verwaltungsaktes bei
Änderung der Verhältnisse - Rückforderung einer überzahlten Witwerrente aufgrund Änderung des
Freibetrages - Vollendung des 27. Lebensjahres des waisenrentenberechtigten Kindes - grobe
Fahrlässigkeit
Leitsätze
Zu den Voraussetzungen der rückwirkenden Aufhebung eines Dauerverwaltungsakts bei Änderung der
Verhältnisse nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X.
Zum Begriff grober Fahrlässigkeit
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 29. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.
Dezember 2006 wird aufgehoben.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen die Rückforderung überzahlter Rentenleistungen.
2
Der am ... Oktober 1950 geborene Kläger bezieht nach dem Tod seiner am 13. Juni 1998 verstorbenen Ehefrau
von der Beklagten große Witwerrente. Mit Rentenbescheid vom 13. November 1998 wurde ihm die Witwerrente
beginnend ab dem 01. Juli 1998 gewährt. In den Hinweisen zum Rentenbescheid hieß es u.a.:
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„Trifft eine Witwenrente oder Witwerrente mit Erwerbs- oder Erwerbsersatzeinkommen des
Berechtigten zusammen, so ist auf die Rente Einkommen in Höhe von 40 v.H. des Betrages
anzurechnen, um den das monatliche Einkommen einen dynamischen Freibetrag übersteigt.“
4
Mit weiterem Rentenbescheid vom 22. Juni 2000 wurde die dem Kläger gewährte große Witwerrente für die Zeit
ab dem 01. April 2000 neu berechnet. Dem Kläger wurden seither ab 01. August 2000 monatlich 601,43 DM
Rente gezahlt. Unter dem Abschnitt „Mitteilungspflichten“ hieß es in den Erläuterungen zum Rentenbescheid
wie folgt:
5
„Der zusätzliche Freibetrag für waisenrentenberechtigte Kinder wird grundsätzlich nur bis zur
Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes berücksichtigt. Über diesen Zeitpunkt hinaus ist eine
Berücksichtigung längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres für ein Kind möglich, dass sich in
Schul- oder Berufsausbildung befindet oder ein auf gesetzlichen Vorschriften der Bundesrepublik
Deutschland beruhendes freiwilliges soziales Jahr/freiwilliges ökologisches Jahr leistet oder infolge
körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Wird
die Schul- oder Berufsausbildung des Kindes durch Erfüllung seiner nach gesetzlichen Vorschriften der
Bundesrepublik Deutschland oder eines anderen EU/EWR-Mitgliedstaates bestehenden Wehr- oder
Zivildienstpflicht unterbrochen oder verzögert, wird der zusätzliche Freibetrag für eine bis zur Dauer
dieser Dienstpflicht auch nach dem 27. Lebensjahr liegende Zeit der Ausbildung berücksichtigt.
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Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns folgende Tatsachen unverzüglich mitzuteilen:
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- Beendigung oder Unterbrechung der Schul- oder Berufsausbildung,
- Beginn der gesetzlichen Wehr- oder Zivildienstpflicht des Kindes.“
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Beinahe sechs Jahre später, unter dem 12. Juni 2006, hörte die Beklagte den Kläger schriftlich wie folgt an:
Nach Prüfung der Rentenangelegenheit sei festgestellt worden, dass der Anspruch des Klägers auf große
Witwerrente rückwirkend kraft Gesetzes zu kürzen sei, weil seit dem 01. September 2002 durch den Wegfall
der Waisenrente für die Tochter S. zum 31. August 2002 bei der Einkommensanrechnung infolge Vollendung
des 27. Lebensjahres kein erhöhter Freibetrag mehr zu berücksichtigen sei. Für die Zeit ab 01. September
2002 ergebe sich ein höherer Ruhensbetrag, der von der Hinterbliebenenrente abzuziehen sei. Auf die
beiliegenden Berechnungsunterlagen werde ebenso hingewiesen, wie auf den Text des Bescheides vom 06.
Juni 2006. Ferner sei beabsichtigt, den Bescheid vom 22. Juni 2000 bereits ab Änderung der Verhältnisse, also
mit Wirkung ab dem 01. September 2002, nach § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - SGB X -
zurückzunehmen und die Überzahlung für die Zeit vom 01. September 2002 bis zum 30. Juni 2006 in Höhe von
2.122,14 Euro nach § 50 SGB X zurückzufordern. Es werde hiermit Gelegenheit gegeben, sich zu den für die
Entscheidung erheblichen Tatsachen innerhalb von drei Wochen zu äußern.
