Urteil des SozG Braunschweig vom 10.12.2008

SozG Braunschweig: vergewaltigung, anorexia nervosa, psychiatrische klinik, behandlung, psychotherapie, anzeichen, psychiatrie, entschädigung, impotenz, strafanzeige

Sozialgericht Braunschweig
Urteil vom 10.12.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Braunschweig S 38 VG 70/04
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung
mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die 1945 geborene Klägerin legte im Februar 1965 das Abitur ab und besuchte danach bis September 1965 die
Frauenfachschule. Von Oktober 1965 bis August 1971 studierte sie in G., H. und I. Kunstgeschichte, Publizistik und
Germanistik, danach bis Januar 1976 in J. die Fächer Textil und Design. Nach der Diplomprüfung als Designerin
arbeitete sie bis April 1982 im erlernten Beruf und besuchte von Oktober 1985 bis März 1989 die Hochschule für
Bildende Künste (HBK) in K ... Danach durchlief sie von April 1989 bis März 1990 eine Fortbildung zur Dozentin,
studierte von April 1993 bis September 1996 an der Fachhochschule L. in der Fachrichtung Sozialwesen und
absolvierte von Oktober 1996 bis September 1997 ein Berufspraktikum im Bereich der Orientierungsstufe. Die
Klägerin erlangte einen Abschluss als staatlich anerkannte Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, betreute von Dezember
1998 bis März 1991 die Kindergruppe "M. " in K. im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM-Stelle) und
ließ sich schließlich von Dezember 2001 bis Dezember 2002 zur Sozialtherapeutin im Bereich "systemische
Familientherapie" durch das Institut für angewandte Sozialfragen GmbH in G. fortbilden. Sie absolvierte ein Praktikum
in der Frauenberatungsstelle der Suchthilfeeinrichtung (eigene Angaben der Klägerin bei der Antragstellung im
Dezember 2002).
Seit ihrem sechsten Lebensjahr litt die Klägerin nach eigenen Angaben an Anfällen von Atemnot und Stottern, das mit
dem 17. Lebensjahr therapiert wurde. 1953 durchlief sie bei starkem Untergewicht eine Kur in O ... Seit ihrem 16.
Lebensjahr nahm sie regelmäßig starke Spirituosen zu sich und litt seit dem 19. Lebensjahr an erheblicher
Magersucht. 1969 wurde sie in der P. in H. wegen Bulimie behandelt und 1971 mit derselben Diagnose in der
Psychosomatischen Klinik in Q ... 1978 wurde sie nach eigener Darstellung "bei der Caritas" in R.
psychotherapeutisch behandelt. Unterlagen über diese Behandlungen liegen nicht mehr vor. Vom 19. Oktober 1982
bis zum 22. Februar 1983 befand sich die Klägerin unter der Diagnose einer Anorexia nervosa in der
Psychosomatischen Klinik Windach und beschrieb ein in der Kindheit sehr enge Beziehung zum Vater, der sehr große
und von ihr nicht erfüllbare Leistungsanforderungen gestellt habe (Bericht des Chefarztes Dr. S. und des
Stationsarztes T. vom 06. Mai 1983). Die Beziehung zur Mutter sei weniger herzlich gewesen. Von ihrem inzwischen
alkoholabhängigen Bruder habe sie sich immer mehr entfernt. Als sie 14 Jahre alt gewesen sei, sei es zu einer
Ehekrise der Eltern gekommen. Von da an habe der Vater in ihrem Zimmer übernachtet. Dies habe sie sehr
abgestoßen. Beim psychischen Erstkontakt in der Klinik wirkte die Klägerin sehr gehemmt, konnte kaum Blickkontakt
halten und stotterte bei manchen Worten. Sie beschrieb ein seit dem 20. Lebensjahr gestörtes Essverhalten mit
Hunger- und Fressphasen, später hinzugekommenem bewussten Erbrechen und ausgedehnten Fressattacken.
Nachdem sie schon seit dem 16. Lebensjahr starke Spirituosen zu sich genommen habe, sei es nach dem Scheitern
einer Beziehung 1974 zu starkem Alkoholmissbrauch, Fressattacken und Tranquilizern-Einnahme gekommen.
Während der Behandlung zeigte sich immer wieder eine leichte Frustrierbarkeit der Klägerin, die übergroße
Anforderungen an Bezugspersonen stellte und sich in der Klinik immer wieder in für sie schwer erreichbare Personen
verliebte, so dass die Enttäuschungen schon voraussehbar waren und sehr leicht zur depressiven Resignation
führten. Sexuellen Missbrauch durch den Vater oder andere Personen erwähnte die Klägerin während des gesamten
Aufenthaltes nicht (a. a. O).
Die nächste Behandlung in der Psychosomatischen Klinik U. fand in der Zeit vom 15. Januar bis zum 05. Juni 1984
statt. Die Ärzte diagnostizierten eine Bulimia nervosa sowie eine neurotische Depression (Entlassungsbericht des Dr.
S. und des Dr. T. vom 20. Juni 1984). Die Klägerin beschrieb Rückfälle mit Fressorgien und Alkoholmissbrauch
bereits wenige Tage nach der Entlassung aus dem letzten Heilverfahren, die meist durch Versagen in sozialen
Leistungssituationen ausgelöst würden. Nach einem "anfänglichen Versacken in der Sucht" sei es ihr jedoch
gelungen, einige Kontakte in ihrer Umgebung aufzubauen. Nachdem sie das Interesse an ihrem bisherigen Beruf
verloren habe, habe sie sich um eine Umschulung als Ergotherapeutin bemüht. Sie erschien den Ärzten nicht mehr so
gehemmt wie bei dem ersten Aufenthalt, stotterte allerdings noch deutlich. Ihr passives Verhalten habe sich erst am
Ende der Behandlung nach einer besonders harten Konfrontation in der Gruppentherapie gebessert. Von einem
sexuellen Missbrauch war während des gesamten Aufenthaltes nie die Rede (a. a. O). Dies gilt auch für die
nachfolgende ambulante Therapie bei dem Diplom-Psychologen V. in der Zeit von April 1988 bis Mai 1993 und April
1995 bis August 1996. Der psychologische Psychotherapeut diagnostizierte bei der Klägerin eine Bulimie und
Störungen des Sozialverhaltens mit emotionaler Symptomatik (Bericht vom 16. Januar 2003).
Ab Januar 2000 war die Klägerin unregelmäßig in Behandlung bei dem Arzt für Neurologie und
Psychiatrie/Psychotherapie Dr. W. und schilderte Stimmungsschwankungen, eine starke Unruhe und Reizbarkeit
sowie ein häufiges inneres Vibrieren insbesondere bei beruflichen Belastungen (Bericht an den Beklagten vom 15.
Januar 2003). Von sexuellem Missbrauch berichtete die Klägerin nicht. Parallel zur Behandlung durch Dr. W. wurde
von der Diplom-Psychologin X. eine "analytische Psychotherapie" durchgeführt. Im Verlauf der letzten Vorstellung bei
Dr. W. am 06. Januar 2003 berichtete ihm die Klägerin, die analytische Therapie laufe aus. Sie sei "in dieser Therapie
auf eine sexuelle Traumatisierung in ihrer Vorgeschichte gestoßen". Der Arzt ging von einer wiederkehrenden
depressiven Störung und Angststörung auf dem Hintergrund einer Persönlichkeitsproblematik aus und betonte, zu
einer sexuellen Traumatisierung habe "die Patientin bisher keine spezifischen Anamneseangaben gemacht" (a. a. O).
Die psychologische Psychotherapeutin X. berichtete dem Beklagten mit Schreiben vom 14. Januar 2003, die Klägerin
leide nach eigener Schilderung bereits seit der Kindheit an psychisch auffälligen Symptomen. Ihre jetzigen
Beschwerden bestünden in Depressionen mit erheblicher Antriebsarmut, Spannungszuständen, Unruhe,
Konzentrationsstörungen und einer Selbstwertproblematik. Eine Traumatisierung durch sexuellen Missbrauch
erwähnte die Diplom-Psychologin in dem Bericht an den Beklagten nicht.
