Urteil des SozG Bremen vom 13.10.2009

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Sozialgericht Bremen
Beschluss vom 13.10.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 3 SB 286/09 ER
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 12 SB 64/09 B ER
Der Antrag des Antragstellers auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "aG"
im Wege der einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Bei dem 1919 geborenen Antragsteller ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 festgestellt unter Berücksichtigung
folgender gesundheitlicher Beeinträchtigungen: 1. Teillähmung des linken Beines mit Muskelschwund und
Beinverkürzung nach Polio (Einzel-Bewertung des GdB: 60); 2. Nierenverlust rechts 1993 (Einzel-Bewertung des GdB:
30); 3. Herz- und Kreislaufschaden (Einzel-Bewertung des GdB: 20); 4. Hörminderung (Einzel-Bewertung des GdB:
20); 5. Diabetes (Einzel-Bewertung des GdB: 10); 6. Li. 3.Fingerverkürzung (Einzel-Bewertung des GdB: 10). Bei dem
Antragsteller sind ferner die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche "erhebliche
Gehbehinderung" ("G") und "Berechtigung für eine ständige Begleitung" ("B") festgestellt.
Am 19. März 2009 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Feststellung der gesundheitlichen
Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "außergewöhnliche Gehbehinderung" ("aG"). Die Beklagte holte
Befundberichte der Praktischen Ärztin ARF. vom 01. April 2009 und des Urologen Dr. TS. vom 24. April 2009 ein. Die
Praktische Ärztin führte aus, der Antragsteller könne wegen der Polio-Folgen, wegen zunehmender Polyarthrosen und
allgemeiner Abnahme der körperlichen Kräfte bei zunehmendem Alter (89 Jahre) nur noch im Hause alleine laufen.
Außerhalb des Hauses brauche er Hilfsmittel wie Rollator und Rollstuhl, um fortbewegt zu werden. Entsprechend einer
versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 12. Mai 2009 lehnte die Antragsgegnerin durch Bescheid vom 13. Mai
2009 den Antrag des Antragstellers mit der Begründung ab, dass eine wesentliche Änderung in seinen
gesundheitlichen Verhältnissen nicht festzustellen und der begehrte Nachteilsausgleich in seinen Voraussetzungen
nicht gegeben sei.
Im Widerspruchsverfahren machte der Antragsteller geltend, er könne innerhalb des Hauses ggf. mit Hilfe seiner
Ehefrau und ohne Gehhilfen, nicht aber ohne jede Hilfe frei und unabhängig laufen. Seien Wege außer Haus
notwendig, so müsse er von seiner Ehefrau dorthin gefahren werden und sei darauf angewiesen, dass der PKW auf
einem Behindertenparkplatz abgestellt werden könne. Von dort aus könne er nur mühsam mit Rollator oder Rollstuhl
sein Ziel erreichen. Auf Anforderung der Beklagten führte der Orthopäde Dr. CC. aus, der Antragsteller leide an einem
Postpoliosyndrom mit Beinverkürzung links. er sei ausschließlich im Zusammenhang mit Stürzen behandelt worden,
die er sich im Rahmen der Gesamterkrankung zugezogen habe. Hinzu komme, dass der Antragsteller 89 Jahre alt
sei; er bedürfe eines Rollstuhles. Nach einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 26. August 2009
wies die Antragsgegnerin durch Widerspruchsbescheid vom 09. September 2009 den Widerspruch des Antragstellers
als unbegründet zurück.
Am 06. Oktober 2009 hat der Antragsteller hiergegen sowohl Klage erhoben (Az. S 3 SB 289/09) als auch beantragt,
im Wege einer einstweiligen Anordnung ihm den Nachteilsausgleich "aG" zuzuerkennen. Er hat auf seine
Widerspruchsbegründung Bezug genommen und ergänzend vorgetragen, seine einzige ihm zur Seite stehende
Helferin sei seine bereits 76 Jahre alte Ehefrau, und mit der Zuerkennung des begehrten Nachteilsausgleichs sei
keine Belastung der öffentlichen Hand verbunden. Im Hinblick auf die lange Dauer sozialgerichtlicher Verfahren sei
ihm ein Abwarten der Hauptsacheentscheidung nicht zumutbar.
