Urteil des SozG Hamburg vom 09.09.2005

SozG Hamburg: zwangsarbeit, persönliche freiheit, anerkennung, bevölkerung, kennzeichnung, freiheitsentziehung, begriff, holocaust, konzentrationslager, enzyklopädie

Sozialgericht Hamburg
Urteil vom 09.09.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 26 RJ 389/04
1. Die Bescheide der Beklagten vom 10.8.1999 und 15.1.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.2.2004
werden abgeändert. 2. Die Beklagte wird verurteilt, für den Kläger auch die Zeit vom 1.11.1939 bis zum 7.1.1940 als
verfolgungsbedingte Ersatzzeit anzuerkennen. 3. Die Beklagte trägt ½ der außergerichtlichen Kosten des Klägers
dem Grunde nach.
Tatbestand:
Der Kläger bezieht eine Altersrente unter Berücksichtigung von Zeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von
Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto (ZRBG). Er begehrt die Anerkennung weiterer Versicherungszeiten und
daraus resultierend eine höhere Altersrente.
Der Kläger wurde am X.X.1922 in B. geboren. Er ist jüdischen Glaubens. Im dritten oder vierten Lebensjahr siedelte
der Kläger mit seiner Familie nach Bedzin über. Bis ins Jahr 1939 besuchte er dort die Schule.
Den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erlebte der Kläger mit seiner Familie in Bedzin. Die genaueren
Lebensumstände während der ersten Monate nach dem Einmarsch der deutschen Besatzungstruppen im September
1939 sind Gegenstand dieses Verfahrens (dazu unten). Seinen eigenen Angaben im Verfahren nach dem
Bundesentschädigungsgesetz (BEG) zufolge befand sich der Kläger ab Juni 1941 in einem in Bedzin eingerichteten
Ghetto. Von dort gelangte er im Juni 1943 zunächst in das Konzentrationslager Auschwitz, von wo er später weiter in
das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt wurde. Nach den Angaben des Klägers im
Entschädigungsverfahren wurde er im Krankenbau des Konzentrationslagers Sachsenhausen Opfer medizinischer
Experimente. Während eines Evakuierungsmarsches aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen in Richtung L.
gelang dem Kläger am 1.5.1945 in der Nähe von S. die Flucht.
Der Kläger lebt seit 1950 in den USA und ist mittlerweile US-amerikanischer Staatsangehöriger. Er ist als Verfolgter
des Nationalsozialismus anerkannt und hat vom Regierungspräsidenten in Darmstadt für die erlittene
Freiheitsentziehung und die davongetragenen Schäden an Körper und Gesundheit Leistungen zur Entschädigung nach
dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) erhalten.
Auf einen Antrag vom 6.3.1998 bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 17.9.1999 eine Regelaltersrente
in Höhe von monatlich 982,98 DM. Auf einen weiteren Antrag vom 15.10.2002 änderte die Beklagte die
Rentenbewilligung mit Bescheid vom 15.1.2003 dahingehend, dass die Rentenhöhe nunmehr 535,07 EUR monatlich
betrug. Dieser Rentenberechung waren zugrunde gelegt worden u.a. Verfolgungsersatzzeiten vom 8.1.1940 bis zum
14.1.1942. Die Anerkennung von Verfolgungsersatzzeiten auch für die Monate September bis Dezember 1939 hatte
die Beklagte jedoch abgelehnt.
Der insoweit erhobene Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 23.2.2004 zurückgewiesen.
Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass nach § 250 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) i.V.m. §§ 43,
47 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) eine Ersatzzeit u.a. dann anzuerkennen sei, wenn eine Freiheitsentziehung
im Sinne des § 43 BEG oder eine Freiheitsbeschränkung im Sinne des § 47 BEG vorgelegen habe. Eine
Freiheitsbeschränkung im Sinne des § 47 BEG liege jedoch nur dann vor, wenn der Verfolgte in der Zeit vom
30.1.1933 bis zum 8.5.1945 den sog. "Judenstern" getragen oder unter menschenunwürdigen Bedingungen in der
Illegalität gelebt habe. In Ostoberschlesien und folglich auch in Bedzin sei die Kennzeichnung der jüdischen
Bevölkerung erst mit Wirkung vom 8.1.1940 angeordnet worden. Andere Tatbestände der Freiheitsbeschränkung seien
ausdrücklich nicht vom Gesetzeswortlaut erfasst. Da auch keine andere Alternative des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI
greife, könne eine verfolgungsbedingte Ersatzzeit für den Kläger erst ab dem 8.1.1940 anerkannt werden.
Gegen diesen Bescheid hat der frühere Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 30.3.2004, Eingang bei
Gericht am 31.3.2004, Klage erhoben. Zur Begründung hat die später hinzugetretene Bevollmächtigte des Klägers
ausgeführt, dass der Kläger schon kurz nach Beginn der Besatzungszeit Zwangsarbeit für die Deutschen habe leisten
müssen. Allein aus diesem Umstand ergebe sich das Vorliegen einer verfolgungsbedingten Freiheitsbeschränkung im
Sinne von § 250 SGB VI. Darüber hinaus habe jeder Arbeitszwang letztlich eine erhebliche Einschränkung der
persönlichen Freiheit des Betroffenen zur Folge. Im Falle des Klägers sei schon vor dem 8.1.1940 unter
Berücksichtigung aller sonstigen Umstände sogar von einer Freiheitsentziehung im Sinne von § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB
VI auszugehen.
Nachdem die Bevollmächtigte des Klägers ursprünglich die Anerkennung verfolgungsbedingter Ersatzzeiten auch für
die Zeit von September 1939 bis zum 7.1.1940 verfolgt hatte, beantragt sie nurmehr, die Bescheide der Beklagten
vom 10.8.1999 und 15.1.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.2.2004 abzuändern und die Beklagte
zu verurteilen, dem Kläger die Zeit vom 1.11.1939 bis zum 7.1.1940 als verfolgungsbedingte Ersatzzeit
anzuerkennen.
Der Vertreter der Beklagten beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist die Beklagte auf ihre Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden und auf den Inhalt der
Akten. Überdies weist die Beklagte darauf hin, dass nach ihrer aktuellen Verwaltungspraxis die Anerkennung weiterer
Ersatzzeiten ohnehin nur dann in Betracht komme, wenn zuvor eine gutachterliche Stellungnahme der zuständigen
Entschädigungsbehörde über die streitige Zeit eingeholt worden sei.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat das Gericht die den Kläger betreffenden Akten und Unterlagen der
Beklagten beigezogen. Darüber hinaus hat das Gericht die Akten des Regierungspräsidenten in Darmstadt im
Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) angefordert. In den Akten des Regierungspräsidenten in
Darmstadt findet sich insbesondere eine eidesstattliche Versicherung des Klägers vom 22.8.1956, in der der Kläger
ausgeführt hatte, er habe sich bereits wenige Wochen nach der deutschen Besetzung alltäglich zur Zwangsarbeit bei
der jüdischen Gemeinde melden müssen. Dort sei er dann alltäglich zur Zwangsarbeit eingeteilt worden. Er sei
vorwiegend bei Straßenreinigungsarbeiten sowie bei verschiedensten Arbeiten zur Anlage eines neuen Parks
eingesetzt worden. Einige Monate lang habe er auch alltäglich zu einer etwa zwei Meilen von Bedzin entfernt
gelegenen keramischen Fabrik fahren müssen, wo er gleichfalls Zwangsarbeit geleistet habe. Bei dieser Arbeit habe
er spätestens ab Mitte Dezember 1939 zu seiner Kennzeichnung als Jude ein Abzeichen tragen müssen. Diese
Kennzeichnung habe einmal gewechselt. In einer Variante habe die Kennzeichnung aus einer weißen Armbinde mit
einem blauen Davidstern bestanden, in der anderen Variante habe die Kennzeichnung aus einem gelben Stern
bestanden, der auf der Brust getragen wurde. Welches der Kennzeichen zuerst zu tragen war, könne er nicht mehr
sagen.
