Urteil des SozG Augsburg vom 20.11.2008
SozG Augsburg: grobe fahrlässigkeit, allgemeine lebenserfahrung, volljährigkeit, sorgfalt, verwaltungsakt, eltern, waisenrente, erlass, zukunft, widerruf
Sozialgericht Augsburg
Urteil vom 20.11.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 14 R 4058/06
I. Der Bescheid vom 22. Juli 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Januar 2006 wird insoweit
aufgehoben, als dieser die Aufhebung des Bescheids vom 31. Juli 1997 rückwirkend, somit für die Zeit ab 1.
Dezember 2002 bis 31. Juli 2005, und die Erstattung der in diesem Zeitraum entstandenen Überzahlung anordnet. II.
Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Rechtmäßigkeit der Rückforderung der überzahlten Erziehungsrente i.H.v. derzeit
noch 9.986 EUR streitig.
Die Beklagte gewährte der Klägerin auf deren Antrag vom 26.09.1996 hin mit Bescheid vom 31.07.1997
Erziehungsrente, beginnend am 01.09.1996 i.H.v. monatlich 1.199,25 DM (Zahlbetrag). In dem Rentenbescheid war
unter der Rubrik "Rentenart" erläutert, dass die Klägerin Anspruch auf Erziehungsrente habe, da ihr früherer Ehegatte
verstorben sei und sie mindestens ein Kind erziehe bzw. für ein behindertes Kind sorge. Unter "Mitteilungspflichten"
wurde die Klägerin in dem Bescheid darauf hingewiesen, dass die Erziehung eines Kindes vor Vollendung des 18.
Lebensjahres ende, wenn das Kind nicht mehr der uneingeschränkten Personensorge der Klägerin unterliege, z.B.
wenn es heirate. Die Sorge für ein behindertes Kind ende, wenn die Behinderung wegfalle oder das Kind selbst für
seinen Unterhalt aufkommen könne.
Am 29.11.2002 vollendete das jüngste Kind der Klägerin, Herr W. S., sein 18. Lebensjahr. Mit Schreiben vom
01.08.2002 an die Klägerin ermittelte die Beklagte die weitere Bezugsberechtigung der Waisenrente des Genannten
und bat darum, dessen Schul- oder Berufsausbildung ab 01.12.2002 zu bestätigen. Unter anderem wurde in dem
Schreiben darauf hingewiesen, dass mit der Volljährigkeit der Waise nach Vollendung des 18. Lebensjahres die
Waisenrente an die Waise selbst auszuzahlen sei.
Am 08.03.2004 und 13.05.2004 erließ die Beklagte hinsichtlich der Erziehungsrente der Klägerin zwei Bescheide
wegen Änderungen bei der Beitragszahlung zur Kranken- und Pflegeversicherung aus der Rente bzw. wegen einer
Beitragssatzänderung der Krankenversicherung. Mit Schreiben vom 12.05.2005 hörte die Beklagte die Klägerin an,
nachdem das letztgeborene Kind der Klägerin am 29.11.2002 das 18. Lebensjahr vollendet habe: Somit liege seit dem
01.12.2002 keine Erziehung eines Kindes mehr vor. Die Rentenzahlung werde daher vorsorglich Ende Mai 2005
eingestellt. Es sei beabsichtigt, den Bewilligungsbescheid vom 31.07.1997 bereits ab Änderung der Verhältnisse, also
mit Wirkung ab 01.12.2002, aufzuheben und die Überzahlung der Zeit seit 01.12.2002 i.H.v. 19.973,18 EUR
zurückzufordern. Bei der daraufhin erfolgten Vorsprache der Klägerin bei der Auskunfts- und Beratungsstelle Augsburg
der Beklagten wies die Klägerin darauf hin, dass sie die Gründe für den Wegfall der Erziehungsrente nicht hätte
erkennen müssen. Es sei von Rentenbeginn an bekannt gewesen, wann das letztgeborene Kind das 18. Lebensjahr
vollende. Die Rente hätte daher befristet werden müssen. Ihr Sohn W. S. besuche weiterhin die Schule und lebe in
ihrem Haushalt. Mit Bescheid vom 22.07.2005 hob die Beklagte den Rentenbescheid vom 31.07.1997 mit Wirkung ab
01.12.2002 gemäß § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf. Die entstandene Überzahlung i.H.v. 19.973,18
EUR sei nach § 50 SGB X zu erstatten.
Hiergegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 01.08.2005. Dabei wies die Klägerin erneut auf die Kenntnis
der Beklagten von der Vollendung des 18. Lebensjahres ihres Sohnes sowie darauf hin, dass ihr aus finanziellen
Gründen eine Rückerstattung des geforderten Betrages nicht möglich sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 12.01.2006
wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass die Klägerin im
Bescheid vom 31.07.1997 ausdrücklich darauf hingewiesen worden sei, dass ein Anspruch auf Erziehungsrente
bestehe, weil sie mindestens ein Kind erziehe. Die Klägerin habe daher wissen müssen, dass ihr die Erziehungsrente
ab 01.12.2002 nicht mehr zustehe. Die Verletzung einer gesetzlichen Mitteilungspflicht werde der Klägerin nicht
vorgeworfen. Die Fristen des § 48 Abs. 4 i.V.m. § 45 Abs. 3 und 4 SGB X seien gewahrt; ein "Kennenmüssen" löse
den Beginn der Ein-Jahres-Frist nicht aus. An der Überzahlung treffe die Beklagte jedoch ein Mitverschulden. Daher
werde der Erstattungsanspruch im Wege der Ermessensausübung auf den Betrag von 9.986 EUR begrenzt. Zunächst
stunde die Beklagte die Forderung ohne Ratenzahlung bis August 2006.
Hiergegen richtet sich die am 09.02.2006 zum Sozialgericht Augsburg erhobene Klage. In der umfangreichen
Klagebegründung wurde u.a. darauf verwiesen, dass der teilweise aufgehobene Rentenbescheid insgesamt äußerst
irreführend formuliert worden sei. Hätte die Beklagte die Klägerin auf den Beendigungszeitpunkt klar hinweisen wollen,
hätte sie formulieren sollen, dass der Anspruch ende, sobald das jüngste Kind das 18. Lebensjahr vollende. Die
Beklagte habe dabei zu beachten gehabt, dass der Bescheid von juristisch ungeschulten Versicherten gelesen werde.
Die Klägerin sei überzeugt gewesen, dass sie Erziehungsrente erhalten könne, solange ihr jüngstes Kind sich in
Schulausbildung befinde. Diese Fehlvorstellung sei weiter durch das Schreiben der Beklagten vom August 2002
hinsichtlich der Waisenrente des Kindes verstärkt worden. Weiter sei die maßgebliche Frist des § 48 Abs. 4 SGB X
nicht eingehalten worden, die Beklagte habe spätestens im August 2002 positive Kenntnis der Tatsachen gehabt.
Letztlich habe die Beklagte auch das eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt.
Der Bevollmächtigte der Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 22.07.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.01.2006 insoweit aufzuheben, als
dieser die Aufhebung des Bescheids vom 31.07.1997 rückwirkend zum 01.12.2002 und die Er- stattung der in diesem
Zusammenhang entstandenen Überzahlung anordnet.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestands auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Akte der
Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§ 87, 90 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht erhobene Klage ist auch im Übrigen zulässig.
Sie erweist sich auch als begründet.
Der Bescheid vom 22.07.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.01.2006 ist insoweit rechtswidrig und
verletzt die Klägerin in ihren Rechten, als diese Bescheide die Aufhebung des Bescheids vom 31.07.1997
rückwirkend, somit für die Zeit ab 01.12.2002 bis 31.07.2005, und die Erstattung der in diesem Zeitraum (01.12.2002
bis 31.05.2005) entstandenen Überzahlung anordnen.
Nach dem bestandskräftigen Rentenbewilligungsbescheid vom 31.07.1997 hatte die Klägerin Anspruch auf
Gewährung der Erziehungsrente auch in dem streitgegenständlichen Zeitraum. Ein Widerruf, eine Rücknahme oder
eine Aufhebung des Bewilligungsbescheides war der Beklagten rechtlich verwehrt.
Insbesondere konnte die Beklagte den Bescheid nicht gemäß § 48 SGB X aufheben. Die tatbestandlichen
Voraussetzungen dieser Norm sind vorliegend nicht erfüllt.
Gemäß § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dann mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben,
wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines solchen Verwaltungsaktes
vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der
Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit 1. die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt, 2. der
Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger
Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist, 3. nach Antragstellung oder
Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des
Anspruchs geführt haben würde, oder 4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in
besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes
zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
Die Klägerin hat keine Pflicht zur Mitteilung für sie nachteiliger Änderungen der Verhältnisse verletzt. Eine solche
Pflicht ergibt sich weder unmittelbar aus den gesetzlichen Vorschriften noch hat der Bewilligungsbescheid der
Beklagten eine solche Pflicht festgesetzt. Eine solche Pflichtverletzung wird auch von der Beklagten nicht geltend
gemacht.
Auch der Tatbestand des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 ist vorliegend nicht erfüllt. So ergeben sich nach dem
Gesamtergebnis des Verfahrens keinerlei Hinweise darauf, dass die Klägerin positive Kenntnis von dem Wegfall ihres
Anspruchs auf Erziehungsrente gehabt hat. Sie hat jedoch auch die ihr obliegende Sorgfalt nicht in besonders
schwerem Maße verletzt.
