Urteil des SozG Aachen vom 27.09.2006
SozG Aachen: eheähnliche lebensgemeinschaft, aufschiebende wirkung, besondere härte, vollziehung, erlass, verwaltungsakt, bedürftigkeit, anfechtungsklage, rückwirkung, gesetzesänderung
Sozialgericht Aachen, S 8 AS 78/06 ER
Datum:
27.09.2006
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 8 AS 78/06 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage
gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 26.07.2006 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 25.08.2006 wird abgelehnt. Kosten
haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Gründe:
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Der "Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Bewilligung von
Arbeitslosengeld II" vom 20.09.2006 ist interessengerecht als Antrag auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG auszulegen. Denn der
Antragsgegner hatte zunächst mit Bescheid vom 05.05.2006
Grundsicherungsleistungen ohne Anrechnung von Einkommen bis zum 31.10.2006
bewilligt. Mit Bescheid vom 26.07.2006 hob der Antragsgegner diese Bewilligung
gemäß § 48 SGB X ab 01.08.2006 auf. Hiergegen richten sich Widerspruch und die bei
Gericht am 21.09.2006 eingegangene Anfechtungsklage (Aktenzeichen: S 0 AS 00/00).
Gemäß § 39 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen
Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
entscheidet (Nr. 1), keine aufschiebende Wirkung. Statthaftes Mittel des einstweiligen
Rechtsschutzes ist damit der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung
gemäß § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG.
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Der statthafte und zulässige Antrag ist indes nicht begründet. Bei der Prüfung der Frage,
ob die aufschiebende Wirkung gemäß § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG angeordnet wird, hat das
Gericht eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen (ausführlich: Krodel, Das
sozialgerichtliche Eilverfahren, Rdnr. 181 f; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 8. Aufl., § 86 b Rdnr. 12 ff). Die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahren sind
zu berücksichtigen, die Aussetzung der Vollziehung soll erfolgen, wenn ernstliche
Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder
wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende
öffentliche Interessen gebotene Härte zu Folge hätte.
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Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des
Antragsgegners und keine Anhaltspunkte für eine besondere Härte durch die
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Vollziehung.
Ermächtigungsgrundlage für die Entscheidung des Antragsgegners sind §§ 40 Abs. 1
Satz 1 SGB II, 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Hiernach ist ein Verwaltungsakt mit
Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder
rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche
Änderung eintritt. Bei dem Bewilligungsbescheid vom 05.05.2006 handelte es sich um
einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, da Grundsicherungsleistungen für 6 Monate
bewilligt werden. Gegenüber den Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen
haben, ist ab 01.08.2006 eine wesentliche Änderung eingetreten:
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Dies ergibt sich aus §§ 9 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, 7 Abs. 3 Nr. 3 c, Abs 3 a SGB II in der
durch Artikel 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für
Arbeitsuchende vom 20.07.2006 (BGBl I 1706) mit Wirkung ab 01.08.2006 eingeführten
Fassung. Hiernach sind bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, auch
das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Zur
Bedarfsgemeinschaft gehört auch eine Person, die mit dem erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen in einem gemeinsamen Haushalt so zusammen lebt, dass nach
verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung
füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Ein wechselseitiger Wille,
Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird unter anderem
dann vermutet, wenn Partner länger als ein Jahr zusammenleben.
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Die Antragstellerin und Herr C leben länger als ein Jahr zusammen. Bevor die
Antragstellerin gemeinsam mit Herrn C zum 01.11.2004 nach W-T1, Eweg 00, zog, lebte
sie nach den von ihr nicht bestrittenen Feststellungen des Antragsgegners mit Herrn C
gemeinsam in einer Wohnung im B1 Lweg 0 in T2. B2. Durch den gemeinsamen Umzug
liegt ohnehin ein gewichtiges Indiz dafür vor, dass die Antragstellerin und Herr C eine
eheähnliche Lebensgemeinschaft bilden, die auch bis zum 31.07.2006 eine
Einkommensanrechung ermöglicht hätte (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 b SGB II in der bis zum
31.07.2006 geltenden Fassung). Jedenfalls aber greift ab 01.08.2006 die genannte
Vermutung des § 7 Abs. 3 a Nr. 1 SGB II).