Mitte September 2003 begab sich die Klägerin in Behandlung der Diplom-Psychologin und psychologischen
Psychotherapeutin Y."mit dem Ziel, ihre Kindheitserlebnisse mit den sexuellen Übergriffen des Vaters zu bearbeiten"
(Bericht der Therapeutin an den Beklagten vom 27. August 2004). Die Klägerin beschrieb diverse Ängste und
Missempfindungen sowie regelmäßigen Alkoholkonsum und legte dar, "sie versuche, mit ein bis zwei Flaschen Wein
pro Tag auszukommen, was ihr auch meistens gelinge". Psychisch und physisch erschien der Klägerin der
Therapeutin so instabil, dass die Therapie ausschließlich Stabilisierungsmaßnahmen umfasse und stützenden
Charakter habe. Sie leide an schweren ausgeprägten psychischen Beeinträchtigungen mit erheblicher Einschränkung
der psychischen Belastbarkeit, depressiven Verstimmungszuständen, Antriebslosigkeit und Kaufzwang. Die multiplen
Beschwerden und Ängste sowie die "sexuell gefärbten" Alpträume könnten zwar auf einen sexuellen Missbrauch
zurückgeführt werden, seien "aber nicht eindeutig nachweisbar". Trotz des paranoiden Denkens und der
Verfolgungsphantasien fänden sich bei der Klägerin keine Hinweise auf eine Psychose oder inhaltliche und formale
Denkstörungen (a. a. O).
Im Antrag nach dem OEG vom Dezember 2002 gab die Klägerin an, sie sei in der Zeit von 1947 bis 1959 von ihrem
am 21. März 1989 verstorbenen Vater in einer Pension in Z. missbraucht worden und leide daher an Depressionen.
Auf eine Strafanzeige habe sie aus Angst vor Strafe verzichtet. Mit Schreiben vom 16. Januar 2003 teilte die Klägerin
ergänzend mit, ihr sei erst bei "körpertherapeutischen Übungen" (Bonding) in der Psychosomatischen Klinik AA. im
AB. im Jahre 1987 deutlich geworden, dass sie von ihrem Vater missbraucht worden sei. Sie könne sich zwar an
konkrete Übergriffe nicht erinnern, habe jedoch von ihrer Mutter erfahren, dass ihr Vater kleine Mädchen - die Klägerin
allerdings nicht - an der Scheide berührt habe. Sie könne sich noch daran erinnern, dass ihr Vater mit ihr allein für
zwei Wochen im Jahr 1951 nach Z. in die Herbstferien gefahren sei. Durch einen bis 1997 anhaltenden Alptraum
könne sie sich sehr deutlich an das Zimmer erinnern, in dem sie mit ihrem Vater in einem Doppelbett gelegen habe,
mit panischer Angst auf seine "Übergriffe reagierte, dann durch die Wand verschwand" (Seite 2 des Schreibens).
Ähnliche Träume hätten Kampfsituationen mit ihrem sehr jung aussehenden Vater betroffen, in denen er schließlich
den Kopf zwischen ihren Beinen gehabt habe. Sie vermute, dass ihr Vater Oralverkehr mit ihr gehabt habe. Nach einer
frauenärztlichen Untersuchung im Alter von 16 Jahren sei sie jedenfalls noch Jungfrau gewesen. Nach dem Aufenthalt
in Z. habe sie starke Abwehr- und Ekelgefühle gegen ihren Vater entwickelt und begonnen, "stark Alkohol zu trinken".
Dies habe bis zum Beginn ihrer Magersucht mit 19 Jahren angehalten, später habe sich die Bulimie entwickelt, die in
Verbindung mit Alkoholmissbrauch zu häufigen Klinikaufenthalten geführt und bis Mai 1995 ihr Leben bestimmt habe.
Seitdem leide sie unter Depressionen (Seite 3 des Schreibens). Nur zwei Tage später - am 18. Januar 2003 -
verfasste die Klägerin einen weiteren Brief an den Beklagten und behauptete ergänzend, ihr sei eine Begebenheit
eingefallen, die nichts mit ihrem Vater zu tun habe, sondern wohl eher mit ihrer mangelnden Fähigkeit, sich zu
schützen. Im Sommer 1979 sei sie als Textildesignerin in AC. beschäftigt gewesen und habe abends in einem
Tanzlokal einen jungen, dunkelhäutigen Mann kennen gelernt. Er habe ihr angeboten, sie nach Hause zu begleiten,
weil es wegen der vielen amerikanischen Soldaten zu gefährlich sei, den Weg allein zurückzulegen. Statt sie nach
Hause zu bringen, sei er mit ihr in seinem Auto in den nahen Wald gefahren und habe sie zum Oralverkehr
gezwungen. Als sie die Seitentür des Wagens habe öffnen und entfliehen wollen, habe er sie am Hals gewürgt und
anschließend vergewaltigt. In Todesangst habe sie alles geschehen lassen. Der Mann sei Säuglingspfleger bei der
US-Armee gewesen. Sie sei damals nicht zur Polizei gegangen, weil sie Angst gehabt habe, dass man ihn nicht
arretieren werde und er ihr "etwas tun" könne. Sie hoffe, dass dieses Erlebnis mit dem Schreiben wieder in ihrer
"Erinnerung verschwinde". Zeugen für die behauptete Tat konnte die Klägerin entsprechend ihrer ergänzenden
Stellungnahme vom 14. August 2003 nicht benennen.
Mit Bescheid vom 01. September 2003 lehnte der Beklagte den Antrag auf Opferentschädigung ab. Die von der
Klägerin angegebenen schädigenden Handlungen in der Kindheit seien in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis zum 15. Mai
1976 erfolgt. Nach § 10 a OEG erhielten in diesen Fällen auf Antrag Versorgung nur diejenigen, die u. a. allein infolge
der Schädigung schwerbeschädigt seien. Dies treffe bei der Klägerin schon deshalb nicht zu, weil das
Versorgungsamt Braunschweig mit Bescheid vom 02. Juni 2003 einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 v.H.
festgestellt habe und eine Schwerbeschädigung daher nicht vorliege. Auch hinsichtlich der angegebenen
Vergewaltigung im Jahre 1979 bestehe kein Anspruch auf Opferentschädigung, weil das schädigende Ereignis nicht
nachgewiesen sei und die Klägerin von einer Strafanzeige abgesehen habe, obwohl ihr eine solche Anzeige zumutbar
gewesen wäre. Unabhängig hiervon sei eine Schädigung infolge der behaupteten Vergewaltigung heute nicht mehr
feststellbar, zumal sie von den bereits vorher vorhandenen Schädigungen nicht abzugrenzen wäre. Die heute
behandlungsbedürftigen Leiden hätten bereits im Jahre 1979 vorgelegen.
Mit dem rechtzeitig eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, ihre Krankheitsbilder erlaubten zwingende
Rückschlüsse auf die Vergewaltigung im Jahre 1979. Im Übrigen liege eine schwere posttraumatische
Belastungsstörung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 50 v.H. vor. Die Ärztin für
Neurologie und Psychiatrie Dr. AD. erstattete das Gutachten vom 13. März 2004 nach ambulanter Untersuchung der
Klägerin, die bei der Befragung durch die Ärztin ihre fehlenden Erinnerungen an sexuelle Übergriffe durch den Vater
und ihre den Vater betreffenden Alpträume entsprechend ihrem Schreiben vom 15. März 2005 schilderte und nunmehr
einen bereits seit dem 12. Lebensjahr bestehenden Alkoholmissbrauch beschrieb. Sie legte dar, der Gedanke auf
sexuelle Übergriffe durch den Vater sei ihr erstmals im Rahmen der Therapie durch die Diplompsychologin X.
gekommen. Der Vorfall aus dem Jahr 1979 mit dem jungen dunkelhäutigen Mann sei ihr erst bei der Antragstellung
wieder eingefallen. Die psychisch fahrige und unruhige Klägerin schilderte ihre Vorgeschichte bei der Untersuchung
zeitweise stotternd und zeigte ausgeprägte vegetative Stigmata. Sie beschrieb Kontrollzwänge und eine erhebliche
Antriebsstörung, die dazu führe, dass sie sich oft tagelang nicht wasche und ihre Wohnung chaotisch aussehe. Die
Klägerin stellte sich als ängstlich und angespannt dar und erwähnte anonyme Anrufe sowie eine Morddrohung, räumte
gleichzeitig aber ein, sie wisse, dass sie sich "da hineinsteigere" und schon auf der Straße Leute sehe, die "sie fertig
machen wollen". Sie wisse, dass dies nicht real sei und auf ihre schwierige Situation zurückgeführt werden müsse.
