Urteil des SozG Karlsruhe vom 01.02.2011
SozG Karlsruhe: grobe fahrlässigkeit, leistungsanspruch, umkehr der beweislast, verdacht, rücknahme, stationäre behandlung, diabetes mellitus, verwaltungsakt, sozialhilfe, strafverfahren
SG Karlsruhe Urteil vom 1.2.2011, S 4 SO 3797/09
Rücknahme und Rückforderung von Soziahilfeleistungen für die Vergangenheit - grob fahrlässige Nichtangabe von Einkommen - psychische
Erkrankung - Begründungsanforderungen - objektive Beweislast - Beweislastverteilung
Leitsätze
Zu den Begründungsanforderungen an behördliche Entscheidungen nach pflichtgemäßem Ermessen.
Zur Beweislastverteilung in Fällen der Rücknahme und Rückforderung von zuvor bewilligter Sozialhilfe.
Zu den Anforderungen an grobe Fahrlässigkeit in Fällen massiver psychischer Erkrankungen.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 1. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Juli 2009 wird aufgehoben.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Tatbestand
1
Die Klägerin wendet sich gegen die Rücknahme und Rückforderung von laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt aus Mitteln der Sozialhilfe.
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Die 1971 geborene Klägerin beantragte bei der Beklagten am 1. Juni 2005 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.
Den formblattgemäßen Antrag unterschrieb ihre damalige Betreuerin, Frau H. Im Antrag wurde Einkommen - jenseits der bislang von der Stadt
Konstanz bezogenen Grundsicherungsleistungen in Höhe von 653,70 EUR - verneint. Zu den Vermögensangaben hieß es, die Klägerin verfüge
über Bargeld in Höhe von 250,-- EUR und ein Guthaben auf ihrem Girokonto in Höhe von 50,34 EUR. Durch Bescheide vom 15. Juli 2005 und
19. Juli 2005 bewilligte die Beklagte der Klägerin für die Zeit ab Juni 2005 laufende Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung in Höhe von zunächst monatlich 454,73 EUR und des Weiteren Hilfe bei Krankheit durch Anmeldung bei der AOK Pforzheim.
Im Folgeantrag der Klägerin vom 26. Oktober 2005 für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2006 wurde die Rubrik „Einkommen“ im Formblattvordruck
nicht ausgefüllt. Gleichwohl bewilligte die Beklagte der Klägerin für den Folgezeitraum beginnend ab Juni 2006 für die Monate Juni 2006 bis
einschließlich Mai 2007 laufende Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Höhe von 454,73 EUR. Es ergingen
entsprechende Folgebescheide für die Zeit bis einschließlich 31. März 2008. Darüber hinaus wurden der Klägerin während des Zeitraums vom 1.
Juni 2005 bis zum 31. März 2008 wiederholt einmalige Leistungen bewilligt, und zwar durch Bescheide vom 14. Oktober 2005 (mit Nebenkosten
in Höhe von 933,55 EUR), vom 5. Februar 2007 (Heizkosten in Höhe von 471,38 EUR) und vom 2. Mai 2007 (Schlussabrechnung der
Stadtwerke Pforzheim vom 12. April 2007, 686,56 EUR).
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Am 19. Oktober 2007 wurde die Klägerin auf Veranlassung der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg ambulant sozialmedizinisch
begutachtet. Im Gutachten vom 17. Januar 2008 führte die Internistin und Sozialmedizinerin Dr. R. aus, die Klägerin leide an Alkoholmissbrauch,
derzeit abstinent, Raucherbronchitis und anamnestisch an multiplem Drogenmissbrauch. Sie könne aber ab sofort wieder leichte bis
mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeitstäglich sechs und mehr Stunden verrichten. Der Drogenmissbrauch reiche auf
das Jahr 1990 zurück und sei vor ca. drei Jahren beendet worden. Wegen des Alkoholabusus habe die Klägerin im August 2007 eine stationäre
Behandlung im PLK H. absolviert. Seither seien die Laborbefunde unauffällig; die Klägerin trage vor, keinen Alkohol mehr zu konsumieren. Eine
vorgesehene nervenärztliche Untersuchung sei an der Mitwirkung der Klägerin gescheitert.
4
Unter dem 21. Februar 2008 stellte die Beklagte gegen die Klägerin Strafanzeige. Zur Begründung hieß es, die Beklagte sei vom Zeugen M. in
Kenntnis davon gesetzt worden, dass die Klägerin ab dem Jahre 2006 als Prostituierte gearbeitet und Geld verdient habe. Der Zeuge M. habe
gegenüber der Beklagten anlässlich seiner persönlichen Anhörung am 9. Oktober 2007 angegeben, dass er die Klägerin im Juni 2006 über eine
Annonce in der Pforzheimer Zeitung unter dem Namen Lisa kennengelernt habe (Lisa: Hausbesuche Telefon ...). Er habe mehrmals ihre Dienste
in Anspruch genommen und ihr dafür im Jahre 2006 Bargeld in Höhe von 4.190,-- EUR bezahlt. Er wisse auch, dass die Klägerin noch andere
Kunden gehabt habe. Er selbst habe sie zu anderen Kunden gefahren, da die Klägerin über keinen Pkw verfügt habe. Im Jahre 2007 habe er,
der Zeuge M., der Klägerin 2.050,-- EUR in bar gegeben. Außerdem sei er für Rückstände bei Telefon, Mietkaution und anderem für die Klägerin
eingestanden. Des Weiteren, so der Zeuge M., habe die Klägerin in den Jahren 2006 und 2007 für ihn Heimarbeit verrichtet und hierfür Beträge
in Höhe von 818,-- EUR und 855,-- EUR eingenommen. Infolge der Treffen habe er sich in die Klägerin verliebt; eine Heirat sei beabsichtigt
gewesen.