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Nachdem sich der Kläger gegenüber der Beklagten im Folgenden nicht mehr geäußert hatte, verfügte die
Beklagte mit Rentenbescheid vom 29. September 2006, die bisherige große Witwerrente des Klägers ab dem
01. September 2002 neu zu berechnen. Zugleich forderte sie den Kläger auf, die wegen fehlerhafter
Freibetragsberücksichtigung in der Zeit vom 01. September 2002 bis zum 30. September 2006 entstandene
Überzahlung an Witwerrente in Höhe von insgesamt 2.122,14 Euro zu erstatten. Zur Begründung hieß es: Der
Rentenbescheid vom 22. Juni 2002 werde hinsichtlich der Rentenhöhe mit Wirkung ab dem 01. September
2002 nach § 48 SGB X aufgehoben; die entstandene Überzahlung sei nach § 50 SGB X zu erstatten. Die
Aufhebung des Rentenbescheids ab dem genannten Zeitpunkt sei statthaft, weil ein Tatbestand des § 48 Abs.
1 Satz 2 Nrn. 2-4 SGB X gegeben sei und die Fristen des § 48 Abs. 4 SGB X noch nicht abgelaufen seien. Auf
Vertrauen in den Bestand des teilweise aufgehobenen Rentenbescheids könne sich der Kläger nicht berufen,
weil ihm bekannt gewesen sei, dass neben dem erzielten Einkommen auch der Wegfall des Freibetrages (hier:
Wegfall der Waisenrente für die Tochter S. zum 31. August 2002) Auswirkungen auf die Rentenhöhe habe, die
zu einem Ruhen oder zu einer Minderung des Rentenanspruchs hätten führen können.
10 Zur Begründung des vom Kläger am 12. Oktober 2006 erhobenen Widerspruchs ließ er vortragen, der
Beklagten sei bei Bewilligung der Witwerrente bekannt gewesen, dass der Kläger eine behinderte Tochter habe,
der ein Anspruch auf Waisenrente bis zum 01. September 2002 zugestanden habe. Entsprechende Vermerke
befänden sich in der Behördenakte. Weiterhin sei der Beklagten bekannt gewesen, dass der Kläger ab dem 01.
April 2002 eine Rente wegen voller Erwerbsunfähigkeit erhalten habe. Aufgrund dieser Angaben sei eine
Einkommensanrechnung vorgenommen worden, wobei die Besonderheit des zusätzlichen Freibetrags wegen
eines waisenrentenberechtigten Kindes berücksichtigt worden sei. An diesem Einkommen des Klägers hätte
sich seither nichts geändert. Insoweit könne nicht davon ausgegangen werden, dass nach Antragstellung oder
nach Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden sei. Es sei vorliegend vielmehr
nur so, dass nicht beachtet worden sei, dass ein Freibetrag zum 01. September 2002 in Wegfall geraten sei.
Der Wegfall eines Freibetrags könne jedoch nicht dem Erzielen von Einkommen oder Vermögen gleichgesetzt
werden. Aus diesem Grunde werde eine rückwirkende Aufhebung des Bescheids gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr.
3 SGB X für unzulässig erachtet. Ebenfalls ausgeschlossen sei eine Rückforderung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2
Nr. 4 SGB X, weil es für den Kläger aufgrund der ihm vorliegenden Informationen nicht erkennbar gewesen sei,
dass sein Rentenanspruch ab dem 01. September 2002 zu kürzen gewesen wäre.
11 Die Beklagte half dem Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 2002 teilweise ab und
erstattete dem Kläger die Hälfte der notwendigen Aufwendungen für die Zuziehung eines Bevollmächtigten im
Widerspruchsverfahren. Zur Begründung führte sie aus: Nach erneuter Prüfung der Sachlage sei die
Rückforderungssumme auf die Hälfte, d.h., auf 1.061,07 Euro, zu reduzieren gewesen. Nach dem Sechsten
Sozialgesetzbuch erhöhe sich der Freibetrag zur Einkommensanrechnung für jedes waisenrentenberechtigte
Kind. Bereits der Bescheid vom 22. Juni 2000 habe den Hinweis enthalten, dass der zusätzliche Freibetrag für
das waisenrentenberechtigte Kind längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres berücksichtigt werde.
Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 des Zehnten Sozialgesetzbuches könne ein Verwaltungsakt mit Wirkung vom
Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, wenn der Betroffene eine gesetzliche
Mitteilungspflicht vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen sei, oder Einkommen oder Vermögen
erzielt worden sei, dass zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt habe, oder der Betroffene
bewusst oder grob fahrlässig nicht gewusst habe, dass der Anspruch kraft Gesetzes ganz oder teilweise
weggefallen oder zum Ruhen gekommen sei. Im vorliegenden Fall sei die letztgenannte Voraussetzung erfüllt.
Der Kläger habe zumindest grob fahrlässig nicht gewusst, dass der Anspruch kraft Gesetzes ganz oder
teilweise zum 01. September 2002 in Wegfall geraten sei. Allerdings sei ein Mitverschulden der Deutschen
Rentenversicherung Bund anzuerkennen. Im Rahmen des Ermessens sei daher die Forderung um die Hälfte
auf 1.061,07 Euro zu reduzieren gewesen. Dieser Betrag sei vom Kläger zu erstatten.
12 Am 10. Januar 2007 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben.
13 Der Kläger ist weiter der Auffassung, die Voraussetzungen für eine teilweise rückwirkende Aufhebung des
Bescheids über die ihm gewährte Witwerrente lägen nicht vor. Es sei allein von Seiten der Beklagten
versehentlich übersehen worden, dass der Freibetrag für ein waisenrentenberechtigtes Kind ab dem 01.
September 2002 weggefallen sei und somit eine erhöhte Anrechnung des eigenen Einkommens des Klägers
hätte erfolgen müssen. Diese Umstände seien der Beklagten von Anbeginn bekannt gewesen. Ein
Verschweigen oder eine Täuschung seitens des Klägers habe niemals im Raum gestanden. Der Kläger sei sich
auch nicht bewusst gewesen, dass er ab dem 01. September 2002 eine zu hohe Witwerrente erhalten habe.
Eine Rückforderung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X komme nicht in Betracht, weil der Kläger seiner
Mitteilungspflicht weder vorsätzlich noch grob fahrlässig nicht nachgekommen sei. Die notwendigen Tatsachen
seien der Beklagten von Anbeginn an bekannt gewesen. Eine Rückforderung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3
SGB X sei ebenfalls nicht möglich, weil im vorliegenden Fall kein Einkommen oder Vermögen erzielt worden
sei, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs hätte führen können. Hier gehe es lediglich um dem
Wegfall eines Freibetrages; am Einkommen selbst habe sich nichts geändert. Schließlich scheitere auch eine
Rückforderung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X, weil dem Kläger nicht bewusst gewesen sei und ihm
auch der Vorwurf grober Fahrlässigkeit im Hinblick darauf, dass sein Anspruch auf Witwerrente zum 01.
September 2002 teilweise weggefallen sei, nicht gemacht werden könne. Die Beklagte könne sich
insbesondere nicht darauf berufen, den Kläger im Rentenbescheid vom 22. Juni 2000 über den Wegfall
informiert zu haben. In diesem Rentenbescheid werde auf Seite 4 zwar ausgeführt, dass der zusätzliche
Freibetrag für waisenrentenberechtigte Kinder in gewissen Fällen bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres
möglich sei. Eine Verpflichtung, den Rentenversicherungsträger darauf hinzuweisen, dass das 27. Lebensjahr
des waisenrentenberechtigten Kindes abgelaufen sei, ergebe sich aus dem Bescheid aber eben nicht. Die
Beklagte habe in dieser Information vielmehr ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nur bei Beendigung oder
Unterbrechung der Schul- und Berufsausbildung oder bei Beginn der gesetzlichen Wehr- oder Zivildienstpflicht
des Kindes die gesetzliche Verpflichtung bestehe, diese Tatsachen unverzüglich mitzuteilen. Daher sei es für
den Kläger nicht ohne weiteres erkennbar gewesen, die Beklagte auch nochmals ausdrücklich auf das Alter
seiner Tochter hinweisen zu müssen.
14 Der Kläger beantragt,
15
den Bescheid der Beklagten vom 29. September 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 11. Dezember 2006 aufzuheben.