Ihren letzten partnerschaftlichen Kontakt habe sie im Jahr 1987 gehabt. Die Ärztin hob hervor, die gesamte Biografie
der Klägerin sei von erheblichen Schwierigkeiten durchzogen, lasse jedoch keinen "Knick" erkennen, der auf eine
Gewalterfahrung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung zurückgeführt werden könne. Die
Schwierigkeiten zögen sich vielmehr wie ein roter Faden durch das Leben der Klägerin. Ihre Ängste und Alpträume mit
negativen Gedanken an den Vater könnten zwar auf einen sexuellen Missbrauch zurückgeführt werden. Dies sei
jedoch bis heute nicht eindeutig nachweisbar. Insbesondere sei ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Beginn
ihrer Störungen und dem eventuellen Missbrauch sowohl durch den Vater oder durch den jungen dunkelhäutigen Mann
nicht feststellbar. Folgen einer Vergewaltigung seien jedenfalls nicht zu beweisen und auch nicht wahrscheinlich zu
machen. Allerdings bestehe bei der Klägerin im Hinblick auf die vielfältigen Störungen eine stärker behindernde
psychische Symptomatik, die mit einer MdE von 40 v.H. bewertet werden könne. Eine posttraumatische
Belastungsstörung sei nicht nachweisbar. Mit Widerspruchsbescheid vom 16. November 2004 hielt der Beklagten an
seiner Entscheidung fest und berief sich auf die Beurteilung der Frau Dr. AD. im Gutachten vom 13. März 2004.
Hiergegen richtet sich die am 09. Dezember 2004 erhobene Klage, mit der die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt und
behauptet, ihr eigener Bruder könne den sexuellen Missbrauch durch den verstorbenen Vater als Zeuge bestätigen.
Eine Gesamtschau der beigezogenen ärztlichen Unterlagen müsse zwingend zu dem Rückschluss führen, dass sie
Opfer einer Vergewaltigung und sexueller Missbrauchshandlungen im Kindesalter geworden sei. Die hierdurch
bedingte posttraumatische Belastungsstörung bewirke eine MdE von mindestens 50 v.H.
Die Klägerin beantragt,
1. den Bescheid des Beklagten vom 01. September 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.
November 2004 aufzuheben,
2. den Beklagten zu verurteilen, Schädigungsfolgen nach § 1 Abs. 1 OEG zugunsten der Klägerin anzuerkennen,
diese mit einem GdS von mindestens 50 v.H. zu bewerten und entsprechende Versorgungsansprüche zu gewähren.
Der Vertreter der Beklagten beantragt, die Klage abzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend, hält an seiner Auffassung fest und beruft sich auf die
Stellungnahmen der ihn beratenden Ärzte Dr. AE. und Dr. AF. vom 31. Oktober 2006, 19. Februar 2008 und 04. Juni
2008.
Die Klägerin hat die Stellungnahmen diverser Freundinnen und Bekannten, die alle keine eigenen Tatbeobachtungen
wiedergeben, zum vermeintlichen sexuellen Missbrauch vorgelegt. Ihr Bruder AG. hat in einer Erklärung vom 14. mai
2005 bestätigt, dass sie als Kind im Urlaub wegen des Schnarchens ihrer Mutter mit dem Vater in einem Zimmer
geschlafen und seine Mutter ihm von der Impotenz des Vaters erzählt habe, ohne dies an einem bestimmten Ereignis
"festzumachen". Vor etwa einem Jahr habe ihm die Mutter erstmalig erzählt, der Vater hätte kleinen Mädchen an die
Scheide gefasst. Einen konkreten Vorfall habe sie hierzu allerdings nicht schildern können. Schon beim letzten
Gespräch mit ihm habe sie daran keine Erinnerung mehr gehabt.
Das Gericht hat das Gutachten des Facharztes für Psychiatrie/Psychotherapie Dr. AH. vom 11. September 2006
eingeholt und im Hinblick auf die von Dr. AI. in der Stellungnahme vom 31. Oktober 2006 geäußerten Zweifel an der
Beurteilung des Sachverständigen dessen ergänzende Stellungnahme vom 15. Januar 2008 beigezogen. Schließlich
hat der Fachärzte für psychosomatische Medizin und Psychotherapie AJ. den Befundbericht vom 26. März 2008
erstellt. Alle Versuche, Unterlagen der Klinik in AA. beizuziehen, sind erfolglos geblieben. Im Termin zur mündlichen
Verhandlung hat die Kammer die Klägerin ausführlich angehört. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift vom 10.
Dezember 2008 verwiesen.
Neben den Gerichtsakten haben die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten (OEG-Akten und Schwerbehinderten-
Akten) des Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand des Verfahrens gewesen. Wegen des weiteren Vorbringens
der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben und daher zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet. Der Bescheid des
Beklagten vom 01. September 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2004 ist
rechtmäßig. In zutreffender Rechtsanwendung hat der Beklagte den geltend gemachten Anspruch auf Entschädigung
nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG abgelehnt.
Wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine
andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der
gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG Versorgung in entsprechender
Anwendung der Vorschriften des BVG. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Ein vorsätzlicher, rechtswidriger
tätlicher Angriff ist im Falle der Klägerin nicht feststellbar.
1. Beweise
Der tätliche Angriff muss nach den allgemeinen Beweisgrundsätzen in vollem Umfang bewiesen sein. Mit an
Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit muss davon ausgegangen werden können, dass der im Antragsverfahren
behauptete Angriff tatsächlich stattgefunden hat. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so hat der Anspruchsteller
im Rahmen der objektiven Beweis- und Feststellungslast die Folgen zu tragen (Urteil des Landessozialgerichts - LSG
- Niedersachsen-Bremen vom 27. April 2005 - L 13 VG 4/04 -). Beweise für die von der Klägerin behaupteten
Missbrauchshandlungen durch den eigenen Vater und die angebliche Vergewaltigung im Jahre 1979 liegen nicht vor.
Tatzeugen für die behaupteten Missbrauchshandlungen hat die Klägerin nicht benannt, sondern lediglich das
Schreiben ihres Bruders AG. vom 14. Mai 2005 vorgelegt und die Auffassung vertreten, das Schreiben bestätige,
"dass die Mutter der Klägerin von Anzeichen sexuellen Missbrauchs durch ihren Ehemann gegenüber der Klägerin
"gewusst habe (Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 08. Juni 2005). Dieses Schreiben lässt
jeden Bezug zu konkreten Missbrauchshandlungen vermissen und enthält entgegen der Auffassung der Klägerin nicht
den geringsten Hinweis darauf, dass die Mutter der Klägerin "von Anzeichen sexuellen Missbrauchs" der Klägerin
durch den Vater gewusst hat. Unter Wissen ist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch die konkrete Kenntnis von
Tatsachen zu verstehen. Mit den im Schriftsatz vom 08. Juni 2005 aufgeführten "Anzeichen" des sexuellen
Missbrauchs kann nach dem Inhalt des Schreibens vom 14. Mai 2005 lediglich gemeint sein, dass der Vater der
Klägerin mit ihr wegen des Schnarchens der Mutter in einem gesonderten Zimmer geschlafen habe, die Mutter der
Klägerin sich nach dem von der Klägerin mit dem Missbrauch in Zusammenhang gebrachten Urlaub an eine bei dem
Vater aufgetretene Impotenz erinnert habe und der Vater nach der Darstellung der Mutter "kleinen Mädchen an die
Scheide gefasst" haben solle. "Anzeichen sexuellen Missbrauchs" gerade der Klägerin durch den eigenen Vater
lassen sich diesen Ausführungen des Bruders der Klägerin an keiner Stelle entnehmen. Selbst die angebliche
Darstellung der Mutter hinsichtlich vermeintlicher Missbrauchshandlungen des Vaters gegenüber (anderen) kleinen
Mädchen erscheint angesichts des Schreibens vom 14. Mai 2005 fraglich, zumal AG. am Ende seiner Ausführungen
hervorhebt, seine Mutter habe ihm hierzu einen konkreten Vorfall nicht schildern können und bei dem letzten
("jetzigen") Gespräch daran keine Erinnerungen mehr gehabt. Im Übrigen enthalten die von der Klägerin
wiedergegebenen vermeintlichen Schilderungen der Mutter keinen einzigen Hinweis auf eine Missbrauchshandlung
des insoweit von der Klägerin angeschuldigten Vaters gegenüber der Klägerin.