5
Dagegen wandte die Klägerin nach einem Aktenvermerk der Beklagten ein, sie habe den Zeugen M. im Klinikum N. in C.-H. im Jahre 2006
kennengelernt und mit ihm später eine Wohngemeinschaft gegründet. Die Zeugin O. habe gegenüber dem Jugend- und Sozialamt der Beklagten
erklärt, die Klägerin habe mit dem Zeugen M. in Beziehung gestanden, stehe jetzt jedoch mit ihr, der Zeugin O., in Beziehung. Der Zeuge M. habe
aber weiterhin eine Beziehung mit der Klägerin haben wollen; da dies nicht mehr möglich sei, verleumde er die Klägerin nunmehr.
6
Im Folgenden führte die Staatanwaltschaft Karlsruhe, Zweigstelle Pforzheim gegen die Klägerin ein Ermittlungs- und Strafverfahren. Dieses
Verfahren stellte die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 15. Mai 2009 nach § 170 Abs. 2 StPO ein, soweit die Leistungen einen Betrag in
Höhe von 6.090,56 EUR überschritten. Über diesen Betrag hinaus seien der Klägerin verschwiegene Einkünfte, insbesondere durch
Prostitutionsausübung nicht konkret nachzuweisen. Das im Übrigen weitergeführte Strafverfahren gegen die Klägerin stellte das Amtsgericht
Pforzheim - Az: 4 Cs 92 Js 14944/08 - anlässlich der Hauptverhandlung am 26. August 2009 gemäß § 153 a StPO gegen die Auflage von bis zum
31. Januar 2010 zu leistenden 100 Stunden gemeinnütziger Arbeit ein.
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Bereits zuvor hatte die Beklagte mit Bescheid vom 1. Oktober 2008 die Bescheide, mit der der Klägerin im Zeitraum von Juni 2005 bis März 2008
Sozialhilfe bewilligt worden war, zurückgenommen und in dieser Zeit gewährte Sozialhilfeleistungen in Höhe von 30.439,08 EUR zur Erstattung
zurückgefordert. Wörtlich lautete der Tenor des Bescheids vom 1. Oktober 2008 wie folgt:
8
1. Die Verwaltungsakte über die Bewilligung von Sozialhilfeleistungen in Form der Bescheide vom 15.07.2005, vom 19.07.2005 für die
Zeit vom 01.06.2005 bis 31.05.2006, vom 14.10.2005 (einmalige Leistung), vom 11.05.2006 für die Zeit vom 01.06.2006 bis 30.09.2006,
vom 13.12.2006/09.10.2006 für die Zeit vom 01.10.2006 bis 31.12.2006, vom 05.02.2007/13.12.2006 für die Zeit vom 01.01.2007 bis
31.01.2007, vom 05.02.2007/05.01.2007/13.12.2006 für die Zeit vom 01.02.2007 bis 28.02.2007, vom 05.02.2007 (einmalige Leistung),
vom 05.02.2007 für die Zeit vom 01.03.2007 bis 31.03.2007, vom 23.04.2007/05.02.2007 für die Zeit vom 01.04.2007 bis 30.04.2007,
vom 02.05.2007 (einmalige Leistung), vom 11.06.2007/23.04.2007 für die Zeit vom 01.05.2007 bis 30.06.2007, vom 11.06.2007 für die
Zeit vom 01.07.2007 bis 31.08.2007, vom 11.09.2007/11.06.2007 für die Zeit vom 01.09.2007 bis 31.10.2007, vom 23.10.2007 für die
Zeit vom 01.11.2007 bis 31.12.2007. vom 18.12.2007 für die Zeit vom 01.01.2008 bis 29.02.2008, vom 21.02.2008 für die Zeit vom
01.03.2008 bis 31.03.2008 sowie in Form von Überweisungen für die Monate Juni 2005 bis März 2008 werden zurückgenommen.
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2. Die unrechtmäßig gewährten Sozialhilfeleistungen in Höhe von 30.439,80 Euro sind zu erstatten.
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3. Dieser Bescheid ergeht gemäß § 64 Abs. 2 SGB X gebührenfrei.
