Urteil des SozG Darmstadt vom 15.11.2010
SozG Darmstadt: schule, stadt, gymnasium, fahrtkosten, darlehen, schulbesuch, eingliederung, oberstufe, senkung, ausnahme
Sozialgericht Darmstadt
Urteil vom 15.11.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt S 22 AS 1238/09
Hessisches Landessozialgericht L 9 AS 686/10
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Übernahme von Kosten der Schülerbeförderung für den Besuch einer gymnasialen
Oberstufe im Rahmen von Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II).
Die im Jahr 1991 geborene Klägerin bezog laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II
von dem Beklagten. Sie besuchte die 12. Klasse der A-Schule B-Stadt. Zur Senkung ihrer Kosten der Unterkunft zog
sie während des Besuchs dieser Klassenstufe von B-Stadt nach YE. im YF. um. Zum weiteren Schulbesuch fuhr sie
schultäglich von YE. nach B-Stadt. Hierzu verwendete sie eine Monatskarte in Form eines sog. MAXX-Tickets des
Verkehrsverbunds Rhein-Neckar und wandte hierzu Kosten in Höhe von monatlich 33,50 EUR auf.
Am 13.8.2009 beantragte sie bei dem Beklagten "die Erstattung der Fahrtkosten zur Schule, da es in YE. kein
Gymnasium gibt." Mit Bescheid vom 3.9.2009 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Die Kosten für die Benutzung
öffentlicher Verkehrsmittel seien in der Regelleistung enthalten. Auch die Kostenübernahme als
Eingliederungsleistung scheide aus, da hierunter nur Leistungen zu verstehen seien, die für die Eingliederung in das
Erwerbsleben erforderlich seien. Ein höherer Schulabschluss sei für die Eingliederung in Arbeit aber nicht zwingend
erforderlich. Auch bei einem mittleren Schulabschluss bestünden Chancen, einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Es
bestehe aber die Möglichkeit die Schülerbeförderungskosten aufgrund der voraussehbar begrenzten Dauer als
Darlehen gem. § 23 Abs. 1 SGB II zu gewähren. Hierzu wäre jedoch ein ausdrücklicher Antrag erforderlich.
Hiergegen legte die Klägerin am 14.9.2009 Widerspruch ein. Die Begründung der Ablehnung sei diskriminierend. Die
Klägerin könne nicht auf einen niedrigeren Schulabschluss verwiesen werden. Es läge nicht in der
Entscheidungskompetenz des Beklagten, welchen Schulweg sie einschlage.
Mit Widerspruchsbescheid vom 17.11.2009 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück und führte die
Gründe der Ausgangsentscheidung näher aus. Dagegen hat die Klägerin am 21.12.2009 Klage vor dem Sozialgericht
Darmstadt erhoben. Sie meint, es sei unerheblich, ob sie weiter eine Schule in B-Stadt oder ein näher gelegenes
Gymnasium, bspw. in YD., besuche, weil die Kosten für das MAXX-Ticket entfernungsunabhängig seien.
Entscheidend sei, dass es in YE. kein Gymnasium gebe. Zudem sei es ihren schulischen Leistungen zuträglich, in
der 12. Klasse keinen Schulwechsel vornehmen zu müssen. Sie ist der Ansicht, im Regelsatz seien nur die Kosten
für gelegentliche Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln enthalten, nicht aber tägliche. Es wäre eine
unverantwortliche Benachteiligung, wenn sie nicht genauso gestellt würde, wie Schüler, die aufgrund eines rein
zufälligen Wohnortvorteils eine passende Schulform am Ort hätten. Letztlich sei auch zu berücksichtigen, dass der
Wohnortwechsel deswegen erfolgte, weil der Beklagte sie zur Senkung der Unterkunftskosten aufgefordert habe.
Die Klägerin beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 3.9.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
17.11.2009 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, für die Klägerin die tatsächlichen Kosten für die Fahrten der
Schule zu übernehmen.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Er bezieht sich zur Klageerwiderung auf die Gründe seiner Verwaltungsentscheidungen und führt sie näher aus.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen
Verwaltungsakte des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Die angefochtenen Bescheide des Beklagten, mit denen er die Übernahme der Fahrtkosten der Klägerin zur Schule -
für einen nicht begrenzten Zeitraum - abgelehnt hat, sind nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf
Übernahme oder Erstattung ihrer Schülerbeförderungskosten durch den Beklagten. Hierzu fehlt es an einer
Anspruchsgrundlage. Ein Anspruch kann sich weder aus § 21 Abs. 6 SGB II noch unmittelbar aus der Verfassung
(vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, 1BvL 3/09, 1 BvL 4/09 Rn. 220) herleiten. Ein
Anspruch aus § 21 Abs. 6 SGB II scheidet schon deshalb aus, weil diese Vorschrift erst zum 3.6.2010 eingeführt
wurde (BGBl. I, S. 671). Ohnehin sind aber auch dessen Voraussetzungen ebenso wenig erfüllt, wie die
Voraussetzungen eines sich unmittelbar aus dem Grundgesetz ergebenden Anspruchs.
Beide Ansprüche setzen eine atypische Bedarfslage im Sinne der aktuellen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG Urteil vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 u. a. Leitsatz 4) voraus. Eine solche entsteht
erst, wenn der Bedarf so erheblich ist, dass die Gesamtsumme der dem Hilfebedürftigen gewährten Leistungen -
einschließlich der Leistungen Dritter und unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Hilfebedürftigen - das
menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr gewährleistet. Dieser zusätzliche Anspruch dürfte nach Ansicht des
BVerfG angesichts seiner engen und strikten Tatbestandsvoraussetzungen nur in seltenen Fällen entstehen (vgl.