2. Glaubhaftigkeit
Die behaupteten Missbrauchshandlungen durch den Vater und die vermeintliche Vergewaltigung im Jahre 1979 sind
auch nicht gemäß § 6 Abs. 3 OEG in Verbindung mit dem Gesetz über das Verwaltungsverfahren der
Kriegsopferversorgung (KOVVfG) nach § 15 KOVVfG glaubhaft gemacht. Nach § 15 Satz 1 KOVVfG sind die
Angaben eines Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung in Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen,
wenn Unterlagen nicht vorhanden oder zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner
Hinterbliebenen verloren gegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des
Falles glaubhaft erscheinen (Satz 1). Nach ihrem Wortlaut bezieht sich die Bestimmung zwar lediglich auf den Verlust
von Unterlagen. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit wenden die Bestimmungen jedoch darüber hinaus an, wenn
andere Beweismittel (z.B. Zeugenaussagen) für einen schädigenden Vorgang nicht vorhanden sind (vgl. Urteil des
Bundessozialgerichts - BSG - vom 31. Mai 1989, 9 RVg 3/89 - veröffentlicht in Entscheidungen des BSG - BSGE 65,
123 bis 126). Auch bei dieser Rechtsanwendung setzt die Bestimmung indessen voraus, dass die Angaben des
Antragstellers "nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen". Diese Voraussetzung liegt im Falle der
Klägerin nicht vor.
Als rechtswidrige tätliche Angriffe zu wertende Missbrauchshandlungen durch ihren Vater in der früheren Kindheit und
durch einen farbigen Amerikaner im Jahre 1979 sind nicht glaubhaft gemacht. Glaubhaft ist der Vortrag eines
schädigenden Ereignisses dann, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass sich die
beschriebenen Vorgänge entsprechend den Behauptungen der Antragsteller zugetragen haben (vgl. Beschlüsse des
BSG vom 10. August 1989 – 4 BA 94/89 – und 08. August 2001 – B 9 V 23/01 mit weiteren Nachweisen). Selbst
wenn der Beweismaßstab der "Glaubhaftmachung" im Vergleich zum Vollbeweis und der Wahrscheinlichkeit der im
Sozialrecht "mildeste" Maßstab ist (Beschluss des BSG vom 08. August 2001 – B 9 V 23/01 – Leitsatz 2), setzt die
Glaubhaftmachung voraus, dass eine von mehreren in Betracht kommenden Sachverhaltsalternativen am
wahrscheinlichsten ist und unter Berücksichtigung aller Umstände keine erheblichen Bedenken gegen die Richtigkeit
der behaupteten Ereignisse bestehen (vgl. BSG a. a. O.). "Wie bei den anderen Beweismaßstäben reicht die bloße
Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, die Beweisanforderungen zu erfüllen, und ist das Geicht grundsätzlich darin frei,
ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht" (BSG a. a. O. Rz 5 unter Hinweis auf die Freiheit der richterlichen
Beweiswürdigung - § 128 Sozialgerichtsgesetz – SGG -). Im Falle der Klägerin überwiegen die Zweifel an der
Richtigkeit der behaupteten Missbrauchshandlungen so weitgehend, dass von einer Glaubhaftmachung dieser
Ereignisse unter Berücksichtigung aller Umstände – insbesondere des wechselhaften Vortrages der Klägerin, der
wissenschaftlich anerkannten Maßstäbe der Glaubhaftigkeitsbeurteilung und der Erkenntnisse der
Aussagepsychologie – nicht ausgegangen werden kann.
Nach dem Ergebnis der Ermittlungen im Verwaltungsverfahren bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine
Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin. Frau Dr. Albert hat im Gutachten vom 13. März 2004 anschaulich und
plausibel herausgearbeitet, dass die gesamte Biographie der Klägerin keinen einzigen Bruch ("Knick") erkennen lässt,
der als Anzeichen für eine sexuelle Traumatisierung gedeutete werden könnte. Zutreffend hat die Ärztin
zusammengefasst, dass und in welchem Ausmaß die gesamte Entwicklung der Klägerin von einer psychischen
Störung geprägt war, die sich - ohne Zusammenhang mit konkreten traumatischen Ereignisse – "wie ein roter Faden
durch das Leben" der Klägerin gezogen hat. Bei der Untersuchung durch die Ärztin hat die fahrige und unruhige sowie
von vegetativen Stigmata beherrschte Klägerin verschieden Ansätze für paranoide Verfolgungsideen erkennen lassen
(Erzählung von anonymen Anrufen und Morddrohungen; gleichzeitiges Eingeständnis, sie "steigere sich da hinein"
und unterstelle bei ihr unbekannten Passanten auf der Straße, diese wollten sie "fertigmachen"). Folgerichtig hat die
Sachverständige mangels eines zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem Beginn der psychischen Störungen der
Klägerin und den behaupteten Missbrauchshandlungen des Vaters und des jungen dunkelhäutigen Mannes einen
sexuellen Missbrauch und ein hierdurch bedingtes Trauma weder für nachgewiesen noch für wahrscheinlich gehalten.
Auch das Gutachten des Dr. AH. vom 11. September 2006 und dessen ergänzende Stellungnahme vom 15. Januar
2008 tragen nicht überzeugend dazu bei, die Darstellungen der Klägerin hinsichtlich des Missbrauchs durch den Vater
und der Vergewaltigung im Jahr 1979 glaubhaft erscheinen lassen. Rechtlich unerheblich sind in diesem
Zusammenhang die vielfältigen, von der Klägerin im Klageverfahren eingereichten Meinungsäußerungen ihrer
Bekannten und Freundinnen. Dieser Personen geben lediglich mit eigenen Worten die Schilderungen der Klägerin
hinsichtlich vermeintlicher Missbrauchshandlungen wieder und können aus eigener Kenntnis zu den behaupteten
schädigenden Ereignissen nichts beitragen.
Hinsichtlich der Glaubhaftigkeit der vermeintlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffe teilt das Gericht im Ergebnis die
von dem Beklagten in den Schriftsätzen vom 31. Oktober 2006 und 10. Juni 2008 geäußerten Zweifel und die
Bedenken, die Dr. AI. und Dr. AF. in den Stellungnahmen vom 31. Oktober 2006, 19. Februar 2008 und am 04. Juni
2008 zum Ausdruck gebracht haben. Maßgeblich hierfür sind die nachfolgend aufgezeigten Gesichtspunkte.
2.1 Vermeintlicher Missbrauch durch den eigenen Vater
Für die angeblichen Missbrauchshandlungen des eigenen Vaters der Klägerin fehlt jeder tatsächliche Anhaltspunkt,
der geeignet wäre, Rückschlüsse auf ein bestimmtes Missbrauchsverhalten des Vaters zu erlauben. Nicht einmal die
Klägerin selbst hat eine auch nur diffuse Erinnerung an konkrete Missbrauchshandlungen durch ihren Vater. Gegen
einen tatsächlichen Missbrauch lässt sich zudem der Verlauf der Entwicklung des Tatverdachtes - im Wege
therapeutischer Beeinflussung - anführen.
