Urteil des SozG Aachen vom 22.06.2005
SozG Aachen: rahmenfrist, pflegebedürftigkeit, hilflosigkeit, begriff, sozialleistung, beweisregel, gemeinwesen, rehabilitation, behinderter, gesundheit
Sozialgericht Aachen, S 11 AL 107/04
Datum:
22.06.2005
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 11 AL 107/04
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 12 AL 181/05
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin die Anwartschaftszeit auf
Arbeitslosengeld (Alg) erfüllt hat.
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Die am 00.00.1969 geborene Klägerin arbeitete zuletzt bis April 1998 bei der BPL
S.Vom 21.08.1998 bis 03.06.2001 befand sie sich in Erziehungsurlaub, anschließend
bis zum 03.06.2004 in Sonderurlaub. Am 27.05.2004 meldete sie sich für die Zeit ab
dem 04.06.2004 arbeitslos und beantragte entsprechend Alg. Die Beklagte lehnte den
Antrag mit Bescheid vom 15.07.2004 mit der Begründung ab, die Klägerin habe
innerhalb der - hier einschlägigen - dreijährigen Rahmenfrist (04.06.2001 bis
03.06.2004) nicht mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis
gestanden.
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Mit ihrem am 16.08.2004 erhobenen Widerspruch rügte die Klägerin die Berechnung der
Rahmenfrist: Sie habe in den drei vergangenen Jahren ihre am 04.06.1998 geborene
Tochter B gepflegt, bei der das Versorgungsamt Aachen einen Grad der Behinderung
(GdB) von 100 sowie die Nachteilsausgleiche mit den Merkzeichen "G", "B" und "H"
festgestellt habe. Dieser Bescheid entspreche dem einer Pflegekasse; finanzielle
Leistungen wegen der Pflegebedürftigkeit ihrer Tocher erhalte sie - entsprechend dem
Merkzeichen "H" (Hilflosigkeit) - in Form von Steuererleichterungen.
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Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 25.10.2004 zurück. Sie führte
aus, eine Anwendung von § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch - Drittes Buch -
Arbeitsförderung - (SGB III) in der bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung (a.F.; hier
einschlägig gemäß § 434 j Abs. 3 SGB III), scheitere am Fehlen eines Bescheides der
Pflegekasse. § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB III in der bis zum 31.12.2002 geltenden
Fassung (a.F.; einschlägig nach § 434 d Abs. 2 SGB III) führe ebenfalls nicht zur
Erfüllung der Anwartschaftszeit, denn die Tochter der Klägerin habe das dritte
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Lebensjahr bereits am 04.06.2001 vollendet.
Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage.
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Die Klägerin führt aus, sie habe in der Vergangenheit keinen Antrag auf Leistungen aus
der Pflegeversicherung gestellt, da eine finanzielle Unterstützung nicht nötig gewesen
sei. Die Voraussetzungen mindestens der Pflegestufe I hätten jedoch im fraglichen
Zeitraum durchgehend vorgelegen. Im Übrigen habe das BSG (Urteil vom 29.01.2001, B
7 AL 16/00 R) entschieden, dass der Bezug anderer Leistungen als der aus der
Pflegeversicherung keine Zuordnung zu einer Pflegestufe voraussetze und dass es
ausreiche, wenn die Pflegebedürftigkeit zur Zuordnung einer Pflegestufe habe führen
können. Ein solcher Bezug einer gleichartigen Leistung i.S.d. § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1
SGB III a.F. liege hier in der Zuerkennung des Merkzeichens "H". Schließlich behauptet
die Klägerin, ihr Ehemann habe sich am 30.05.2001 mit der Beklagten in Verbindung
gesetzt und dort die Auskunft erhalten, auch das Merkzeichen "H" führe zur Anwendung
von § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. Der Name des Sachbearbeiters sei jedoch
nicht mehr erinnerlich.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15.07.2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 25.10.2004 zu verurteilen, ihr Arbeitslosengeld ab dem
04.06.2004 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie bleibt bei ihrer bisherigen Auffassung.
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Das Gericht hat die Akte des Versorgungsamts Aachen über die Tochter der Klägerin
beigezogen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf
die gewechselten Schriftsätze sowie die übrige Gerichtsakte und die beigezogene
Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin ist durch die angefochtene
Entscheidung der Beklagten nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) beschwert, da sie keinen Anspruch auf Alg hat.
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Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Alg, denn sie hat binnen der hier einschlägigen
dreijährigen Rahmenfrist nicht mindestens 12 Monate in einem
Versicherungspflichtverhältnis gestanden und somit die Anwartschaftzeit nicht erfüllt (§§
117 Abs. 1 Nr. 3, 123, 124 SGB III a.F.). Einschlägig für die Frage der Rahmenfrist ist §
124 SGB III in der bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung (§ 434 j Abs. 3 SGB III).
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Die Beklagte ist bei ihrer Entscheidung zutreffend von einer Rahmenfrist vom
04.06.2001 bis zum 03.06.2004 ausgegangen. § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. ist
nicht anwendbar. Nach dieser Vorschrift wurden solche Zeiten nicht in die Rahmenfrist
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eingerechnet, in denen der Arbeitslose als Pflegeperson einen der Pflegestufe I bis III im
Sinne des Elften Buches zugeordneten Angehörigen, der Leistungen aus der sozialen
oder einer privaten Pflegeversicherung nach dem Elften Buch oder Hilfe zur Pflege nach
dem Bundessozialhilfegesetz oder gleichartige Leistungen nach anderen Vorschriften
bezieht, wenigstens 14 Stunden wöchentlich pflegt.