Zum allgemeinen historischen Hintergrund haben der Kammer vorgelegen u.a. die Enzyklopädie des Holocaust (hrsg.
von Israel Gutmann u.a. - Tel Aviv 1990, Berlin 1993) sowie Auszüge aus der Monographie Kossoy / Hammitsch -
Handbuch zum Entschädigungsrecht (München 1958). Zu den Verhältnissen in Bedzin nach Ausbruch des Zweite
Weltkrieges hat der Kammer überdies das unter dem 24.11.1997 von Andrzej Bodek zum Verfahren Sozialgericht
Düsseldorf, Az. S 4 (3) J 105/93 erstellte historische Gutachten vorgelegen. Ferner lag vor die Stellungnahme von
Hellmuth Auerbach vom Institut für Zeitgeschichte in München aus September 1995 zum Verfahren Sozialgericht
Düsseldorf, Az.: S 3 J 105/93 u.a.
Für weitere Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte des Gerichts sowie den Inhalt der
beigezogenen Akten und Unterlagen verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Nachdem die Bevollmächtigte des Klägers den Antrag in der mündlichen Verhandlung auf die Geltendmachung einer
Ersatzzeit vom 1.11.1939 bis zum 7.1.1940 beschränkt hatte, war der Klage vollumfänglich stattzugeben. Die
Beklagte hat die Anerkennung einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit zwischen dem 1.11.1939 und dem 7.1.1940 zu
Unrecht abgelehnt.
Zwar ist der Beklagten insoweit Recht zu geben, als eine Kennzeichnungspflicht der jüdischen Bevölkerung in Bedzin
erst ab dem 8.1.1940 dokumentiert ist (vgl. Kossoy / Hammitsch, Handbuch zum Entschädigungsrecht, S.123).
Darüber führt auch der Umstand nicht hinweg, dass der Kläger den Beginn der Kennzeichnungspflicht für die jüdische
Bevölkerung im Jahr 1956 bereits für den Monat Dezember 1939 angab. Angesichts der dramatischen Ereignisse in
jener Zeit geht die Kammer nicht davon aus, dass sich der Kläger genau an bestimmte Daten im historischen
Zeitablauf erinnern konnte. Vielmehr hält es die Kammer für überwiegend wahrscheinlich, dass die Bedeutung exakter
zeitlicher Daten im Erleben und insbesondere in der rückblickenden Erinnerung der Betroffenen gegenüber deren
dramatischen Erfahrungen eine eher untergeordnete Rolle einnimmt. Daher hat sich die Beklagte insoweit zu Recht
auf die Angabe bei Kossoy / Hammitsch – Handbuch zum Entschädigungsrecht – gestützt, zumal die Aussage des
Klägers "im Dezember" eher vage ist und dem 8.1.1940 zeitlich durchaus nahe kommt.
Gleichwohl ist die Beklagte zu Unrecht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Erfüllung der Voraussetzungen eines
Ersatzzeittatbestandes für die vor dem 8.1.1940 liegende Zeit nicht glaubhaft gemacht worden sei.
Gemäß § 250 Abs. 1 Nr. 4 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) sind Ersatzzeiten u.a. solche Zeiten, in denen
Versicherte, die zum Personenkreis des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) gehören, nach vollendetem
14. Lebensjahr in ihrer Freiheit eingeschränkt gewesen sind oder ihnen die Freiheit entzogen worden ist (§§ 43, 47
BEG). Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI genügt die Glaubhaftmachung. Eine
Tatsache ist dann als glaubhaft gemacht anzusehen, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die
sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken soll, überwiegend wahrscheinlich ist, vgl. § 23 Abs. 1 Satz 2
Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X).