16 Die Beklagte beantragt,
17
die Klage abzuweisen.
18 Sie hält den angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides für rechtmäßig. Die
Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X seien erfüllt. Allerdings werde ein Mitverschulden der
Beklagten anerkannt. Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht sei dem Kläger nicht vorgeworfen worden. Auch
sei vom Kläger nicht verlangt worden, dass er der Beklagten die Vollendung des 27. Lebensjahres seines
Kindes hätte mitteilen müssen. Der Kläger hätte aber wissen müssen, dass ab dem 01. September 2002 ein zu
hoher Freibetrag bei der Einkommensanrechnung berücksichtigt worden sei. Dies rechtfertige die teilweise
Rückforderung überzahlter Witwerrente.
19 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Behördenakte und den Inhalt der
Gerichtsakte (S 4 R 172/07) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
20 Die Klage ist zulässig und begründet.
21 Der Bescheid der Beklagten vom 29. September 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 11.
Dezember 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
22 Als Rechtsgrundlage für die teilweise Rücknahme der Bewilligung der dem Kläger gewährten großen
Witwerrente für den Zeitraum vom 01. September 2002 bis zum 30. September 2006 kommt allein § 48
Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - SGB X - in Betracht. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit in den
tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung
vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft
aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll (rückwirkend) mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse
aufgehoben werden, soweit 1. die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt, 2. der Betroffene einer durch
Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der
Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist, 3. nach Antragstellung oder Erlass des
Verwaltungsakts Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des
Anspruchs geführt haben würde, oder 4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche
Sorgfalt im besonders schweren Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende
Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2
Nr. 1-4 SGB X). Die Behörde muss den Verwaltungsakt innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen,
die die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts rechtfertigen, zurücknehmen (§ 48
Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGX).
23 Die Beklagte hat vorliegend die - teilweise - Rücknahme des Bewilligungsbescheids vom 22. Juni 2000 zuletzt
nur noch auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X gestützt. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm
sind vorliegend aber nicht erfüllt.
24 Der Bewilligungsbescheid vom 22. Juni 2000, mit dem dem Kläger große Witwerrente gewährt worden ist, ist
zwar ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Ferner ist auch eine wesentliche Änderung seit dem Erlass dieses
Verwaltungsakts eingetreten, weil nach dem Wegfall der Waisenrente für die Tochter des Klägers infolge
Vollendung des 27. Lebensjahres zugunsten des Klägers bei der Einkommensanrechnung kein erhöhter
Freibetrag mehr zu berücksichtigen gewesen ist. Nicht mit der für die richterliche Überzeugungsbildung
notwendigen Sicherheit lässt sich aber nachweisen, ob der Kläger in Kenntnis oder grob fahrlässiger
Unkenntnis im Zeitpunkt des Wegfalls der Bezugsberechtigung - hier am 01. September 2002 - gehandelt hat.
Dazu ist zunächst anzumerken, dass die Kenntnis oder die grob fahrlässige Unkenntnis vom Wegfall oder
Ruhen der Bezugsberechtigung in dem Zeitpunkt bestanden haben muss, in dem der Empfänger Kenntnis von
der Auszahlung oder Weiterleitung erhalten hat (vgl. Bundessozialgericht, SozR 4-4100 § 152 Nr. 8 = Breith.
1980, 163). Zum späteren Nachweis des Kennens oder Kennenmüssens hat die Behörde bereits bei Erlass des
Dauerverwaltungsakts auf alle möglichen Ruhens- oder Wegfallvorschriften ausführlich und deutlich
hinzuweisen. Der Begünstigte ist nicht verpflichtet, die Rechtsentwicklung zu beobachten. Weitere
Voraussetzung für eine Aufhebung nach Nr. 4 ist, dass eine Verpflichtung zur Mitteilung des Wegfall- oder
Ruhenstatbestands bestanden hat (vgl. BSG SozR 1300 § 48 Nr. 22; Wiesner in von Wulffen, SGB X,
Kommentar, 5. Auflage, 2005, § 48 Rdnr. 25).
