Urteil des SozG Hamburg vom 12.09.2003

SozG Hamburg: diabetes mellitus, verordnung, medikament, versorgung, krankheit, arzneimittel, nahrung, sport, diät, adipositas

Sozialgericht Hamburg
Urteil vom 12.09.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 34 KR 647/00
1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 23.6.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 11.10.2000 verurteilt, den Kläger nach jeweiliger Verordnung mit dem Medikament Xenical zu versorgen. 2. Die
Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger ein Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Xenical zusteht.
Der am XX.XX.44 geborene Kläger leidet unter Hypertonie, Diabetes mellitus und Gelenkverschleiss. Weiterhin ist der
Kläger stark übergewichtig. Bei einer Körpergröße von 183 cm wiegt er aktuell 115 kg. Der in der Medizin zur
Klassifizierung des Körpergewichts verwendete Body Maß Index (BMI) Quotient aus Körpergewicht in Kilogramm und
Körpergröße in Metern zum Quadrat beträgt 34 (Normalgewicht: BMI kleiner = 25).
Bereits mit 19 Jahren war der Kläger erheblich übergewichtig. Durch Sport und körperliche Bewegung war er zunächst
in der Lage, sein Körpergewicht zu reduzieren. Nachdem wegen Gelenkverschleiss 1994 eine Schulteroperation
erfolgte und 1999 eine künstliche Hüfte eingesetzt werden musste, war es dem Kläger nicht mehr möglich, Sport zu
treiben und durch mehr Bewegung das Gewicht zu halten oder zu verringern. Auch nach zahlreichen Diäten und zwei
Kuren vermochte der Kläger sein Körpergewicht nicht dauerhaft zu reduzieren und nahm weiterhin zu. Zeitweise wog
er sogar 132 kg. Mit Attest vom 18.05.2000 verordnete der behandelnde Arzt Dr. Krüger das Medikament Xenical für
die Dauer von zunächst 12 Monaten. Wegen seiner Begleiterkrankungen sei der Patient nicht in der Lage, seinen
Kalorienverbrauch durch Bewegung zu steigern. Bei dem Medikament Xenical handelt es sich um ein Präparat,
welches zu einer Verminderung von 30 % des mit der Nahrung zugeführten Fettes führt. Mit Schreiben vom
16.06.2000, welches am 19.06.2000 bei der Beklagten einging, beantragte der Kläger die Versorgung mit dem
Medikament Xenical. Beigefügt war das ärztliche Attest zur Vorlage bei der DAK vom 18.05.2000 sowie ein
privatärztliches Rezept vom 14.06.2000 für Xenical. Mit Bescheid vom 23.06.2000 lehnte die Beklagte die
Kostenübernahme mit der Begründung ab, dass laut der Arzneimittelrichtlinien (AMR) des Bundesausschusses der
Ärzte und Krankenkassen Xencal nicht verordnet werden dürfe. Am 25.07.2000 erhob der Kläger durch seinen
Prozessbevollmächtigten Widerspruch. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass dem Bundesausschuss der Ärzte und
Krankenkasse die Kompetenz für einen Ausschluss fehle.
Mit Bescheid vom 11.10.2000 wurde der Widerspruch des Klägers von der Beklagten als unbegründet
zurückgewiesen.
Unter dem 13.11.2000 erhob der Kläger Klage. Er führt zur Begründung an, dass nach der Rechtsprechung des BSG
keine Kompetenz des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen für eine Einschränkung der Verordnung von
Arzneimitteln bestehe, § 135 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) nicht für Fertigarzneimittel wie Xenical gelte
und es sich bei Adipositas um eine Krankheit handele.
Der Kläger beantragt nunmehr,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23.06.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
11.10.2000 zu verurteilen, den Kläger nach jeweiliger Verordnung mit dem Medikament Xenical zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, dass § 135 SGB V anwendbar sei und es sich um eine nicht anerkannte Behandlungsmethode
handele, die nicht zu Lasten der Krankenkasse verordnet werden dürfe. Auch handele es sich nicht um eine Therapie
einer Krankheit, sondern der Folgeerscheinungen.
Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 12.09.2003 informatorisch befragt. Es wird Bezug
genommen auf die Sitzungsniederschrift vom 12.09.2003. Der Kläger hat nach gerichtlichem Hinweis die Klage
hinsichtlich der zunächst begehrten Erstattung für in der Vergangenheit verordneten und erworbenen Medikamente
zurück genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid vom 23.06.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.10.2000 ist rechtswidrig. Der
Kläger hat einen Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Xenical nach jeweiliger ärztlicher Verordnung.
Gem. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst der Anspruch auf Krankenbehandlung u.a. auch die Versorgung mit
Arzneimitteln. Dieser Anspruch wird durch § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V weiter spezifiziert: Versicherte haben Anspruch
auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 ausgeschlossen sind.
Das erhebliche Übergewicht des Klägers stellt eine Krankheit im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V dar. Von einer
Krankheit ist bei einem regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand auszugehen, der die Notwendigkeit einer
Heilbehandlung zur Folge hat. Regelwidrig ist ein Zustand dann, wenn er vom Leibbild des gesunden Menschen
abweicht (BSG, Urteil vom 10.02.93 SozR 3 - 2200 § 182 Nr. 14). Allein auf Grund der mit starkem Übergewicht
einhergehenden Folgeerkrankungen wie Stoffwechselerkrankungen, Herz-Kreislauferkrankungen, Einschränkungen
des Bewegungsapparates ergibt sich die medizinische Notwendigkeit einer Behandlung mit dem Ziel der
Gewichtsreduzierung (BSG vom 19.02.2003, Az.: B 1 KR 1/02 R ). Bei einem BMI von mehr als 30 ist bereits von
starkem Übergewicht auszugehen ( Adipositas I ), welches als behandlungsbedürftig anzusehen ist. Der Kläger hat
einen BMI-Wert von derzeit 34. Weiterhin leidet er unter massiven Gelenk- und Arthroseproblemen. Aus diesem
Grunde wurde in der Vergangenheit eine Schulteroperation erforderlich, ein künstliches Hüftgelenk ist eingesetzt
worden und es droht unmittelbar der Einsatz eines künstlichen Kniegelenkes. Es liegt auf der Hand, dass die Gelenke
durch Übergewicht stärker zusätzlich belastet werden und der Verschleiss weiter voranschreitet. Unabhängig von der
Frage, ob Adipositas eine Krankheit darstellt, bestehen Erkrankungen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dem
Übergewicht stehen und für deren Behandlung/Linderung/Besserung eine Gewichtsreduzierung dringend erforderlich
ist. Somit ist eine Gewichtsreduzierung allein auf Grund von Folgeerkrankungen indiziert.
Auch ist das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V nicht verletzt. Diese Vorschrift bestimmt, dass
die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen; sie
dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind,
können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht
bewilligen.
Die erforderliche Gewichtsreduktion kann nicht durch möglicherweise wirtschaftlichere bzw. kostengünstigere
Behandlungsalternativen erfolgen. Auf Grund des Gelenkverschleisses und der Arthroseproblematik kann der Kläger
keinen Sport mehr ausüben und durch körperliche Bewegung eine Verringerung des Gewichts herbeiführen. Diätische
Therapien scheiden ebenfalls aus. So hat der Kläger glaubhaft dargelegt und es wurde ihm vom Hausarzt bescheinigt,
dass es zahlreiche Diätversuche in der Vergangenheit gegeben hat, die allesamt erfolglos geblieben sind. Der Kläger
gibt an, mindestens zehn bis zwanzig verschiedene Diätmethoden probiert zu haben. Es ist offensichtlich, dass eine
dauerhafte Gewichtsreduzierung auch bei einem weiteren Versuch scheitern wird. Im Übrigen sind Diäten nach
neuerer wissenschaftlicher Erkenntnis völlig untauglich und sogar kontraproduktiv für das Ziel, dauerhaft das Gewicht
zu reduzieren. Sofern die Nahrungsmenge im Rahmen einer Diät reduziert wird geht der Organismus von einer nicht
gewollten Nahrungsverknappung aus. Um für weitere zukünftige Verknappungen gewappnet zu sein wird die Nahrung,
die zugeführt wird, besser verwertet und es werden schneller Fettreserven angelegt. Somit ergibt sich genau der
gegenteilige Effekt. Der Körper speichert auch bei geringerer Nahrungs- und Fettzufuhr mehr Fett als vorher ab, um
Energiereserven für weitere bevorstehende Nahrungsverknappungen zu speichern. Wird die Diät beendet, werden bei
gleicher Nahrungsmenge mehr Fettreserven gebildet als vor Beginn der Diät. Dieser Effekt steigert sich bei weiteren
Diäten. Jede Diät kann somit einen schwerwiegenden Eingriff mit möglicherweise negativen Folgen für den Körper
darstellen. Auch verwerten Menschen Nahrung unterschiedlich, weshalb Übergewichtige nicht unbedingt wie landläufig
angenommen, große Mengen fettreicher Nahrung einnehmen. Insofern ist der Vorwurf mangelnder Disziplin häufig
unbegründet, und ernährungswissenschaftlich nicht haltbar. Es ist durchaus möglich und glaubhaft, dass der Kläger
seiner Einschätzung nach nicht mehr, sondern eher weniger isst als andere.