Denn eine solche besonders schwere Sorgfaltspflichtverletzung (grobe Fahrlässigkeit) wird nach der Rechtsprechung
nur begründet durch zutreffende, deutliche und für den Betroffenen verständliche Belehrungen über
Wegfalltatbestände im Bewilligungsbescheid (z.B. Bundessozialgericht – BSG – SozR 1300 § 48 Nr. 47). Ein solcher
deutlicher und unmissverständlicher Hinweis ist – wie die Klägerin über ihren Bevollmächtigten zutreffend hervorhebt –
in dem Bewilligungsbescheid aus dem Jahr 1997 oder in sonstigen Bescheiden der Beklagten gerade nicht enthalten.
Klar darauf hingewiesen wird die Klägerin zwar, dass sie die Rente aufgrund der Erziehung ihres Kindes erhält. Was
unter den Be-griff der "Erziehung" fällt, wird in dem Bescheid jedoch nicht näher ausgeführt. Es findet sich lediglich
der Hinweis, dass die Erziehung in Ausnahmefällen auch vor dem 18. Lebensjahr des Kindes enden kann. Welche
Bedeutung der Eintritt der Volljährigkeit auf den Begriff der Erziehung bzw. den Rentenanspruch hat und welche
Regelung gilt, wenn die äußeren Umstände trotz Vollendung des 18. Lebensjahres völlig unverändert bleiben, darüber
schweigt der Bescheid, obwohl es ein Leichtes wäre, einen entsprechenden Hinweis in Erziehungsrentenbescheiden
anzubringen.
Nach der Rechtsprechung liegt grobe Fahrlässigkeit im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X nicht schon dann
vor, wenn der Betroffene mit dem relevanten Umstand lediglich rechnen musste. Vorausgesetzt wird vielmehr, dass er
den Umstand "aufgrund einfachster und ganz naheliegender Überlegungen" hätte erkennen können bzw. dass
"dasjenige unbeachtet geblieben ist, was im gegebenen Falle jedem hätte einleuchten müssen" (Steinwedel in
KassKomm, § 45 SGB X, Rdnr 39, i.V.m. § 48 SGB X, Rdnr 54 m.w.N.). Daraus ergibt sich, dass der Klägerin der
Vorwurf zu machen sein mag, dass sie die Sorgfalt in leichtem Maße verletzt hat, indem sie Überlegungen aus dem
Weg gegangen sein dürfte, wie lange genau die Erziehungsrente bezogen werden durfte. Eine von der
Aufhebungsvorschrift zwingend geforderte besonders schwere Sorgfaltspflichtverletzung ist jedoch – wie dargelegt -
nicht gegeben. Aufgrund der undeutlichen Hinweise bzw. der nur Andeutungen im Bescheid kann in keinem Fall davon
ausgegangen werden, dass der Wegfall des Erziehungsrentenanspruchs "jedem hätte einleuchten müssen". Die
Auslegung des Begriffs "Erziehung" führt – gerade auch für juristisch ungeschulte Laien – zu keinem offenkundigen
Ergebnis. Insbesondere konnte die Klägerin nicht davon ausgehen, dass ihre Erziehung mit Eintritt der rechtlichen
Volljährigkeit ihres Sohnes abrupt endet. Denn wie die allgemeine Lebenserfahrung zeigt, endet die tatsächliche
Erziehung durch die Eltern in keinem Fall exakt mit dem Tag des Erreichens der Volljährigkeit. In vielen Fällen wird
die Erziehung lange vor dem 18. Lebensjahr enden bzw. abgebrochen werden. Im Gegensatz hierzu endet für Viele
die Erziehung durch ihre Eltern nie, so wie sie auch immer Kinder ihrer Eltern bleiben. Aufgrund der Hinweise des
Bescheids unter der Rubrik "Mitteilungspflichten" konnte die Klägerin auch nicht erkennen, dass die Erziehung bei
weiterhin unterhaltsberechtigten Kindern (z.B. wegen weiterer Ausbildung) aufgrund der Volljährigkeit endet. Dies gilt
umso mehr, als die Beklagte hinsichtlich des Waisenrentenanspruchs durch ihre Nachfrage genau darauf hingewiesen
hat, dass bei Ausbildung ein längerer Rentenbezug – wenn auch hinsichtlich der anderen Rentenart – möglich ist. Auf
die rechtliche Definition des Begriffs Erziehung kommt es somit nicht an (z.B. Gürtner in KassKomm, § 46
Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - SGB VI -, Rdnr 23).
Es kann daher offen bleiben, ob die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 i.V.m. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X von der Beklagten
eingehalten und ob das Ermessen rechtmäßig ausgeübt wurde.
Auch wenn der Klägerin unter materiellen Gesichtspunkten die Rentenleistung im streitgegenständlichen Zeitraum
nicht zustand, konnte die Beklagte die zu Unrecht bezogenen Leistungen nicht rechtmäßig zurückfordern. Die
rechtswidrigen Verwaltungsakte der Beklagten waren aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.