11 Zur Begründung führte die Beklagte aus, sie habe am 9. Oktober 2007 Kenntnis darüber erlangt, dass die Klägerin vom Zeugen M. ab Juni 2006
wiederholt Geldleistungen erhalten habe, im Jahr 2006 in Höhe von 4.190,-- EUR und im Jahre 2007 in Höhe von 2.050,-- EUR. Aufgrund der
von der Klägerin geschalteten Kontaktanzeige mit ihrer Handy-Nummer bestehe der Verdacht, dass die Klägerin ab Juni 2005 und auch noch im
Januar 2008 Prostitutionsdienstleistungen nachgegangen sei. Damit lasse sich nicht ausschließen, dass die Klägerin weitere Entgeltleistungen
in unbekannter Höhe erzielt habe. Weiterhin habe der Zeuge M. im Jahre 2007 eine Zahlung für April 2007 zugunsten der Klägerin übernommen,
ihre SWP-Rückstände in Höhe von 170,-- EUR gedeckt, Telefongebühren in Höhe von 65,80 EUR bezahlt und eine Mietkaution in Höhe von
500,-- EUR am 25. September 2007 geleistet. Darüber hinaus habe die Klägerin von der Zeugin O. deren Angaben zufolge Geldleistungen
erhalten. Infolgedessen sei eine Neuberechnung des Sozialhilfeanspruchs erforderlich geworden. Diese bemesse sich wie folgt:
12
Leistungsanspruch für den Monat 06/05 bis 09/06 jeweils
0,00 EUR
Abzügl. bisher gewährter Leistungen jeweils:
- 454,73 EUR
Überzahlte Leistungen jeweils:
- 454,73 EUR
Miet-Nebenkostenabrechnung
- 933,55 EUR
Leistungsanspruch für den Monat 10/06 bis 12/06 jeweils:
0,00 EUR
Abzügl. bisher gewährter Leistungen jeweils:
- 451,43 EUR
Überzahlte Leistungen jeweils:
- 451,43 EUR
Leistungsanspruch für den Monat 01/07 bis 02/07 jeweils:
0,00 EUR
Abzügl. bisher gewährter Leistungen jeweils:
- 460,43 EUR
Überzahlte Leistungen jeweils:
- 460,43 EUR
SWP-Jahresabrechnung (1/2 von 471,38 EUR)
- 235,69 EUR
SWP-Jahresabrechnung (Nachber.- u. Schlussabrechnung;
1/2 von 686,56 EUR)
- 343,28 EUR
Leistungsanspruch für den Monat 03/07:
0,00 EUR
Abzügl. bisher gewährter Leistungen:
- 694,87 EUR
Überzahlte Leistungen:
- 694,87 EUR
Leistungsanspruch für den Monat 04/07:
0,00 EUR
Abzügl. bisher gewährter Leistungen:
- 460,43 EUR
Überzahlte Leistungen:
- 460,43 EUR
Leistungsanspruch für den Monat 05/07:
0,00 EUR
Abzügl. bisher gewährter Leistungen:
- 571,27 EUR
Überzahlte Leistungen:
- 571,27 EUR
Leistungsanspruch für den Monat 06/07:
0,00 EUR
Abzügl. bisher gewährter Leistungen:
- 695,27 EUR
Überzahlte Leistungen:
- 695,27 EUR
Leistungsanspruch für den Monat 07/07 bis 08/07 jeweils:
0,00 EUR
Abzügl. bisher gewährter Leistungen jeweils:
- 697,27 EUR
Überzahlte Leistungen jeweils:
- 697,27 EUR
Leistungsanspruch für den Monat 09/07 bis 10/07 jeweils:
0,00 EUR
Abzügl. bisher gewährter Leistungen jeweils:
- 581,50 EUR
Überzahlte Leistungen jeweils:
- 581,50 EUR
Leistungsanspruch für den Monat 11/07 bis 12/07 jeweils:
0,00 EUR
Abzügl. bisher gewährter Leistungen jeweils:
- 642,50 EUR
Überzahlte Leistungen jeweils:
- 642,50 EUR
Leistungsanspruch für den Monat 01/08 bis 02/08 jeweils.
0,00 EUR
Abzügl. bisher gewährter Leistungen jeweils:
- 298,28 EUR
Überzahlte Leistungen jeweils:
- 298,28 EUR
Rückerstattung SWP-Guthaben
+ 41,96 EUR
Leistungsanspruch für den Monat 03/08:
0,00 EUR
Abzügl. bisher gewährter Leistungen:
- 314,28 EUR
Überzahlte Leistungen:
- 314,28 EUR
Hilfe bei Krankheit 2005-2008:
- 12.243,19 EUR
Überzahlung gesamt
30.439,80 EUR
13 Die Klägerin könne sich auf Vertrauensschutz hinsichtlich eines Verbrauchs der erhaltenen Sozialhilfe nicht berufen, da sie es mindestens grob
fahrlässig unterlassen habe, Änderungen in ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen dem Sozialhilfeträger unverzüglich
mitzuteilen. Soweit die Klägerin den Erhalt von Geldleistungen aus Prostitution bestritten habe, seien diese Angaben nicht glaubhaft gewesen.