Der Kläger ist unstreitig als Verfolgter des Nationalsozialismus im Sinne des § 1 BEG anzusehen. Darüber hinaus hält
es die Kammer auch für im Sinne von § 23 Abs. 1 SGB X glaubhaft gemacht, dass der Kläger schon in der Zeit vor
dem 7.1.1940 im Sinne von § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI in seiner Freiheit beschränkt war. Nach dem Ergebnis der
gerichtlichen Ermittlungen hält die Kammer es für überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger schon in dieser Zeit
nahezu täglich Zwangsarbeit im Bereich der Straßenreinigung und bei der Anlage eines neuen Parks in Bedzin leisten
musste. Zwangsarbeit ist jede nicht freiwillig ausgeübte Tätigkeit (vgl. Klattenhoff in: Hauck / Noftz,
Sozialgesetzbuch, Gesamtkommentar, § 250 SGB VI, Stand: 24. Ergänzungslieferung XII/94, Rdnr. 222). Dass der
Kläger eine solche unfreiwillige Arbeit verrichten musste, ergibt sich insbesondere aus den Angaben des Klägers in
der eidesstattlichen Versicherung vom 22.8.1956. Die Kammer sieht angesichts des historischen Hintergrundes und
aufgrund von in anderen Verfahren mit ähnlichem Hintergrund gewonnenen Eindrücken keinen Anlass, an der
Darstellung der Arbeitsumstände in der eidesstattlichen Versicherung des Klägers vom 22.8.1956 – d.h. an der Art der
Tätigkeit, an der Vergabe der Zwangsarbeit "bei" der jüdischen Gemeinde, sowie an der Regelmäßigkeit der
Heranziehung – zu zweifeln. Dafür, dass der Kläger während dieser Arbeiten einer schweren Bewachung bzw. einer
unmittelbaren Bedrohung mit Gewaltanwendung im Falle der Verweigerung der Arbeit ausgesetzt gewesen wäre,
liegen der Kammer zwar keine Anzeichen vor. Dies ist für die Annahme von Zwangsarbeit allerdings nicht erforderlich.
In Anbetracht der Darstellung des Klägers ist jedenfalls auszuschließen, dass die beschriebenen Arbeiten freiwillig
verrichtet wurden.
Die Kammer geht ferner davon aus, dass diese Zustände jedenfalls ab dem 1.11.1939 galten. Zum Zeitpunkt des
Beginns der regelmäßigen Heranziehung zur Zwangsarbeit hatte der Kläger am 22.8.1956 angegeben, dies sei
"wenige Wochen nach der deutschen Besetzung" der Fall gewesen. Aufgrund einer Zusammenschau der Angaben
des Klägers in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 22.8.1956 und der bekannten historischen Rahmendaten hält
die Kammer es für überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger jedenfalls ab November 1939 regelmäßig zu den von
ihm beschriebenen Arbeitseinsätzen eingeteilt wurde:
Bedzin wurde am 4.9.1939 durch deutsche Truppen besetzt (vgl. Enzyklopädie des Holocaust, Seite 163). Aus der
Schilderung des Klägers vom 22.8.1956, dass er ab einem bestimmten Zeitpunkt bei der Zwangsarbeit auch den sog.
"Judenstern" tragen musste, folgert die Kammer, dass der Kläger jedenfalls schon vor dem 8.1.1940 – dem von der
Beklagten zutreffend ermittelten Beginn der Kennzeichnungspflicht in Bedzin – bereits regelmäßig unbewachte
Zwangsarbeit leisten musste. Aus der Enzyklopädie des Holocaust, Kapitel "Zwangsarbeit", Abschnitt "Juden im
besetzten Polen" (Seite 1642 f.), geht in diesem Zusammenhang hervor, dass die teils willkürliche, teils
systematische Rekrutierung der jüdischen Bevölkerung zur Zwangsarbeit bereits unmittelbar ab Beginn der deutschen
Besetzung einsetzte. Am 26.10.1939 wurde darüber hinaus per Verordnung der Arbeitszwang für jüdische Männer
zwischen 14 und 60 Jahren im Generalgouvernement eingeführt. Durch ortsgebundene Verfügungen wurde dieser
Arbeitszwang zwischen Oktober und Dezember 1939 auch in den Orten eingeführt, die – wie Bedzin – in den ins
Reich eingegliederten polnischen Gebieten lagen. Auch wenn vor diesem Hintergrund die vom Kläger beschriebene
Zwangsarbeit sogar noch früher begonnen haben könnte, hält die Kammer dies aufgrund einer Zusammenschau aller
bekannten Umstände erst ab dem 1.11.1939 für überwiegend wahrscheinlich.