25 Vorliegend ist der Kläger mit Rentenbescheid vom 22. Juni 2000 zwar auf den Wegfall des zusätzlichen
Freibetrags für waisenrentenberechtigte Kinder hingewiesen worden. Weiter hieß es in der Erläuterung aber
ausdrücklich nur, dass eine gesetzliche Verpflichtung, in diesem Zusammenhang unverzüglich Tatsachen
mitzuteilen für den Kläger (nur) besteht, bei Beendigung oder Unterbrechung der Schul- oder Berufsausbildung
oder bei Beginn der gesetzlichen Wehr- oder Zivildienstpflicht des Kindes. Ein in diesem Zusammenhang
angesichts der komplexen Rechtslage - Wegfalls nur des Freibetrags, aber nicht des Rentenanspruchs dem
Grunde nach - erwartbarer Hinweis darauf, auch der Zeitpunkt der Vollendung des 27. Lebensjahres für das
waisenrentenberechtigte Kind der Beklagten mitteilen zu müssen, fehlt. Der Zeitpunkt der Vollendung des 27.
Lebensjahres des waisenrentenberechtigten Kindes S. - der 03. August 2002 - ist Kläger und Beklagter in
gleicher Weise bekannt gewesen, wie sich aus den Behördenakten der Beklagten - dort etwa Bl. 294 und 298 -
klar ergibt. Damit hat sich der Kläger darauf verlassen dürfen, dass ihn besondere Mitteilungspflichten nur in
den von der Beklagten im Bescheid vom 22. Juni 2000 ergebenden Fallkonstellationen treffen. Anlass dazu,
die Beklagte am 03. August 2002 oder kurz darauf von der Vollendung des 27. Lebensjahres seines Kindes
nochmals ausdrücklich in Kenntnis zu setzen, haben die Belehrungshinweise der Beklagten im
Rentenbescheid vom 22. Juni 2000 dem Kläger jedenfalls nicht gegeben.
26 Dem Kläger kann schließlich auch nicht vorgeworfen werden, grob fahrlässig verkannt zu haben, dass ihm
nach Wegfall des Freibetrags für das waisenrentenberechtigte Kind ab dem 01. September 2002 eine zu hohe
große Witwerrente ausgezahlt worden ist. Denn grobe Fahrlässigkeit gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X
ist nur anzunehmen, wenn der Betroffene aufgrund einfachster und naheliegender Überlegungen sicher hätte
erkennen (wissen) können, dass der Anspruch entfallen war (vgl. BSG, Urteil vom 26. August 1987, 11a RA
30/86, SozR 1300 § 48 Nr. 39 = JURIS Rdnr. 19; Landessozialgericht Niedersachsen, Urteil vom 08. August
1996, JURIS). Dazu kann es nicht genügen, dass der Kläger - aufgrund der zumindest umständlich formulierten
Hinweise im Rentenbescheid vom 22. Juni 2000 - mit dem Wegfall erhöhter Witwerrentenleistung aufgrund des
Wegfalls des Freibetrags für das waisenrentenberechtigte Kind ab Vollendung von dessen 27. Lebensjahrs ab
dem 01. September 2002 hat „rechnen müssen“. Denn damit wird noch nichts darüber ausgesagt, ob und
inwieweit der Kläger bei Unkenntnis vom Anspruchswegfall nur des Freibetrags - und nicht des ja weiter
bestehenden grundsätzlichen Rentenanspruchs - die erforderliche Sorgfalt verletzt hat. Angesichts des
verklausulierten Hinweises im Rentenbescheid vom 22. Juni 2000 zu den Freibetragswirkungen einerseits und
der dort darüber hinaus erfolgten Belehrung über besondere Mitteilungspflichten, die gerade eben den
Freibetragswegfall nicht gesondert erfassen, andererseits, sieht sich die Kammer außerstande, dem Kläger
insoweit die Außerachtlassung naheliegendster Überlegungen vorzuhalten. Dagegen spricht schließlich nicht
zuletzt auch, dass die Beklagte im Rahmen des Widerspruchsverfahrens ihre Forderung wegen eigenen
Mitverschuldens um die Hälfte auf 1.061,07 Euro reduziert hat. In einer solchen Mitverschuldens-Gemengelage
sieht sich die Kammer jedenfalls außerstande, dem Kläger grobe Fahrlässigkeit vorzuhalten. Fahrlässigkeit,
d.h. die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, ist vielmehr beiden Verfahrensbeteiligten
allenfalls im gleichen Maße vorzuhalten. Damit aber ist eine Rückforderung auf der Grundlage von § 48 Abs. 1
Satz 2 Nr. 4 SGB X ausgeschlossen.
27 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.