Ebenso wenig sei es glaubhaft, wenn die Klägerin mitteile, sie habe von der Zeugin O. nur Lebensmittel und kein Geld erhalten.
14 Den dagegen am 29. Oktober 2008 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24. Juli 2009 als unbegründet
zurück. Der Widerspruchsbescheid wurde der Bevollmächtigten der Klägerin am 31. Juli 2009 zugestellt.
15 Am 31. August 2009 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erheben lassen.
16 Sie trägt vor, im Strafverfahren hätten sich keinerlei Beweise dafür ergeben, dass sie der Prostitution nachgegangen sei und vom Zeugen M.
Zahlungen für Prostitutionsdienstleistungen erhalten habe. Auch hinsichtlich der weiteren ihr von der Beklagten vorgehaltenen Einkommen aus
Heimarbeit und anderem sei nichts belegt. Die Beklagte stütze ihre Annahme, sie habe fortwährend Einnahmen erzielt, auf Spekulationen und
unbewiesene Behauptungen Dritter.
17 Die Klägerin beantragt,
18
den Bescheid der Beklagten vom 1. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Juli 2009 aufzuheben.
19 Die Beklagte beantragt,
20
die Klage abzuweisen.
21 Sie stützt sich zentral auf die Aussagen der Zeugen M. und O.
22 Das Gericht hat zunächst die die Klägerin behandelnden Ärzte im Wege schriftlicher sachverständiger Zeugenaussagen vernommen. Der
Nervenarzt Dr. H., Pforzheim, hat dem Gericht unter dem 25. Mai 2010 mitgeteilt, die Klägerin erstmals am 20. Juni 2005 in seiner Sprechstunde
behandelt zu haben. Bis zum damaligen Zeitpunkt seien ihm zwei stationäre Aufenthalte der Klägerin im Zentrum für Psychiatrie in der Klinik R.,
und zwar vom 20. Mai bis zum 20. Juni 2000 und sodann erneut vom 28. September bis zum 8. Oktober 2003, bekannt gewesen. Die Diagnosen
hätten damals gelautet: (2000) psychotische Episode bei Alkoholmissbrauch und (2003) Zustand nach Suizidversuch durch Tablettenintoxikation
bei Verdacht auf schizophrene Psychose, paranoid halluzinatorischen Typus, schädlichem Gebrauch von Alkohol bei Verdacht auf
Abhängigkeitsentwicklung, schädlichem Gebrauch von Cannabis, anamnestisch multipler Drogenabusus bei Verdacht auf
Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus. Nach seinem Dafürhalten sei die Klägerin in der Lebenspraxis eingeschränkt, komme auch
intellektuell schnell an Grenzen und sei nicht konsequent im Einhalten von Regeln und Terminen. Es falle ihr sicher auch schwer, die
Konsequenzen von Versäumnissen zu berücksichtigen. Derzeit bestehe Alkoholabhängigkeit (trocken) bei Medikamentenmissbrauch,
Borderline-Störung sowie Verdacht auf obstruktive Lungenkrankheit bei Polytoxikomanie.
23 Unter dem 21. Mai 2010 hat der Allgemeinmediziner Dr. F., Pforzheim, dem Gericht erklärt, die Klägerin seit September 2005 bis zuletzt April
2010 behandelt zu haben. Im September 2009 habe er bei ihr eine Diabetes mellitus-Erkrankung festgestellt. Bereits zuvor habe die Klägerin
einen erhöhten Schmerzmittelkonsum gehabt. Außerdem bestünden ein Verdacht auf eine Psychose sowie rezidivierende Atembeschwerden bei
Verdacht auf COPD oder eine ähnliche Erkrankung. Nach seiner Einschätzung sei die Klägerin zu den meisten Zeiten befähigt gewesen,
behördliche Anträge auszufüllen. Zu manchen Zeitpunkten sei ihr dies möglicherweise aber nur erschwert möglich gewesen.
24 Auf die von der Bevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vorgelegten und verlesenen ärztlichen Atteste des Nervenarztes
Dr. H., Pforzheim, vom 20. April 2009 und 1. Juli 2009 wird Bezug genommen.
25 In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht die Zeugen O., Bö. und Br. vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf
die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
26 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der dem Gericht vorliegenden Behördenakten (vier Bände) und den Inhalt
der Prozessakte (S 4 SO 3797/09) verwiesen.
Entscheidungsgründe
27 Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg.
28 Der angefochtene Rücknahme- und Erstattungsbescheid der Beklagten vom 1. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.