Entgegen der Auffassung der Beklagten erfüllen die vom Kläger aufgrund des bestehenden Arbeitszwanges
verrichteten Arbeiten auch die Voraussetzungen einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr.
4 SGB VI. Zwar handelt es sich bei der vom Kläger nach dem Erkenntnisstand des Gerichts ohne strenge Bewachung
verrichteten Zwangsarbeit nicht um "Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen" im Sinne des
Regelbeispielkatalogs gemäß § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI i.V.m. § 43 Abs. 2 BEG. Ausgehend von Wortlaut sowie von
Sinn und Zweck des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI i.V.m. § 43 BEG ist für die Annahme einer Freiheitsentziehung eine
vollständige und nachhaltige Absonderung von der Umwelt mit Beschränkung auf einen eng begrenzten Raum
erforderlich (vgl. Niesel, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht – Grundwerk, § 250 SGB VI, Rdnr. 83
– Beck-online). Dies war im Fall der vom Kläger zu leistenden Zwangsarbeit jedoch nicht der Fall. Aus diesem Grund
kann eine solche "Zwangsarbeit unter nicht haftähnlichen Bedingungen" auch nicht den sonstigen Fällen des § 43
Abs. 2 und 3 BEG gleichgeachtet und damit in den Regelungsbereich dieses – offen gestalteten – Kataloges von
Freiheitsentziehungstatbeständen einbezogen werden.
Jedoch ist die streitige Zeit als Zeit der Freiheitsbeschränkung im Sinne von § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI zu
berücksichtigen. Es verfehlt sowohl den Wortlaut der Norm, als auch Sinn und Zweck des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI,
einen Fall von Freiheitsbeschränkung nur in den in § 47 BEG aufgeführten Fällen – nämlich für Zeiträume des sog.
"Sterntragens" bzw. des Lebens in der Illegalität unter menschenunwürdigen Bedingungen – anzunehmen. Etwas
anderes ergibt sich nach Auffassung der Kammer auch nicht zwingend aus der Systematik der Vorschrift. Aus einer
Betrachtung des normativen Zusammenhangs der Regelung über die sog. "Verfolgungsersatzzeiten" und der
Voraussetzungen einer rentenversicherungsrechtlichen Anerkennung von (fiktiven) Beitragszeiten für von Verfolgten
unter der Herrschaft des Nationalsozialismus geleistete Arbeit folgt vielmehr, dass zur Vermeidung ansonsten
bestehender Regelungslücken die Berücksichtigung einer solchen nicht unter haftähnlichen Bedingungen geleisteten
Zwangsarbeit als Verfolgungsersatzzeit geboten ist.
Dieses Ergebnis wird insbesondere vom Wortlaut des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI gedeckt. Es liegt nach Auffassung
der Kammer auf der Hand, dass der Begriff "Freiheitsbeschränkung" als solcher einen wesentlich weitergehenden
Sinngehalt aufweist, als ihn ein schlichter Verweis auf die beiden Fälle des § 47 BEG ausfüllen könnte. Nach
Auffassung der Kammer ist eine aufgrund obrigkeitlicher Anordnung geleistete Arbeit ohne reelle Ausweich- bzw.