II.
Nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung
erlassen, wenn ein Anordnungsanspruch (im Hinblick auf das materiell geltend gemachte Recht) und ein
Anordnungsgrund (im Hinblick auf die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit) glaubhaft gemacht sind (§ 86 b Abs. 2 Satz
4 SGG). Anspruchsgrundlage für die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung ist § 69 Abs. 4
Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX), wonach die zuständigen Behörden gesundheitliche Merkmale feststellen,
die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu
diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG oder
entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen
"aG" einzutragen ist. Außergewöhnlich gehbehindert in diesem Sinne ist, wer sich wegen der Schwere seines Leidens
dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann.
Maßgeblich ist, unter welchen Bedingungen ihm die Bewegungen außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch
möglich sind; dies darf nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung möglich sein (BSG, Urteil vom 29. März
2007, Az.: B 9 a SB 5/05 R, Behindertenrecht 2008, 138).
Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist vorliegend nicht glaubhaft gemacht, geschweige denn nachgewiesen. Die
im Verwaltungsverfahren eingeholten ärztlichen Berichte sind nicht ausreichend, um das Vorliegen der
gesundheitlichen Voraussetzungen für den begehrten Nachteilsausgleich feststellen zu können. Dies gilt insbesondere
deswegen, weil in den ärztlichen Berichten entscheidend auch auf die Gebrechlichkeit des Antragstellers infolge
seines hohen Alters abgestellt wird. Altersgemäße gesundheitliche Einschränkungen sind aber im
Schwerbehindertenrecht außer Acht zu lassen. Für eine Entscheidung über das Vorliegen des geltend gemachten
Anspruches sind daher weitere Ermittlungen, voraussichtlich auch durch Einholung eines unabhängigen
Sachverständigengutachtens, erforderlich, die wegen ihrer voraussichtlichen Dauer nicht im Verfahren auf
einstweiligen Rechtsschutz anzustellen sind.
Ist – wie vorliegend - dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht
möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, wobei die grundrechtlichen Belange des Antragstellers
umfassend in die Abwägung einzustellen sind (Bundesverfassungsgericht, zuletzt Beschluss vom 25. Februar 2009,
Az.: 1 BVR 120/09, zitiert nach Juris). Abzuwägen sind die Folgen, die auf der einen Seite entstehen würden, wenn
das Gericht die Einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellte, dass der
Anspruch besteht, und auf der anderen Seite die Nachteile, die entstünden, wenn das Gericht die Einstweilige
Anordnung erließe, sich im Hauptsacheverfahren aber herausstellte, dass der Anspruch nicht besteht. Diese
Folgenabwägung führte vorliegend nicht zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes.
Zur Begründung, weshalb der begehrte Nachteilsausgleich ihm im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes
zugesprochen werden müsse, hat der Antragsteller im Wesentlichen auf die Dauer sozialgerichtlicher Verfahren, sein
Lebensalter, das Alter seiner Ehefrau als seiner einzigen Stütze und die Tatsache verwiesen, dass die Zuerkennung
des Nachteilsausgleichs "aG" nicht zum Anfallen von Kosten führen würde. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichtes kommen nur "schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare" in Betracht, die sich
aus diesem Vorbringen des Antragstellers nicht ergeben und auch sonst nicht ersichtlich sind. Der
Kostengesichtspunkt kann überhaupt keine Rolle spielen, ebensowenig das Lebensalter des Antragstellers. Im
Schwerbehindertenrecht ist naturgemäß eine Vielzahl der Antragsteller gesundheitlich stark eingeschränkt und/oder in
fortgeschrittenem Lebensalter; dies müsste – würde man der Argumentation des Antragstellers folgen – dann
regelmäßig und automatisch dazu führen, Leistungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zur Verfügung stellen
zu müssen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde statthaft. Sie ist binnen eines Monats nach Zustellung beim
Sozialgericht Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen, schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten
der Geschäftsstelle einzulegen.
Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Landessozialgericht
Niedersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Straße 1, 29223 Celle oder der Zweigstelle des Landessozialgerichts
Niedersachsen-Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten
der Geschäftsstelle eingelegt wird.