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Die Neuregelung erfasst den Bewilligungsbescheid vom 05.05.2006, weshalb eine
Änderung in den rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist (anders: SG Aachen,
Beschluss vom 22.09.2006 – S 21 AS 143/06 ER). Insbesondere stellt die Anwendung
dieser Vorschrift auf laufende Bewilligungen keine Rückwirkung dar. Sinn und Zweck
der Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II ist es, den laufenden Lebensunterhalt
sicherzustellen. Denn obwohl gemäß § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II die Leistungen jeweils
für 6 Monate bewilligt und monatlich im Voraus erbracht werden sollen, besteht gemäß §
41 Abs. 1 Satz 1 SGB II Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
grundsätzlich für jeden Kalendertag. Trotz der regelmäßigen Bewilligung der Leistungen
für 6 Monate handelt es sich bei der Bewilligung der Leistungen damit um den aktuellen
Verhältnissen anzupassende, zur Deckung des laufenden Bedarfs dienende
Leistungen. Eine Gesetzesänderung, die auf eine vom Gesetzgeber angenommene
mangelnde Bedürftigkeit Bezug nimmt, erfasst damit auch laufende
Bewilligungszeiträume (insoweit anders SG Aachen, Beschluss vom 22.09.2006 a. a.
O.).
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Auch aus § 68 Abs. 1 SGB II ergibt sich nichts anderes (anders wohl ebenfalls SG
Aachen, Beschluss vom 22.09.2006 a. a. O.). Allerdings bestimmt die Vorschrift, dass §
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7 SGB II in der bis zum 30.06.2006 geltenden Fassung weiterhin anzuwenden ist für
Bewilligungszeiträume, die vor dem 01.07.2006 beginnen. § 68 SGB II wurde mit
Wirkung vom 01.04.2006 durch das Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 24.03.2006 (BGBl I, Seite 558) eingefügt.
Nach der Gesetzesbegründung (Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Arbeit und Soziales – BT-Drucksache 16/688 vom 15.02.2006 -) soll § 68 Abs. 1
SGB II sicherstellen, dass der Verwaltung ausreichend Zeit für die erforderlichen
Umstellungsarbeiten beim Umgang zur neuen Rechtslage bei der Erweiterung der
Bedarfsgemeinschaft um Jugendliche, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet
haben, eingeräumt wird. Einen weiteren Zweck hat diese Vorschrift nicht. Die
Überschrift "Gesetz zur Änderung des Zweiten Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze"
ist amtlich und insoweit zur Interpretation der Vorschrift heranzuziehen. Trotz des
allgemein gehaltenen Wortlautes von § 68 Abs. 1 SGB II ist diese Vorschrift daher nur
auf solche Änderungen von § 7 SGB II anzuwenden, die durch das Gesetz zur
Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vorgenommen
wurden. Änderungen aufgrund des hier maßgeblichen Gesetzes zur Fortentwicklung der
Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006 werden von § 68 SGB II nicht
erfasst. Für diese Änderungen gilt § 69 SGB II, diese Vorschrift enthält für den
vorliegenden Fall jedoch keine Übergangsregelung.
Der Annahme einer wesentlichen Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X
steht auch nicht entgegen, dass die ursprüngliche Leistungsbewilligung vermutlich
rechtswidrig im Sinne des § 45 SGB X gewesen ist. Denn nach Auffassung des Gerichts
handelte es sich bereits um eine eheähnliche Lebensgemeinschaft im Sinne des § 7
Abs. 3 Nr. 3 b SGB II in der bis zum 31.07.2006 geltenden Fassung. Maßgebliches Indiz
hierfür ist, dass die Antragstellerin und Herr C bereits einmal gemeinsam umgezogen
sind. Dies ist atypisch für eine reine Wohn- und Zweckgemeinschaft. Da jedoch eine
rechtswidrige Leistungsbewilligung nicht stärker geschützt ist, als eine rechtmäßige
Leistungsbewilligung, ist die Änderung von § 7 Abs. 3 SGB II und die Einfügung von § 7
Abs. 3 a SGB II durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für
Arbeitsuchende auch für vorher bestehende eheähnliche Lebensgemeinschaften als
wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen anzusehen.
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Die vom Antragsgegner im Bescheid vom 06.12.2005 vorgenommene Berechnung des
Einkommens des Herrn C ist plausibel und wurde von der Antragstellerin nicht
angegriffen. Damit ist insgesamt von fehlender Bedürftigkeit auszugehen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung von § 193 SGG.
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