Wahlmöglichkeit sowie ohne Einflussnahmemöglichkeit auf die Vergütung zunächst ohne weiteres unter den Begriff
der Freiheitsbeschränkung zu fassen. Es steht außer Zweifel, dass die persönliche Freiheit des Betroffenen dadurch
erheblich eingeschränkt wird, dass ein Arbeitszwang angeordnet wird. Denn seine ansonsten bestehende Freiheit,
eine Tätigkeit ohne massive persönliche Konsequenzen abzulehnen, ist im Falle bestehenden Arbeitszwanges und
einer konkreten Anforderung ebenso aufgehoben wie die Möglichkeit der Wahl einer anderen Arbeit. Dies gilt vor dem
Hintergrund der bekannten historischen Umstände in besonderem Maße für die während des Zweiten Weltkrieges von
der deutschen Besatzungsverwaltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung verhängten Zwangsmaßnahmen. Im
Übrigen wird durch jede obrigkeitliche Zuweisung an eine bestimmte Arbeitsstelle auch die Freiheit der Wahl des
Aufenthaltsortes zumindest zeitweise erheblich eingeschränkt, wenngleich diese Freiheit dadurch – mangels
"nachhaltiger Absonderung" – noch nicht im rechtlichen Sinne entzogen ist (siehe oben).
Die Einbeziehung einer solchen unter nicht haftähnlichen Bedingungen geleisteten Zwangsarbeit entspricht nach
Auffassung der Kammer auch Sinn und Zweck des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI. Diese Vorschrift verfolgt nämlich das
Ziel, dem Schicksal der Verfolgten des Nationalsozialismus insoweit Rechnung zu tragen, als diese durch
nationalsozialistische Unrechtsmaßnahmen aus der (deutschen) Rentenversicherung verdrängt wurden. Durch das
Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) bzw. das
Fremdrentengesetz (FRG) wird der Anwendungsbereich dieses Grundgedankens unter gewissen Voraussetzungen
auch auf nicht "deutsche" Versicherungszeiten ausgedehnt. Bei der Auslegung des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI ist
dem insoweit auch in der gesetzlichen Rentenversicherung verankerten Wiedergutmachungszweck Rechnung zu
tragen und derjenigen Interpretation der Vorzug zu geben, die eine möglichst weitgehende Wiedergutmachung des
eingetretenen Schadens erlaubt (vgl. zum Ganzen Klattenhoff, in: Hauck / Noftz, Sozialgesetzbuch –
Gesamtkommentar, § 250 SGB VI, Stand: 56. Ergänzungslieferung, Rdnr. 198 – 201, m.w.N.).
Diesem Wiedergutmachungszweck würde eine Auslegung des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI, die zu einer
rentenversicherungsrechtlichen Nichtberücksichtigung der vom Kläger vom 1.11.1939 bis zum 7.1.1940 geleisteten
Arbeit führt, unmittelbar zuwiderlaufen. Der Kläger wurde durch die Auferlegung des Arbeitszwanges – der in seinem
Fall auch zur beinahe täglichen Ausübung verschiedener ihm zugewiesener Arbeiten führte – tatsächlich daran
gehindert, einer regulären sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung bzw. sonstigen frei gewählten Tätigkeiten
nachzugehen. Aufgrund mangelnder Freiwilligkeit der wegen des bestehenden Arbeitszwanges geleisteten Arbeit
kommt eine Anrechnung dieser Zeit als irgendwie geartete "polnische", "deutsche" oder "fiktive" Beitragszeit nicht in
Betracht. Unter dem Gesichtspunkt der Wiedergutmachung ist ein Ausgleich des hierdurch bedingten Verlustes der
Möglichkeit des Erwerbs von Versicherungszeiten nach Auffassung der Kammer nachgerade geboten. Durch die von
der Beklagten vertretene Begrenzung des Begriffs der Freiheitsbeschränkung im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB
VI allein auf die in § 47 BEG genannten Fälle würde demgegenüber das einer umfassenden Berücksichtigung des
Verfolgungsschicksals des Klägers zuwiderlaufende Ergebnis erreicht, dass diese zwischen November 1939 und dem
7.1.1940 zugunsten der nationalsozialistischen Besatzungsverwaltung unfreiwillig verrichtete Arbeit in der
Rentenbiographie des Klägers gänzlich unberücksichtigt bliebe. Zwar befindet sich die Beklagte insoweit in
Übereinstimmung mit einer umfangreichen Kommentarliteratur (vgl. Kreikebohm, Kommentar zum SGB VI, 2. Auflage,
§ 250, Rdnr. 36, 38; Niesel, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Grundwerk, § 250 SGB VI, Rdnr.