Die Tochter der Klägerin hat weder Leistungen der sozialen oder einer privaten
Pflegeversicherung noch Hilfe zur Pflege nach dem inzwischen aufgehobenen
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bezogen.
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Sie hat auch keine gleichartigen Leistungen i.S.d. § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F.
bezogen. Gleichartige Leistungen wegen Pflegebedürftigkeit sind die in § 13 Abs. 1 und
3 Sozialgesetzbuch - Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung - (SGB XI) genannten
Leistungen (Lauer, in: Praxiskommentar SGB III, 2. Aufl., 2004, § 124, Rn. 16), zu denen
der Nachteilsausgleich "H" nicht gehört. Diese Auslegung steht auch nicht im
Widerspruch zum Normzweck von § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F., denn auch die
bezweckte Privilegierung der Pflegepersonen aufgrund ihrer Leistung für das
Gemeinwesen (Lauer, a.a.O.) bedarf eines tatsächlichen Anknüpfungspunkts. Als
solchen bestimmt § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. - im Wege einer gesetzlichen
Beweisregel - den Bezug von Leistungen, die erst nach eingehender Prüfung durch den
Träger der Pflegeversicherung (bzw. die in § 13 Abs. 1 und 3 SGB XI angesprochenen
Träger) gewährt werden.
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Eine Ausweitung auf den von der Versorgungsverwaltung festgestellten
Nachteilsausgleich "H" scheitert jedoch an den weitreichenden strukturellen
Unterschieden zwischen dem Bezug von Leistungen nach dem SGB XI und einer
schwerbehindertenrechtlicher Feststellung.
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Bereits begrifflich ist die Feststellung eines schwerbehindertenrechtlichen
Nachteilsausgleichs keine Sozialleistung (hierzu und zum Folgenden BSG, Urteil vom
06.12.1989, 9 RVs 4/89 = E 66, 120 ff), denn Sozialleistungen sind nach § 11
Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) Dienst-, Sach- oder Geldleistungen. Die
in § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe
behinderter Menschen - (SGB IX) angesprochene Feststellung gesundheitlicher
Merkmale stellt hingegen nicht den Endzweck des Leistungsbegehrens dar, sondern
fungiert als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Vergünstigungen auf
verschiedenen - auch "sozialrechtsfremden" - Rechtsgebieten (BSG, a.a.O. zur
Vorgängervorschrift). Es kann daher dahinstehen, ob die Steuererleichterungen, auf die
sich die Klägerin beruft, überhaupt als Leistungen aufgefasst werden können,
Sozialleistungen sind sie jedenfalls nicht.
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Hinzu kommt, dass der schwerbehindertenrechtliche Begriff der Hilflosigkeit nicht
deckungsgleich mit den gesundheitlichen Voraussetzungen der in § 124 Abs. 3 Satz 1
Nr. 1 SGB III a.F. genannten Leistungen ist. Er ist gemäß Ziffer 21 Abs. 1 Satz 4 der
hierzu einschlägigen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)",
herausgegeben 2004 vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung
(Anhaltspunkte, AHP), gerade nicht mit dem pflegeversicherungsrechtlichen Begriff der
Pflegebedürftigkeit (§ 14 SGB XI) identisch. Diese Wesensverschiedenheit wird
insbesondere an Fällen wie dem vorliegenden deutlich, denn für die Feststellung von
Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen gelten grundsätzlich erleicherte
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Voraussetzungen: Nach Ziffer 22 Abs. 1 und 3 AHP sind hier - anders als bei
Erwachsenen - auch die Anleitung zu den nach Ziffer 21 Abs. 3 AHP erforderlichen
Verrichtungen sowie (allgemein) die Förderung der körperlichen und geistigen
Entwicklung zu berücksichtigen. Dies kann im Einzelfall dazu führen, dass
schwerbehindertenrechtliche Hilflosigkeit auch dort anerkannt werden muss, wo die
Voraussetzungen des § 14 SGB XI gerade nicht erfüllt sind.
Nichts Anderes ergibt sich aus der von der Klägerin angeführten Entscheidung des
BSG, die sich in erster Linie mit der Anwendung des Ausnahmetatbestandes in § 124
Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. auf einen Zeitraum vor Einführung der sozialen
Pflegeversicherung befasst, in dem mithin eine Pflegestufe nicht festgestellt werden
konnte. Ob aus dem Urteil des BSG zwingend der Schluss zu ziehen ist, dass bei
Gewährung gleichartiger Leistungen (i.S.d. § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. i.V.m.
§ 13 Abs. 1 und 3 SGB XI) die fehlende Feststellung einer Pflegestufe unschädlich ist,
braucht das Gericht im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden, denn sowohl die
tatbestandlichen Voraussetzungen als auch die Rechtsfolgen des Nachteilsausgleichs
"H" weichen - wie dargestellt - erheblich von denen der in § 13 Abs. 1 und 3 SGB XI
aufgezählten Leistungen ab.
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Die Klägerin kann Alg auch nicht aufgrund eines sozialrechtlichen
Herstellungsanspruchs verlangen. Dieser scheitert bereits daran, dass sich eine
unzutreffende Beratung durch die Beklagte angesichts der nur unzureichenden
Darlegungen nicht beweisen lässt.
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Die mit Wirkung vom 01.01.2003 aufgehobene Vorschrift des § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2
SGB III a.F. ist im vorliegenden Fall nach § 434 d Abs. 2 SGB III weiter einschlägig. Sie
führt jedoch nicht zu einem Anspruch auf Alg, da die Tochter der Klägerin das dritte
Lebensjahr am 04.06.2001 vollendet hat.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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