BVerfG Urteil vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 Rn. 208).
Die Schülerbeförderungskosten der Klägerin sind kein atypischer Bedarf in diesem Sinne (siehe BSG Urteil vom
19.8.2010 – B 14 AS 47/09 R Rn. 12 unter Hinweis auf seine bisherige Rechtsprechung, insbesondere BSG Urteil
vom 28.10.2009 – B 14 AS 44/08 R Rn. 21, Luik in jurisPR-SozR 4/2010 Anm. 1 zu BVerfG Urteil vom 9.2.2010 – 1
BvL 1/09, so auch SG Darmstadt Beschluss vom 21.10.2010 - S 17 AS 1255/10 ER; a.A. SG Marburg Beschluss
vom 5.8.2010 – S 5 AS 309/10 ER, SG Gießen Beschluss vom 19.8.2010 – S 29 AS 981/10 ER, SG Wiesbaden
Beschluss vom 26.10.2010 – S 15 AS 632/10 ER).
Von einem atypischen Bedarf kann nicht alleine deshalb ausgegangen werden, weil er nicht jeden Hilfebedürftigen
gleichermaßen trifft oder weil er den im Regelsatz enthaltenen Betrag für diesen Bedarfsposten übersteigt (vgl. hierzu
SG Wiesbaden Beschluss vom 26.10.2010 – S 15 AS 632/10 ER Rn. 15 ff.). Dies würde den vom
Bundesverfassungsgericht explizit eng gefassten Anwendungsbereich zu sehr ausdehnen und den Charakter einer
Härtefallregelung verwischen (dies entspricht auch der Gesetzesbegründung des § 21 Abs. 6 SGB II, vgl. BT-DS.
17/1465, S. 8 f.). Vielmehr ist es erforderlich, dass nur eine sehr begrenzte Zahl von Hilfebedürftigen einen derartigen
Bedarf hat, so dass tatsächlich von einer ungewöhnlichen Ausnahme ausgegangen werden kann.
Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Gerade im schulischen Bildungsabschnitt der gymnasialen
Oberstufe entspricht es eher der Regel als der Ausnahme, dass in ländlicheren Gebieten keine entsprechende Schule
vor Ort ist und deshalb Fahrtkosten für den Schulbesuch anfallen. Gymnasiale Oberstufen finden sich typischerweise
nur in Siedlungszentren.
Die Beklagte war auch nicht nach § 23 Abs. 1 SGB II zur Leistungserbringung verpflichtet. Danach kann, sofern im
Einzelfall ein von den Regelleistungen umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des
Lebensunterhalts weder durch das Vermögen noch nach § 12 Abs. 2 Nr. 4 noch auf andere Weise gedeckt werden
kann, die Agentur für Arbeit bei entsprechendem Nachweis den Bedarf als Sachleistung oder als Geldleistung
erbringen und gewährt dem Hilfebedürftigen ein entsprechendes Darlehen. Die Klägerin begehrt im vorliegenden Fall
aber keine darlehensweise Übernahme, sondern die zuschussweise Übernahme der Kosten. Auf den Hinweis des
Beklagten, dass ein Antrag auf ein Darlehen gestellt werden kann, ist sie nicht eingegangen.
Da die Kosten der Schülerbeförderung somit nicht gesondert zu leisten sind, stellen sie einen Bedarf dar, der aus der
Regelleistung gem. § 20 SGB II zu decken ist. Dies ergibt sich im Ergebnis auch aus der jüngsten Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, 1BvL 3/09, 1 BvL 4/09). Darin hat das
Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der bisherigen Regelsatzberechnung für Kinder vor allem damit
begründet, dass der zusätzliche, existentielle Bedarf von Kindern, der aufgrund des Schulbesuchs entstehe, bei einer
Berechnung, die diese als "kleine Erwachsene" behandele, nicht berücksichtigt sei. Beispielhaft führt das Gericht
Schulmaterialien wie Schulbücher, Schulhefte und Taschenrechner auf. Die Nichtberücksichtigung der Kosten für den
Besuch der Schule ist mithin ein tragender Grund für die angenommene Verfassungswidrigkeit der Berechnung der
Regelsätze. Es muss deshalb – der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgend – davon ausgegangen
werden, dass die mit dem Schulbesuch zusammenhängenden Bedarfe Teil der Regelleistung sind (siehe hierzu BSG
Urteil vom 19.8.2010 – B 14 AS 47/09 R Rn. 13 f.). Nach Ansicht der Kammer entspricht diese Ansicht auch der
Gesetzesbegründung zu § 21 Abs. 6 SGB II, wonach beispielhaft aufgezählt insbesondere die ebenfalls
bildungsbedingt anfallenden Bedarfe für Schulmaterialien und Schulverpflegung kein Sonderbedarf im Sinne der
Regelung sind (BT-DS 17/1465, S. 8 f.). Zusätzliche Leistungen für die Kosten der Schülerbeförderung stehen der
Klägerin nach alledem aufgrund des Fördersystems des SGB II nicht zu. Dies ist auch systemgerecht und entspricht
dem Gesetzeszweck, weil die zielgerichtete Ausbildungsförderung anderen Gesetzen, insbesondere dem
Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) zugewiesen ist. Es ist daher auch Sache des Gesetzgebers, den
gleichberechtigten Zugang zu höherer schulischer Ausbildung im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen des
Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sicherzustellen. Der Landesgesetzgeber hat seine diesbezügliche
Entscheidung durch die Regelung des § 161 Hessisches Schulgesetz (HSchG) für die dort abschließend aufgezählten
Schultypen getroffen.
Die Klage war deshalb abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.