• Die von der Klägerin selbst geschilderten Abläufe bei der Gruppentherapie des "Bondings" belegen, dass die
Klägerin vor der therapeutischen Einflussnahme in der Klinik in AA. an einen möglichen Missbrauch durch den
eigenen Vater nie gedacht hat. Hat sich die Gruppentherapie seinerzeit entsprechend der ausführlichen Schilderung
der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung abgespielt, so erscheint die von ihr wiedergegebene Interpretation
ihres damaligen Verhaltens durch den Therapeuten abwegig und unverständlich. Wenn sich im Rahmen der
therapeutischen Sitzung ein der Klägerin nicht bekannter schwerer Mann mit seinem Oberkörper (Gesicht an Gesicht)
auf sie gelegt hat, so ist die von ihr selbst geschilderte Reaktion - das Aufschreien und das Wegstoßen des Mannes –
gut nachvollziehbar und verständlich. Soweit der Therapeut dies entsprechend ihrer Darstellung als möglichen Hinweis
auf einen Missbrauch durch den Vater gedeutet hat, erscheint seine Interpretation mangels konkreter Anhaltspunkte
für einen derartigen Missbrauch befremdlich. Diese Auslegung des Verhaltens der Klägerin erweckt den Eindruck einer
ideologischen Voreingenommenheit mit der Tendenz, durch suggestive Befragung sexuelle Missbräuche zu
suggerieren (vgl. zu dieser Problematik u. a. Renate Volbert, Beurteilungen von Aussagen über Traumata -
Erinnerungen und ihre psychologische Bewertung - Verlag Hans Huber, Bern, 1. Auflage 2004, Kapitel 7, S. 117 bis
121; Thomas, Knecht, Psychiatrische Klinik Münsterlingen, Erfunden oder wiedergefunden? - Zum aktuellen Stand der
"Recovered-Memory"- Debatte, Schweizer Medizinforum 2005, S. 1083 bis 1987). Auf die schlichte Idee, dass das
Wegstoßen eines auf ihr liegenden schweren und nicht näher bekannten Mannes eine völlig natürliche und vielleicht
instinktgemäße Abwehrreaktion der Klägerin dargestellt hat, scheint der Therapeut nicht gekommen zu sein. Auch
sein anschließender Rat an die Klägerin, sich mit ihrer Mutter über vermeintlichen Missbrauch durch zu Vater zu
unterhalten, lässt die Motive des Therapeuten fraglich erscheinen und hat im Übrigen nicht zum Aufdecken eines
Missbrauchs durch den Vater geführt.
• Sämtliche Äußerungen der Mutter der Klägerin und auch die von ihr später eingereichte schriftliche Stellungnahme
des eigenen Bruders lassen ebenfalls keine konkrete Missbrauchshandlung durch den Vater erkennen. Die Mutter der
Klägerin hat in diesem Zusammenhang nach der Schilderung der Klägerin lediglich eigene spekulative Annahmen im
Hinblick auf das Auftreten der Impotenz ihres verstorbenen Ehemannes geäußert und offenbar nach Erklärungen für
dessen vermeintliche Impotenz gesucht. Soweit sie in diesem Zusammenhang eher allgemein und ohne Bezeichnung
konkreter Ereignisse auch noch erwähnt hat, dass ihr früherer Mann "kleinen Mädchen an die Scheide gefasst habe"
(Schilderung der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung), ist mangels Kenntnis der konkreten Abläufe dieser
behaupteten Handlungen des Vaters der Klägerin nicht nachvollziehbar, was deren Mutter im Einzelnen beobachtet
haben will. Selbst wenn der Vater der Klägerin kleine Mädchen im Schambereich berührt haben sollte, so hat die
Mutter der Schilderung der Klägerin im Übrigen hervorgehoben, dass er dies bei der Klägerin gerade nicht getan habe.
Eine bestimmte Berührung der Klägerin in sexueller Absicht hat mithin deren eigene Mutter an keiner Stelle
beschrieben oder auch nur behauptet. Die gesamte Darstellung der Mutter der Klägerin beschränkt sich insoweit auf
die - durch den therapeutischen Einfluss hervorgerufene - Mutmaßung, die vermeintliche Impotenz des Vaters stehe
in irgendeiner Weise in Zusammenhang mit einem möglichen sexuellen Missbrauch der Klägerin. Diese Annahme ist
offensichtlich ein reines Phantasieprodukt ohne jede tatsächliche Grundlage.
• Dies gilt gleichermaßen für die eigenen Angaben der Klägerin zum vermeintlichen sexuellen Missbrauch durch den
Vater während des gesamten Verfahrens nach dem OEG. Auch ihrer Darstellung ist insgesamt keine einzige konkrete
Missbrauchshandlung zu entnehmen, sondern lediglich eine Schilderung von Phantasieprodukten. Ihre Erinnerungen,
erschöpfen sich im Wesentlichen in Träumen, in deren Verlauf der Vater der Klägerin sich über sie gebeugt und
dadurch bei ihr Fluchttendenzen hervorgerufen haben soll, die sie schließlich - im Traum - zu einem Verschwinden
durch eine Wand animiert haben sollen. Im Ergebnis muss nicht geprüft werden, seit welchen Zeiträumen die Klägerin
an derartigen Träumen leidet. Anscheinend hat sie ihre eigenen Träume jedenfalls vor der Einflussnahme des
Therapeuten beim "Bonding" niemals mit einer möglichen konkreten Missbrauchshandlung des eigenen Vaters in
Zusammenhang gebracht. Die gesamten Ausführungen der Klägerin zum angeblichen Missbrauch durch den eigenen
Vater erweisen sich im Ergebnis hiernach als konstruierte Vorstellungen ohne jeden Realitätsbezug. Daher überrascht
es nicht, dass selbst Dr. AH. die Ausführungen der Klägerin zum angeblichen Missbrauch durch den eigenen Vater
nicht für glaubhaft gehalten hat, obwohl sein Gutachten im Übrigen jede kritische Auseinandersetzung mit dem
Vorbringen der Klägerin unter Beachtung der maßgeblichen wissenschaftlichen Kriterien vermissen lässt.
2.2 Angebliche Vergewaltigung im Jahre 1979
Zur Überzeugung des Gerichts sind auch die Schilderungen der Klägerin zu dem vermeintlichen Missbrauch durch den
farbigen Amerikaner im Jahre 1979 nicht glaubhaft. Dem Gutachten des Dr. AH. vom 11. September 2006 und seiner
ergänzenden Stellungnahme vom 15. Januar 2008 ist angesichts der gravierenden Mängel der beiden gutachtlichen
Äußerungen nicht zu folgen. Ein weiteres Gutachten ist insoweit nicht erforderlich, zumal die - von Dr. AH. nicht
berücksichtigten - anerkannten Maßstäbe für die Bewertung der Glaubhaftigkeit einer Aussage dem Gericht selbst
nicht nur die Beurteilung der Fehlerhaftigkeit des Gutachtens, sondern auch die Prüfung der Glaubhaftigkeit der
Darstellung der Klägerin erlauben. Insoweit sind die Krankheitsvorgeschichte, die Konstanz der Aussage und die
Motivationslage der Klägerin für die Gewichtung der Glaubhaftigkeit bedeutsamer als die von dem Sachvertsändigen
in den Vordergrund gestellte Konsistenz der Aussage (die aussageimmanenten Qualitätsmerkmale der Aussage), die
er im Übrigen nicht unter Beachtung der wissenschaftlich anerkannten Maßstäbe de Aussagepsychologie beurteilt
hat.
• Der Sachverständige kann die Konsistenz von Angaben des Anspruchstellers durch eine ambulante Begutachtung
allenfalls dann besser als das Gericht beurteilen, wenn hinsichtlich der Konsistenz der Darstellung erhebliche Zweifel
bestehen und die übrigen Kriterien (Konstanz, Entwicklung der Aussage und Motivation) keine weiteren Rückschlüsse
auf die Glaubhaftigkeit erlauben. Hinsichtlich der weiteren Prüfungsgesichtspunkte – insbesondere der Konstanz der
Aussage und der Motivation - kann er zur Wahrheitsfindung nicht mehr beitragen als das Gericht selbst nach
sorgfältigem Studium der Akten feststellen kann, sofern die Akten hierfür hinreichende Anhaltspunkte enthalten. Die
Glaubhaftigkeit des Klagevorbringens lässt sich im Falle der Klägerin anhand des Akteninhalts hinreichend sicher
beurteilen.