Juli 2009 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
29 1. Schon in
formell-rechtlicher
Zweifeln. Gemäß § 35 Abs. 1 S. 3 SGB X muss die Begründung von Ermessensentscheidungen - gemäß § 45 Abs. 2 SGB X handelt es sich
vorliegend um einen solche - die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist
(sogenannte erweiterte Begründungspflicht). Dabei muss die Behörde den für die Ermessensausübung benötigten Sachverhalt von Amts wegen
ermitteln (BSGE 59, 157, 171; Engelmann, in von Wulffen, SGB X, Kommentar, 6. Aufl., 2008, § 35 Rn. 6 m. w. N.). Dazu reicht der Gebrauch von
aus sich heraus nicht nachvollziehbaren Leerformeln nicht aus (Engelmann, a. a. O., § 35 Rn. 6 m. Nachweisen der Rspr.); erst recht reichen
spekulative Erwägungen nicht aus, um objektive Tatsachen zu ersetzen. Alleine ebensolche Spekulationen und Vermutungen aber stellt die
Beklagte noch im angefochtenen Widerspruchsbescheid vom 24. Juli 2009 an, wenn sie als Prüfungsmaßstab obersatzgleich auf Bl. 2 wörtlich
wie folgt formuliert:
30
„Aufgrund dieser Kontaktanzeigen stand deshalb im Raum, dass Ihre Mandantin (d.h. die Klägerin) bereits ab Juni 2005, d.h. bei Zuzug
nach Pforzheim und damit ab Hilfebeginn Dienstleistungen im Prostitutionsgewerbe ausgeführt und hierfür Entgeltleistungen erhalten
hatte. … Es stand somit im Raum bzw. ließ sich nicht ausschließen, dass Ihre Mandantin diese Tätigkeit bis zum Ende des
Hilfezeitraums, also bis März 2008, ausgeübt und folglich Entgeltleistungen erzielt hatte. Wegen der uns nicht bekannten Höhe der
Einnahmen bestand die Vermutung dahingehend, dass Ihre Mandantin so viel Einkommen erzielt hatte, dass sie und ihr Lebensgefährte
Herr Br… dadurch im gesamten Hilfezeitraum nicht hilfebedürftig waren. …“
31 Dass sich Einnahmen der Klägerin - insbesondere aus Prostitutionsdienstleistungen - nicht ausschließen lassen, trifft zu, reicht aber für die
Begründung eines Rücknahme- und Rückforderungsbescheids in keiner Weise aus. Es fehlt damit letztlich bereits an einem behördlich
festgestellten objektiven Sachverhalt, den das Gericht der Prüfung der Ermessensüberlegungen zugrunde legen kann.
32 2. Die Beklagte stützt sich bei ihrem Forderungsbegehren in Sachen des vorgenannten Rücknahme- und Erstattungsbescheids
materiell-
rechtlich
Leistungserbringung zugrunde liegende Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Denn der die Leistungspflicht der Beklagten gegenüber der
Klägerin konkretisierende Verwaltungsakt ist unmittelbar der Rechtsgrund für die Gewährung der Hilfe zum Lebensunterhalt und damit für das
Behaltendürfen der Leistungen gewesen. Damit eine Rückforderung der Leistungen geltend gemacht werden kann, muss zunächst die
Rechtsgrundlage für die Leistungsgewährung in rechtswirksamer Weise beseitigt werden.
33 a. Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat
(begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nach dessen Unanfechtbarkeit ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft
oder die Vergangenheit unter den Einschränkungen der Abs. 2 bis 4 des § 45 SGB X zurückgenommen werden. Ein rechtswidriger
begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat
und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse einer Rücknahme schutzwürdig ist (§ 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X). Das Vertrauen
ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht
mehr oder nur noch unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Auf Vertrauen kann sich der
Begünstigte nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X aber nicht berufen, soweit
34
1. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder
unvollständig gemacht hat, oder
35
2. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder in Folge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor,
wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.
36 Nur in den Fällen von § 45 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 2 SGB X wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen.
Die Behörde muss dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden
Verwaltungsakts für die Vergangenheit rechtfertigen. Die Entscheidung über die rückwirkende Rücknahme ist durch das Merkmal „wird mit
Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen“ nicht bindend vorgegeben. „Wird“ bedeutet keine Verpflichtung zur Rücknahme, sodass die
Beklagte Ermessen auszuüben hat (vgl. Schütze, in von Wulffen, SGB X, Kommentar, 2008, § 45 Rn. 79 m.w.N.).
37 b. An diesem Prüfungsmaßstab orientiert, hat der Beklagte die der Klägerin im Zeitraum vom 1. Juni 2005 bis zum 31. März 2008 gewährten
Sozialhilfeleistungen zu Unrecht zurückgenommen und zurückgefordert. Die Beklagte hat schon nicht gerichtsfest zu beweisen vermocht, dass
die Klägerin überhaupt „in wesentlicher Beziehung unrichtige oder unvollständige Angaben“ bei der Beantragung von Sozialhilfe gemacht hat.