84 – Beck-online), dort bleibt eine Auseinandersetzung mit der Begründung sowie Berechtigung dieser erheblichen
Begrenzung des Tatbestandsmerkmals "Freiheitsbeschränkung" allerdings aus.
Überdies spricht auch die Systematik der Vorschrift nicht gegen eine derart "offene" Auslegung des Begriffs der
Freiheitsbeschränkung im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI. Insbesondere ergibt sich aus dem Umstand, dass §
250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI auf § 47 BEG Bezug nimmt und dort zwei – in der Tat abschließende – Alternativen der
Freiheitsbeschränkung geregelt sind, nicht, dass der Begriff der Freiheitsbeschränkung im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr.
4 SGB VI ebenfalls nur auf diese beiden Fälle des § 47 BEG reduziert wäre. Dies folgt schon daraus, dass der
"Klammerzusatz" nicht unmittelbar nach dem Begriff der "Einschränkung der Freiheit", sondern – in gewisser Weise
losgelöst – erst am Ende des ersten Satzteiles nachfolgt. Nach Auffassung der Kammer handelt es sich u.a. aufgrund
dieses losen Zusammenhangs von Tatbestandsmerkmal und Verweis auf § 47 BEG "nur" um eine Klarstellung, dass
jedenfalls die beiden in § 47 BEG genannten Fälle einer Freiheitsbeschränkung bei Erfüllung der sonstigen
Voraussetzungen des § 250 SGB VI zur Anrechnung von Ersatzzeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung führen.
Eine abschließende Legaldefinition beinhaltet dieser Verweis auf § 47 BEG indessen nicht, zumal diese Annahme –
wie bereits ausgeführt – Sinn und Zweck des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI widersprechen würde. Letztendlich ergibt
sich auch aus dem systematischen Gesamtzusammenhang der Vorschriften über die Anerkennung von (fiktiven)
Beitragszeiten – insb. nach dem WGSVG, nach dem FRG und nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten
aus Beschäftigungszeiten im Ghetto (ZRBG) – sowie der hier unmittelbar streitgegenständlichen Vorschriften über die
Anerkennung von (Verfolgungs-)Ersatzzeiten, dass die vollständige Nichtberücksichtigung von unter nicht
haftähnlichen Bedingungen geleisteter Zwangsarbeit von Verfolgten des Nationalsozialismus der gesetzgeberischen
Grundintention zuwiderliefe. Die Kammer vermag keine Anhaltspunkte dafür zu erkennen, dass der Gesetzgeber die
Berücksichtigung einer solchen Zwangsarbeit unter nicht haftähnlichen Bedingungen im Falle von Verfolgten, die – wie
der Kläger – aufgrund anrechenbarer (fiktiver) Beitragszeiten zum Rentenbezug berechtigt sind, ausschließen wollte.
Die von der Beklagten angeregte Anforderung einer Stellungnahme der zuständigen Entschädigungsbehörde war zur
Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits nicht erforderlich. Zwar mag es aus Sicht der Beklagten sinnvoll sein,
im Rahmen der Verwaltungspraxis gelegentlich auf die Einschätzung der Entschädigungsbehörden zum Sachverhalt
zurückzugreifen. Allerdings nimmt letztendlich sowohl die Beklagte im Verwaltungsverfahren als auch das Gericht im
Klagverfahren jeweils eine eigenständige Beurteilung des Sachverhalts und der daran anschließenden Rechtsfolgen
vor (vgl. zur Frage der Verfolgteneigenschaft Klattenhoff, in: Hauck / Noftz, Sozialgesetzbuch – Gesamtkommentar, §
250 SGB VI, Stand: 56. Ergänzungslieferung XI/00, Rdnr. 202, m.w.N.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).