• Die für die Bewertung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zwingend einzuhaltenden wissenschaftlichen
Beurteilungskriterien und Maßstäbe sind in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) in Strafsachen
anschaulich, schlüssig und insgesamt gut nachvollziehbar dargestellt und gestatten nicht nur die Beurteilung der
Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen, sondern gleichermaßen die Einschätzung der Glaubhaftigkeit der Angaben von
Anspruchstellern, die eine staatliche Entschädigung für einen behaupteten Sachverhalt anstreben.
• Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH (hierzu ausführlich: Urteil des BGH vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 -
) besteht das methodische Grundprinzip der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage darin, einen zu
überprüfenden Sachverhalt solange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr
vereinbar ist. Bei der Begutachtung und auch bei der Beurteilung der Zeugenaussage durch das Gericht ist also
zunächst anzunehmen, die Aussage sei unwahr (so genannte Nullhypothese). Zur Prüfung dieser Annahme sind
weitere Hypothesen zu bilden, deren Erörterung von ausschlaggebender Bedeutung für den Inhalt und den
methodischen Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist. Bereits die Auswahl der für die Begutachtung infrage
kommenden Untersuchungsverfahren hängt davon ab, welche Möglichkeiten als Erklärung für eine unterstellt unwahre
Aussage in Betracht zu ziehen sind (so genannte Hypothesengeleitete Diagnostik). Hierzu können neben einer
bewussten Falschaussage etwa autosuggerierte oder (bewusst) fremdsuggerierte Angaben gehören (a. a. O. Rz 14).
• Dr. AH. hat im Gutachten vom 11. September 2006 zwar die hypothesengeleitete Diagnostik angesprochen und
auch insgesamt drei Hypothesen gebildet (intentionale Falschaussage der Klägerin, erlebnisfundierte Aussage
tatsächlicher Ereignisse oder Generierung der Gedächtnisinhalte durch eine Psychose aus dem schizophrenen
Formenkreis, S. 12 des Gutachtens), sich mit den selbst gebildeten Hypothesen jedoch völlig unzureichend
auseinandergesetzt. Darüber hinaus hat er innerhalb der hypothesengeleiteten Diagnostik nicht alle zwingend
erforderlichen Kriterien angemessen berücksichtigt.
• Wesentlicher Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage ist zunächst deren inhaltliche
Konsistenz. Die Konsistenzprüfung ist ein Teil der Untersuchung der Aussagequalität und betrifft vor allem
aussageimmanente Qualitätsmerkmale wie die logische Konsistenz, den quantitativen Detailreichtum, die raum-
zeitlichen Verknüpfungen sowie die Schilderungen ausgefallener Einzelheiten und psychischer Vorgänge (BGH a. a.
O. Rz 21). Dr. AH. begründet die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin zur vermeintlichen Vergewaltigung im
Jahre 1979 ausschließlich mit der inhaltlichen Konsistenz der Aussage. Die ist systematisch unzulänglich und im
Übrigen auch inhaltlich nicht überzeugend.
• Zu Beginn der Gesamtbewertung der Glaubhaftigkeit (S. 51 des Gutachtens) lässt der Sachverständige erkennen,
dass er seine Beurteilung auf die Merkmale der Aussagetüchtigkeit, Aussagequalität und Aussagevalidität stützt.
Unter Berufung auf diese Kriterien sieht er die behauptet Vergewaltigung im Jahre 1979 ersichtlich allein wegen der
detaillierten Erzählung der Klägerin als glaubhaft an und hebt insoweit hervor, die Angaben der Klägerin enthielten
"ausreichend Hinweise für eine raum-zeitliche Verknüpfung für Interaktionsschilderungen, Wiedergabe von
Gesprächen und Schilderungen von Komplikationen im Handlungsverlauf" und auch "Schilderungen eigener
psychischer Vorgänge sowie Schilderungen nebensächlicher Details als so genannte inhaltliche Besonderheiten" (S.
52 a. a. O.). Der Sachverständige befasst sich in diesem Zusammenhang nicht mit der Frage, ob eine psychisch seit
der Kindheit schwer gestörte und zu Verfolgungsideen neigende Person (vgl. hierzu Gutachten der Frau Dr. Albert
vom 13. März 2004) durchaus in der Lage wäre, Detailschilderungen dieser Art auch aus der Phantasie zu generieren.
Hierfür lassen sich die neueren Erkenntnisse der Aussagepsychologie anführen, die der Sachverständige in seinem
Gutachten insgesamt unberücksichtigt gelassen hat.
• Nach diesen Erkenntnissen und entgegen der Meinung des Dr. AH. ist die Detailliertheit einer Aussage für sich
gesehen grundsätzlich kein geeigneter Maßstab für deren Glaubhaftigkeit. Durch Simulationsuntersuchungen und
Dokumentationen tatsächlicher Fälle ist vielmehr belegt, dass Menschen Erinnerungen an komplexe persönlich
bedeutsame Ereignisse und auch an extrem stressreiche Ereignisse entwickeln können, die sie nicht erlebt haben.
Solche Scheinerinnerungen können sowohl im Rahmen von Fremd- wie auch von Autosuggestion entstehen (Renate
Volbert a. a. O. S. 138). Zur Ausbildung von Scheinerinnerungen kommt es vor allem dann, wenn intensive mentale
Bilder über das vermeintliche Ereignis generiert und häufig bearbeitet werden. Hierdurch werden die Repräsentationen
sehr lebhaft vertraut und sind leicht abzurufen. Diese Charakteristika führen wiederum dazu, dass ein mentales Bild
für die genuine Erinnerung gehalten wird. Innerhalb therapeutischer "Settings" besteht die Gefahr einer
Pseudoerinnerung vor allem dann, wenn der Therapeut aufgrund von Symptomen eine bestimmte traumatische
Erfahrung vermutet, zur Aufdeckung etwaiger Erinnerungen Techniken mit suggestiver Potenz benutzt und die
aufkommenden Erinnerungen unkritisch als historische Wahrheit akzeptiert. Schließlich können Scheinerinnerungen
auch ohne therapeutischen Einfluss entwickelt werden, und zwar vor allem dann, wenn sich Personen intensiv mit
einer bestimmten möglichen traumatischen Erfahrung als Ursache für ihre psychischen Symptome, unter denen sie
leiden, befassen, entsprechende Literatur lesen und an Gruppen mit anderen Betroffenen teilnehmen (a. a. O.). Im
Ergebnis können Aussagen auf der Basis von Pseudoerinnerungen im Querschnitt eine hohe Aussagequalität
aufweisen und mit einer hohen subjektiven Überzeugung über den Erlebnisbezug der Darstellungen verbunden sein (a.
a. O.). Daher ist das alleinige Abstellen des Dr. AH. auf die Detailvielfalt der Aussage als Glaubhaftigkeitsbeleg
ungeeignet, die Glaubhaftigkeit der Darstellung der Klägerin zu begründen. Sein Gutachten ist insoweit unschlüssig.
• Zumindest ebenso wichtig wie die Konsistenz einer Aussage ist für die Bewertung der Glaubhaftigkeit die Konstanz
der Aussage. Die Konstanzanalyse unterscheidet sich von der Konsistenzprüfung (Inhaltsanalyse) der Aussage
dadurch, dass die Konstanz das Aussageverhalten der Person insgesamt betrifft und insbesondere
aussageübergreifende Qualitätsmerkmale einbezieht, die sich aus dem Vergleich von Angaben über denselben
Sachverhalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten herleiten lassen (BGH a. a. O. Rz 26). Dieser Teil der Analyse fehlt im
Gutachten des Dr. AH. vollständig. Der Darstellung vermeintlicher Missbrauchshandlungen durch die Klägerin fehlt
jede Konstanz. Dies ergibt ein Vergleich ihrer Schilderungen im zeitlichen Verlauf.