Dies wurde ihm nach einer Kur bescheinigt und gerade auch die zahlreichen, erfolglosen Diäten, die er in der
Vergangenheit gemacht hat, sprechen hierfür. Die einzig erfolgversprechende Möglichkeit das Gewicht zu reduzieren,
wäre mehr Bewegung, Aktivität und Sport. Dies ist dem Kläger aus den genannten Gründen nicht möglich. Durch das
Medikament Xenical reduziert sich die Fettaufnahme bei normaler oder leicht fettreduzierter Kost um bis zu 30 %.
Durch die Blockierung der Fettaufnahme aus dem Magen- Darm Trakt wird ein kalorisches Defizit erreicht, dass die
Gewichtsreduzierung erleichtert. Die Absorption von lebensnotwendigen Mineralstoffen und fettlöslichen Vitaminen
wird hingegen nicht beeinflusst. Es handelt sich um ein nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) zugelassenes
Medikament, sodass die pharmazeutische Wirksamkeit außer Frage steht und als nachgewiesen gilt. Ohne
entsprechende Studien, die die Wirksamkeit des Präparats belegen, wäre eine Zulassung nicht erfolgt.
Dem Anspruch des Klägers auf Verordnung des Arzneimittels Xenical stehen auch nicht sonstige gesetzliche
Vorschriften entgegen. Gem. § 34 SGB V zählt Xenical nicht zu den in Abs. 1 genannten Bagatellarzneimitteln. Eine
Verordnung gem. § 2 ist bislang nicht ergangen. Schließlich scheitert der Sachleistungsanspruch auch nicht an der
Regelung der Ziffer 17.1 (1 J) der Arzneimittelrichtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen.
Danach dürfen Abmagerungsmittel und Appetitzügler nicht zu Lasten der Krankenkassen verordnet werden. Allerdings
vermag die Regelung der AMRL den Anspruch des Klägers nicht zu beschränken, da sie nicht durch die
Ermächtigungsgrundlage des § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V gedeckt ist. Das Bundessozialgericht hat ausgeführt,
dass es nicht Aufgabe des Bundesausschusses sei, zulassungspflichtige Arzneimittel für den Einsatz in der
vertragsärztlichen Versorgung einer nochmaligen, gesonderten Begutachtung zu unterziehen und die
arzneimittelrechtliche Zulassung durch eine für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung geltende
Empfehlung zu ergänzen oder zu ersetzen. (Urteil vom 19.03.2002, Az.: B 1 KR 37/00 R in SozR 3 - 2500 § 31 Nr. 8).
Für die Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V verbleiben nur Bestimmungen, welche die Art und Weise der
Leistungserbringung betreffen (BSG, Urteil vom 16.11.99, Az.: B 1 KR 9/97 R in: SozR 3 - 2500 § 27 Nr. 12). Die
Regelung des § 135 SGB V bezüglich neuer Behandlungsmethoden ist auf Fertigarzneimittel nicht anwendbar (BSG
vom 19.03.2002 a.a.O.).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Zwar hat der Kläger die Klage bezüglich der Kostenerstattung für die
Vergangenheit zurückgenommen, jedoch wurde bei Klageerhebung nur ein Betrag von 198 DM geltend gemacht und
dies stellt ein vergleichsweise geringfügiges Unterliegen im Hinblick auf die begehrte und zugesprochene Verordnung
für die Zukunft dar.