Insbesondere der zentrale Vortrag der Beklagten, die Klägerin habe während des Zeitraums der Hilfegewährung von 2005 bis 2008
Prostitutionsdienstleistungen verrichtet und daraus Einnahmen erzielt, die ihre Sozialhilfebedürftigkeit ganz oder teilweise ausschlössen, hat sich
auch nach dem Ergebnis der gerichtlichen Beweisaufnahme nicht gerichtsfest erhärten lassen. Einziger objektiv nachweislicher Anhaltspunkt
dafür ist die mit der Mobiltelefonnummer der Klägerin unter dem Namen „Lisa“ in der Pforzheimer Zeitung geschalteten Anzeige. Das wegen des
Verdachts des Betruges zu Lasten der Beklagten gegen die Klägerin geführte Strafverfahren hat das Amtsgericht Pforzheim nach § 153a StPO
gegen die Auflage der Leistung von gemeinnütziger Arbeit eingestellt (Beschluss vom 26. August 2009), ohne dass gegen die Klägerin daraus
ein Schuldvorwurf hergeleitet werden kann. Der die Klägerin in Bezug auf Prostitutionserwerb belastende und beinahe 80 Jahre alte Zeuge M.,
den schon das Strafgericht als nicht vernehmungsfähig angesehen hat, ist aufgrund des von ihm vorgelegten ärztlichen Attestes von Dr. G. vom
26. Januar 2011 auch zur Überzeugung des erkennenden Gerichts auf Dauer nicht vernehmungsfähig und damit für unabsehbare Zeit
unerreichbar. Dabei ist sich das Gericht des strengen Maßstabs, den der Bundesgerichtshof (BGHZ 168, 79, 85 und Greger, in Zöller, ZPO,
Kommentar, 28. Aufl., 2010, vor § 284 Rn 11a m. w. N. der Rechtsprechung) an die Unerreichbarkeit eines Beweismittels stellt, bewusst. Nach
den Feststellungen von Dr. G. kann der Zeuge M. aufgrund seiner schweren chronischen Erkrankung u. a. an Parkinson „für nicht absehbare Zeit
an keinerlei Gerichtsverhandlungen teilnehmen“, weil er sowohl körperlich als auch psychisch dazu nicht in der Lage ist und ihm zudem durch
eine Vernehmung ein psychischer Schaden droht. Nachdem sich Dr. G. in ähnlicher Weise bereits 2009 gegenüber dem Amtsgericht Pforzheim
zur mangelnden zeugenschaftlichen Vernehmungsfähigkeit geäußert hat, steht für das Gericht fest, dass der Zeuge M. auf Dauer für eine
Vernehmung nicht mehr zur Verfügung steht. Dies gilt nicht zuletzt auch deshalb, weil die Beklagte Vortrag dazu, bei dem Attest von Dr. G.
handele es sich um eine „Gefälligkeitsbescheinigung“ nicht geleistet und erst recht keinen Gegenbeweis - etwa durch Vorlage eines
abweichenden amtsärztlichen Attestes - angetreten hat.
38 c. Darüber hinaus lassen sich Einnahmen der Klägerin aus Prostitutionsdienstleistungen auch nicht durch aktenmäßig erfasste Dokumente oder
die Aussage der Zeugin Bö. gerichtsfest belegen. Denn den von der Beklagten dazu in Bezug genommenen Beweisordner (“grüner Ordner“),
den der Zeuge M. anlässlich seiner Vorsprache auf dem Sozialamt am 09. Juli 2007 der dort zuständigen Mitarbeiterin und Zeugin Bö. gezeigt
hat, ist diesem sofort wieder ausgehändigt worden, ohne von der Beklagten zuvor - etwa durch die Fertigung von Fotokopien - hinreichend
dokumentiert worden zu sein. Die in den Behördenakten befindlichen kopierten Kontoauszüge sind aus sich heraus nicht verständlich und mit
Ausnahme des Ausdrucks vom 06. September 2007 nicht einmal vollständig kopiert. Sie lassen nämlich nicht einmal hinreichend sicher den
Kontoinhaber kennen. Der vollständig kopierte Ausdruck vom 06. September 2007 ist zudem nicht vom Zeugen M. unterschrieben. Die Zeugen
Br. und O. haben in der mündlichen Verhandlung am 01. Februar 2011 die Kenntnis von Prostitutionsdienstleistungen der Klägerin bestritten.
Auch wenn die Glaubhaftigkeit der Aussagen der Zeugen Br. und O. zweifelhaft sein mag, sind ihnen ihre Angaben nach Aktenlage nicht zu
widerlegen.
39 d. Diese Unaufklärbarkeit des Sachverhalts geht vorliegend zu Lasten der Beklagten; auf ihre objektive Feststellungs- und Beweislast ist sie im
Termin zur mündlichen Verhandlung vom 1. Februar 2011 hingewiesen worden, und zwar schon vor der Beweisaufnahme durch
Zeugenvernehmung, ohne dass von ihrer Seite weitere Beweisangebote erfolgt wären. Die Folgen einer Beweislosigkeit trägt im Zweifel der
Beteiligte, der aus der behaupteten, jedoch nicht erweislichen Tatsache eine ihm günstige Rechtsfolge herleitet (ständige Rechtsprechung; vgl.