• Die seit früher Jugend psychisch erheblich gestörte Klägerin hat während der Klinikaufenthalte in der
Psychosomatischen Klinik Windach (Oktober 1982 bis Februar 1983 und Januar bis Juni 1984) zwar eine Vielzahl von
Befindlichkeitsstörungen im Rahmen der Anorexie und Bulimie sowie des Alkoholmissbrauchs beschrieben und auch
das Entstehen ihrer psychischen Probleme ausführlich geschildert, jedoch niemals eine sexuelle Traumatisierung
angedeutet und insbesondere einen Missbrauch durch den eigenen Vater oder Dritte nicht erwähnt. Wird
berücksichtigt, dass seit der später behaupteten Vergewaltigung durch den dunkelhäutigen Amerikaner im Sommer
1979 zu Beginn des ersten Klinikaufenthaltes in Windach (Oktober 1982) nur wenig mehr als zwei Jahre vergangen
waren, so ist nicht nachvollziehbar, wieso die Klägerin bei der Anamnese keinen Hinweis auf die angebliche Straftat
gegeben hat. Gänzlich unverständlich ist dieses Verhalten angesichts des Umstandes, dass sie ihre Beziehungen
und deren Scheitern durchaus freimütig geschildert und hier auch eine (Mit-) Ursache ihrer psychischen Probleme
vermutet hat. Selbst wenn der später nur vermutete Missbrauch durch den eigenen Vater Jahre zurückgelegen haben
mochte, müssten die Erinnerungen an die vermeintliche Vergewaltigung in Landshut damals noch präsent gewesen
sein, wenn dieses Ereignis tatsächlich stattgefunden hätte. Die Behauptung der Klägerin, sie hätte die angebliche
Vergewaltigung "völlig vergessen" und die Tat sei ihr erst bei der Antragstellung nach dem OEG "langsam deutlich
geworden" (Sitzungsniederschrift vom 10. Dezember 2008), ist unter diesen Voraussetzungen nicht glaubhaft.
• Die Klägerin hat durch die im Rahmen der Therapie in AA. erzeugten Verdachtsmomente gegen ihren eigenen Vater
belegt, wie sehr sie in ihrer Phantasie beeinflussbar ist. Sie hat trotz fehlender objektiver Anknüpfungstatsachen für
einen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater aus ihren eigenen Träumen Rückschlüsse auf diesen Missbrauch
gezogen und ihn schließlich als Tatsache hingestellt, obwohl weder ihre Mutter noch ihr Bruder einen einzigen
konkreten Hinweis auf den angeblichen Missbrauch bestätigen konnten und die Klägerin selbst auch keine
entsprechenden Erinnerungen hatte und hat. Die subjektiven Vorstellungen der Klägerin lassen sich mithin lediglich
durch den Verlauf der Therapie und damit im Ergebnis durch therapeutische Beeinflussung erklären. Diese Art von
Therapie ist nicht nur in Deutschland, sondern auch international in der Psychiatrie inzwischen stark umstritten und
teils heftig bekämpft, zumal therapeutisch induzierte "Erweckungen" von Erinnerungen offenbar zu einer Vielzahl
suggestiv induzierter Fehlvorstellungen geführt haben (vgl. zur regen Diskussion u. a. Thomas Knecht a. a. O.;
Thomas Simmich, Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Klinikum der Technischen Universität Dresden,
Induziertes Trauma und unbewusste Opfersehnsucht - Zur Problematik wiederauftauchender Erinnerungen in der
Psychotherapie, Sozialpsychiatrische Informationen, Heft 1/2004, S. 19 bis 22 mit zahlreichen Nachweisen). Als
besonders problematisch sind vermeintlich wiederentdeckte Aussagen u. a. dann zu betrachten, wenn mit oder ohne
therapeutische Unterstützung explizite Bemühungen vorgenommen wurden, sich an nicht zugängliche Erlebnisse zu
erinnern, wenn Erinnerungen erst im Laufe wiederholter Erinnerungsbemühungen entstanden sind, wenn im Laufe der
Zeit immer mehr Erlebnisse berichtet werden oder wenn die berichteten Erlebnisse bizarre und extreme Erfahrungen
beinhalten (Renate Volbert, a. a. O, Kapitel 5.6 - Unterschiede zwischen tatsächlich wiederentdeckten und
Pseudoerinnerungen - S. 123). Diese Voraussetzungen liegen nicht nur hinsichtlich der phantasievollen
"Erinnerungen" der Klägerin an das vermeintliche Verhalten des eigenen Vaters vor.
• Gleiches gilt für den in das Jahr 1979 datierten Tatkomplex in Landshut. Auch im Hinblick auf diesen von der
Klägerin geschilderten Missbrauchs hat Dr. AH. eine Konstanzanalyse nicht durchgeführt, sondern sich ausschließlich
auf die Beurteilung der Konsistenz im Sinne einer angeblichen Schlüssigkeit der Aussage beschränkt. Insbesondere
hat der Sachverständige nicht bedacht, dass das plötzliche Auftauchen einer derartigen Erinnerung allein anlässlich
eines Antrages nach dem OEG ohne jeden anderen Anlass mehr als 25 Jahre nach dem Eintritt des Ereignisses mit
den neurophysiologischen Grundlagen des Gedächtnisses und der anerkannten wissenschaftlichen Lehrmeinung im
Bereich der Neurologie und der Psychiatrie kaum in Einklang zu bringen ist (vgl. zur Gedächtnisfunktion Thomas
Knecht a. a. O. S. 1083 und 1084; Renate Volbert a. a. O. S. 39 bis 41 – "Blitzlichterinnerungen" – Zur
Zuverlässigkeit von Erinnerungen al emotional bedeutsame Ereignisse). Zudem hat er nicht beachtet, dass die
Klägerin sich offenbar an weitaus frühere und ersichtlich weit weniger dramatische, jedoch ebenfalls sexuelle getönte
Vorstellungen (z.B. Träume) erheblich besser erinnert als an dieses vermeintliche Trauma. Schließlich hat sich Dr.
AH. auch nicht mit der Frage befasst, wie es möglich ist, dass die langjährigen ambulanten und stationären
psychotherapeutischen Bemühungen um die Klägerin zwar schließlich zu der unhaltbaren Vermutung eines sexuellen
Missbrauchs durch den eigenen Vater geführt, jedoch niemals Erinnerungen an den angeblich erst bei der
Antragstellung nach dem OEG in das Bewusstsein getretenen Missbrauch im Jahre 1979 gefördert haben. Gerade die
erstmalig bei der Befragung durch den Sachverständigen in allen Einzelheiten beschriebenen angeblichen Ereignisse
des Jahres 1979 geben angesichts ihres Detailreichtums und des Zeitpunkts ihrer erstmaligen "Erinnerung"
besonderen Anlass, die Richtigkeit der Angaben der Klägerin in Zweifel zu ziehen (vgl. insoweit auch Volbert a. a. O.).
• Der Sachverständige übergeht in diesem Zusammenhang sämtliche Zweifel hinsichtlich des Realitätsgehaltes der
für das Jahr 1979 geschilderten Missbrauchshandlungen mit einem schlichten Hinweis auf das so genannte
"Polyanna-Prinzip". Danach sollen angenehme Erinnerungen besser erinnert werden als unangenehme Ereignisse (S.
47 vorletzter Absatz des Gutachtens). Dies soll in besonderem Maße für zeitlich weiter zurückliegende Ereignisse
gelten (a. a. O.). "Somit" sei "auch hinsichtlich der Aussagen der Klägerin zu erwarten, dass die für das Jahr 1979
datierten Ereignisse in wesentlichen Zügen erinnert werden" könnten (a. a. O. letzter Absatz). Diese Schlussfolgerung
überzeugt nicht.