BSGE 6, 70, 73; BSGE 96, 238 ); dies ist für die Frage der Hilfebedürftigkeit (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) zwar regelmäßig der Hilfesuchende
(vgl. BSG, Urteile vom 27. Januar 2009 - B 14 AS 6/08 R - JURIS, Rn. 19 und vom 19. Februar 2009 - B 4 AS 10/08 R - JURIS, Rn. 21; ferner die
ständige Rechtsprechung des Landesozialgerichts Baden-Württemberg, z.B. Urteile vom 23. Juli 2009, L 7 AS 3135/07, JURIS Rn. 34, vom 18.
Oktober 2007 - L 7 SO 4334/06 - JURIS und vom 23. Oktober 2008 - L 7 AS 4552/07 -; außerdem BVerwGE 21, 208, 213; 98, 195, 202).
Allerdings ist vorliegend zu beachten, dass um die Rechtmäßigkeit eines Rücknahmebescheids nach § 45 SGB X gestritten wird. In derartigen
Fällen trägt grundsätzlich die Beklagte die objektive Beweislast für die Rechtswidrigkeit der zurückgenommenen Bescheide; eine Umkehr der
Beweislast ist nur dann gerechtfertigt, wenn in der Sphäre des Hilfesuchenden wurzelnde Vorgänge nicht aufklärbar sind (vgl. BSGE 96, 238;
BSG, Urteil vom 13. September 2006 a.a.O. ). Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn der Hilfesuchende an der ihm möglichen
Sachverhaltsaufklärung nicht oder nicht rechtzeitig mitgewirkt hat (vgl. BSGE 71, 256, 264 = SozR 3-4100 § 119 Nr.7; BSGE 89, 243, 247 = SozR
3-4100 § 11 Nr. 8; BSG SozR 4-1500 § 128 Nr. 5 ). Eine derartige der Klägerin anzulastende Beweisnähe liegt hier zwar grundsätzlich
vor. Nicht unberücksichtigt bleiben darf in diesem Zusammenhang aber erstens , dass die Beklagte den ihr vom Zeugen M. am 9. Oktober 2007
übergebenen „grünen Ordner“ mit angeblichem Material zum Nachweis der Prostitutionsdienstleistungen der Klägerin nicht gesichert hat. Sie hat
daraus nur wenige Dokumente - 5 Blätter - kopiert, die - abgesehen von Bl. 1067 der Behördenakte - nicht näher erklärt werden, aus sich heraus
nicht verständlich sind und keine unmittelbaren Rückschlüsse auf Einnahmen der Klägerin zulassen. Der Ordner ist dem Zeugen M. dann nach
der glaubhaften Aussage der Zeugin Bö. als zuständiger Mitarbeiterin im Sozialamt noch am selben Tag wieder ausgehändigt worden, ohne
dass Sicherungskopien angefertigt worden sind. Damit hat die Beklagte nachgerade leichtfertig Beweismaterial aus der Hand gegeben, das ihr
in den folgenden Verfahren hätte nützlich werden können. Ein relevanter Beitrag zur Sachverhaltsaufklärung ist der Klägerin zweitens aufgrund
ihrer massiven Abhängigkeitserkrankungen (dazu unten) nicht möglich gewesen; einen durchschlagenden Beitrag zur Sachaufklärung hätte die
Beklagte drittens aber auch nicht von ihr erwarten dürfen. Denn der Beklagten ist die gesundheitlich nur eingeschränkte Handlungsfähigkeit der
Klägerin bereits seit Erstantragstellung objektiv bekannt gewesen, ist doch der auf die Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem 4.
Kapitel des SGB XII gerichtete Erstantrag der Klägerin vom 1. Juni 2005 nicht von ihr selbst, sondern von ihrer damaligen Betreuerin, Frau H.,
unterschrieben worden. Im von der Klägerin selbst unterschriebenen und auf den Bewilligungszeitraum ab dem 1. Januar 2006 gerichteten
Folgeantrag vom 26. Oktober 2005 hat die Beklagte zudem nicht auf das ordnungsgemäße und sonst - etwa in den Antragsformularen vom 1.
Juni 2005 und vom 17. April 2007 - durchgeführte vollständige Ausfüllen des Antragsformulars geachtet und hingewirkt. Im Antrag vom 26.
Oktober 2005 findet sich unter der Rubrik „Einkommen“ gar kein Eintrag; es fehlt damit an der sonst üblichen ausdrücklichen Verneinung von
Einkommen. Ebenso lückenhaft ausgefüllt wirkt das von der Klägerin und ihrem damaligen Lebensgefährten, dem Zeugen Br., am 22. September
2006 unterschriebene Antragsformular unter der Rubrik „Einkommen“. Daraus folgt: Wenn die Beklagte einer psychisch nur eingeschränkt
handlungsfähigen Antragstellerin, die während des ganz überwiegenden Leistungszeitraums voll erwerbsgemindert gewesen ist, auf der
Grundlage von unvollständig oder jedenfalls nicht immer aus sich heraus verständlich ausgefüllten Formblattanträgen laufende Leistungen der
Grundsicherung bewilligt, kann sie sich bei der Rücknahmeentscheidung nicht auf eine Beweislastumkehr in Bezug auf Hilfebedürftigkeit
berufen.