• Die bevorzugte Erinnerung an angenehme Umstände entspricht der Alltagserfahrung, ohne dass hierzu ein Prinzip
bemüht werden müsste. Nicht nachvollziehbar ist allerdings, inwiefern dieses Prinzip Maßstäbe für die Bewertung der
Glaubhaftigkeit der Aussage gerade der Klägerin geben soll. Die theoretischen Annahmen des Sachverständigen zur
"Vergessenskurve" (a. a. O.) helfen in diesem Zusammenhang nicht weiter. Weder dem Gutachten noch der
ergänzenden Stellungnahme ist eine plausible Begründung für das plötzliche Auftreten einer vermeintlich mehr als
zwei Jahrzehnte verschütteten konkreten Erinnerung an das traumatische Ereignis der Vergewaltigung zu entnehmen.
Dies gilt umso mehr, als nach neueren Untersuchungen und Erkenntnissen emotional intensive (negative)
Erinnerungen langfristig besser behalten werden als neutrale Ereignisse (Renate Volbert a. a. O). Allein der
Detailreichtum der Schilderung der Klägerin zu dem Geschehen im Jahre 1979 ist unter diesen Voraussetzungen kein
hinreichender Grund für die Glaubhaftigkeit der Aussage. Insbesondere kann nicht ausgeschlossen werden, dass die
durchaus eloquente und nach Aktenlage auch nicht phantasielose, sondern zu Verfolgungsideen neigende Klägerin
mit der Darstellung der Ereignisse des Jahres 1979 ein Geschehen ausgestaltet, das in der Wirklichkeit keine
Grundlage hat.
• Als weitere Prüfungskriterien für die Glaubhaftigkeit führt Dr. AH. motivationale Bedingungen der Aussage,
kommunikative Bedingungen der Aussageentstehung und externe Validierungsmöglichkeiten an. Insoweit lässt das
Gutachten nach der Aufzählung dieser Kriterien (Seite 50 a. a. O.) allerdings jede Auseinandersetzung mit den
einzelnen Kriterien vermissen. Insbesondere sind die Ausführungen des Sachverständigen zur Beurteilung der
Aussagevalidität hinsichtlich der für 1979 behaupteten Vergewaltigung nicht nachvollziehbar, zumal sie sich auf
folgende Behauptungen beschränken:
"Hinsichtlich des 2. Tatkomplexes wird als Motivation die Wahrnehmung einer Anzeige des "Weissen Rings"
angegeben.
Nicht zu erkennen sind Verschränkungen von Motiven und Anregungsbedingungen, die zu einer Wertung als
eigennützig führen könnten.
Es ergeben sich hier sowohl in der Auswertung der Vorbefunde als auch der Exploration keine Hinweise auf
suggestive Einflüsse".
• Diese dürftige Darstellung zur Aussagevalidität lässt keine nachvollziehbare Würdigung der von dem
Sachverständigen selbst unter 4.3 (S. 50 2. Absatz des Gutachtens) genannten Kriterien erkennen. Mit der
Behauptung, "Verschränkungen von Motiven und Anregungsbedingungen, die zu einer Wertung als eigennützig führen
könnten", seien nicht ersichtlich, belegt der Sachverständige, dass er sich mit den Beweggründen der Klägerin
(Motivation) nicht gedanklich auseinander gesetzt hat.
• Der Sachverständige hat sich offensichtlich nicht die im Rahmen des Verwaltungsverfahrens und des Rechtsstreits
naheliegende Frage gestellt, welches Ziel die Klägerin anstrebt. Das Gutachten lässt an keiner Stelle erkennen, dass
sich der Sachverständige bewusst gemacht hat, dass im Vordergrund des Handelns bei jedem Antragsteller nach dem
OEG jedenfalls auch das Motiv eines finanziellen Vorteils steht. Andernfalls wäre ein Verfahren nach dem OEG in
Verbindung mit dem BVG nicht angestrengt worden. Die staatliche Entschädigung dürfte gerade bei finanziell
ungesicherten Verhältnissen ein ganz wesentliches, die finanziellen Grundlagen berührendes und für viele
Antragsteller entscheidendes Motiv für den Antrag nach dem OEG sein. Die derzeitige wirtschaftliche Lage der
Klägerin ist dadurch geprägt, dass sie auf ihre (erste) Anstellung als Sozialtherapeutin wartet und nicht in einem
Beschäftigungsverhältnis steht. Unter diesen Voraussetzungen ist eine Entschädigung nach dem OEG für die
Klägerin objektiv von erheblichem wirtschaftlichem Interesse. Berücksichtigt man, dass die Klägerin ohne jeden
tatsächlichen Anknüpfungspunkt in der Realität und ohne eigene konkrete Erinnerungen ihren eigenen Vater des
sexuellen Missbrauchs bezichtigt und damit eine erhebliche nachträgliche Diffamierung des Verstorbenen in Kauf
genommen hat, um einen Anspruch nach dem OEG zu erwerben, so muss diese starke Motivationslage des
Gelderwerbs auch in die Würdigung der Glaubhaftigkeit ihres gesamten Vorbringens einbezogen werden. Im Ergebnis
kann dahingestellt bleiben, aus welchen Gründen der Sachverständige diesen Gesichtspunkt gänzlich
unberücksichtigt gelassen hat. Hierbei mag der Umstand eine Rolle gespielt haben, dass die Begutachtung von
Anspruchstellern nach dem OEG (mit entsprechenden Versorgungswünschen) nicht zu den üblichen Aufgaben eines
Glaubhaftigkeitsgutachters zählt und wirtschaftlicher Gewinn bei den von ihm sonst begutachteten Opfern und Zeugen
im Strafverfahren nicht im Vordergrund steht. Werden Ansprüche nach dem OEG geltend gemacht, so muss das
Motiv der finanziellen Sicherung jedenfalls immer als wesentlicher Gesichtspunkt in die Beurteilung der
Glaubhaftigkeit der Angaben der Antragsteller einbezogen werden. Dieses bereits durch die Antragstellung
offensichtlich gewordene Motiv der Klägerin spricht unter Berücksichtigung aller übrigen Umstände nicht für, sondern
gegen die Glaubhaftigkeit ihrer Darstellung.
• Im Ergebnis lassen sich hiernach sowohl die fehlende Konstanz der Aussage in den letzten 30 Jahren als auch die
im Verfahren nach dem OEG zwangsläufig im Vordergrund stehenden Beweggründe sowie die angeblich plötzlich und
ohne jedes gravierende Ereignis aufgetretene Erinnerung an das Geschehen im Jahre 1979 gegen die Glaubhaftigkeit
des Vorbringens der Klägerin anführen. Der vom Sachverständigen in den Vordergrund gestellte Detailreichtum der
Schilderung ist gegenüber diesen Umständen für sich gesehen kein hinreichender Anlass, das Vorbringen der Klägerin
hinsichtlich der angeblichen Vergewaltigung im Jahre 1979 als glaubhaft zu betrachten. • 3 Zumutbare Mitwirkung
Zutreffend hat der Beklagte seine Entscheidung schließlich im Schriftsatz vom 10. Juni 2008 auch auf § 2 Abs. 2
OEG gestützt. Nach dieser Bestimmung können Leistungen versagt werden, wenn der Geschädigte es unterlassen
hat, das ihm Mögliche zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Verfolgung des Täters beizutragen, insbesondere
unverzüglich Anzeige bei einer für die Strafverfolgung zuständigen Behörde zu erstatten. Der Beklagte hat sein dahin
gehendes Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
Wird die Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin hinsichtlich der Ereignisse im Jahre 1979 unterstellt, so ist nicht
nachvollziehbar, aus welchen Gründen sie die Anzeigeerstattung seinerzeit unterlassen hat. Insbesondere ist die
Darstellung der Klägerin, sie habe allein wegen ihrer Angst vor dem vermeintlichen Täter keine Strafanzeige erstattet,
nicht glaubhaft. Abgesehen von der Tat selbst hat die Klägerin den vermeintlichen Täter nicht als aggressiv oder
bedrohlich, sondern als überwiegend höflich und wohl auch freundlich geschildert. Welche konkreten und gravierenden
Nachteile der Klägerin unter diesen Voraussetzungen nach einer Strafanzeige hätten drohen sollen, ist ihrem eigenen
Vortrag nicht nachvollziehbar zu entnehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.