40 3. Die Klägerin hat zudem auf den Bestand der sie rechtswidrig begünstigenden Bewilligungsbescheide ab dem 15. Juli 2005 bis März 2008
vertrauen dürfen, weil sie nicht grob fahrlässig unvollständige Angaben gemacht hat. Grob fahrlässig handelt, wer objektiv und subjektiv die im
Rechtsverkehr erforderliche Sorgfalt in besonders krasser Art und Weise außer Acht lässt. Das Bundessozialgericht fordert für die Annahme von
grober Fahrlässigkeit in Fällen der Nichtbeachtung von Belehrungen der Verwaltung über Anzeigepflichten (BSG 42, 184) und der Unterlassung
der Mitteilung entscheidungserheblicher Tatsachen (BSG a. a. O., 47, 28, 33; 47, 180, 182), dass der Leistungsempfänger unter Berücksichtigung
seiner individuellen Urteils- und Kritikfähigkeit seine Sorgfaltspflicht in außergewöhnlich großem Maße, d. h. in einem das gewöhnliche Maß der
Fahrlässigkeit in erheblichem Umfang übersteigenden Ausmaß, verletzt (BSG, Urteil vom 14. Juni 1984, HV-Info 1984, Nr. 15, Seite 10 bis 17).
41 An diesem Maßstab orientiert, sprechen vor allem und entscheidend die das Gericht überzeugenden sachverständigen Feststellungen des sie
seit Juni 2005 und damit langjährig behandelnden Nervenarztes Dr. H. gegen die Annahme eines grob fahrlässigen Verhaltens der Klägerin.
Dabei bestätigen die Ausführungen von Dr. H das Bild, dass das Gericht von der Klägerin gewonnen hat, insbesondere nach tatrichterlicher
Würdigung ihrer deutlich vorgealterten Person und ihres weitgehend passiv abwartenden Verhaltens während der mündlichen Verhandlung. In
seiner schriftlichen Zeugenaussage gegenüber dem Gericht vom 25. Mai 2010 weist Dr. H. unter Bezugnahme auf drei stationäre Aufenthalte der
Klägerin in Zentren für Psychiatrie in den Jahren 2000, 2003 (Zustand nach Suizidversuch durch Tablettenintoxikation bei Verdacht auf
schizophrene Psychose nach anamnestisch multiplem Drogenabusus, Alkoholabhängigkeit und Borderline-Störung) und 2007
(Alkoholabhängigkeit, Verdacht auf chronisch obstr. Lungenkrankheit, Zustand nach drogeninduzierter Psychose, Polytoxikomanie, Verdacht auf
emotional abhängige Persönlichkeitsstörung) zutreffend darauf hin, dass sie intellektuell schnell an Grenzen kommt und es ihr schwer fällt,
Konsequenzen von Versäumnissen zu berücksichtigen. Diese Aussage deckt sich mit der von Dr. H. im ärztlichen Attest zur Vorlage bei der
Agentur für Arbeit Pforzheim vom 20. April 2009 beschriebenen chronischen psychischen Erkrankung der Klägerin, aufgrund der ihr allein noch
nicht einmal eine selbständige Haushaltsführung mehr möglich ist. Der vierwöchige stationäre Aufenthalt im Klinikum N., Abteilung Sucht, in C.-
H. vom 15. August bis zum 13. September 2007 fällt dabei zudem noch mit der Zeit zusammen, die die streitgegenständlich zurückgenommenen
Bewilligungsbescheide der Beklagten betreffen. Auch der Abschluss des letzten stationären Aufenthalts am 13. September 2007 - Entlassung der
Klägerin aus H. - aus disziplinarischen Gründen nach einem schwerwiegenden Regelverstoß - Verlassen des Klinikgeländes ohne Erlaubnis, um
mit einer Besucherin in die Stadt zu fahren - bestätigt das wenig gesteuerte, rational nicht verständliche Verhalten der schwer
abhängigkeitserkrankten Klägerin. Sofern sie zwischen 2005 und Anfang 2008 tatsächlich Prostitutionsdienstleistungen erbracht oder andere
Einkünfte aus Heimarbeit erzielt haben sollte, hat sie mit solchen Einnahmen ihren abhängigkeitsbedingten erheblichen Alkohol- und
Medikamentenkonsum finanziert. Damit ist zur tatrichterlichen Überzeugung des erkennenden Gerichts ein schuldhaftes Verhalten der Klägerin
beim Ausfüllen von Leistungsanträgen und bei Mitwirkungshandlungen zur Aufklärung der Hilfebedürftigkeit im Rechtssinn grob fahrlässigen
Verhaltens für den hier streitgegenständlichen Zeitraum von Juni 2005 bis März 2008 ausschlossen.
42 Aus diesen Gründen sind die angefochtenen Bescheide rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Demzufolge ist der Klage
stattzugeben gewesen.
43 Die Kostenentscheidung zu Lasten der Beklagten beruht auf § 193 SGG.