Urteil des OVG Saarland vom 29.06.2006
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OVG Saarlouis Beschluß vom 29.6.2006, 3 Q 2/06; 2 Q 9/05
inländische Fluchtalternative für kumykischen Volkszugehörigen und von Wahabiten in der
Russischen Föderation
Leitsätze
Kumykischen Volkszugehörigen aus Dagestan steht innerhalb der Russischen Föderation
jedenfalls eine inländische Fluchtalternative offen. Eine landesweite Gruppenverfolgung von
Wahabiten ist nach der Erkenntnislage nicht anzunehmen.
Tenor
Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das aufgrund der mündlichen
Verhandlung vom 18. März 2005 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts des
Saarlandes - 12 K 185/04.A - wird zurückgewiesen.
Die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Antragsverfahrens haben die Kläger
zu tragen.
Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren im zweiten
Rechtszug wird abgelehnt.
Gründe
Dem Antrag der im Jahre 2004 in die Bundesrepublik Deutschland eingereisten Kläger, die
Staatsangehörige der russischen Föderation kumykischer Volkszugehörigkeit sind, auf
Zulassung der Berufung gegen das Urteil vom 18.3.2005, mit dem das Verwaltungsgericht
ihre Klage auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Bestehens von
Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 1 bis 7 AufenthaltsG abgewiesen hat, kann nicht
entsprochen werden.
Das Vorbringen der Kläger in der Begründung ihres Zulassungsantrages, das den
gerichtlichen Prüfungsumfang in dem vorliegenden Verfahren begrenzt, rechtfertigt nicht
die erstrebte Berufungszulassung wegen der geltend gemachten grundsätzlichen
Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG).
Soweit die Kläger unter Hinweis auf nicht näher bezeichnete Stellungnahmen der
Gesellschaft für bedrohte Völker bezüglich des Tschetschenienkonflikts und den Lagebericht
des Auswärtigen Amtes vom 26.3.2004 zu Willkür, unmenschlicher Behandlung und Folter
gegen „bestimmte Minderheiten und nationale Gruppen“ durch Behörden und
Sicherheitskräfte – pauschal - die Frage als grundsätzlich bedeutsam bezeichnen, ob
kumykischen Volkszugehörigen außerhalb Dagestans in der russischen Föderation eine
inländische Fluchtalternative offensteht, bestehen bereits Bedenken, ob damit dem
Darlegungserfordernis des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG genügt ist. Danach sind in dem
Zulassungsantrag die Gründe „darzulegen“, aus denen die Berufung nach Auffassung des
jeweiligen Antragstellers zuzulassen ist. Die Vorschrift erfordert neben einer zweifelfreien
Angabe, auf welche(n) der in § 78 Abs.3 Nr. 1 bis 3 AsylVfG abschließend aufgeführten
Zulassungstatbestände sich der Antragsteller beruft, insbesondere eine diesbezügliche
inhaltliche Auseinandersetzung mit der Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung
vgl. in dem Zusammenhang etwa OVG des Saarlandes, Beschlüsse vom
21.4.2005 - 2 Q 46/04 - und vom 28.4.2004 - 1 Q 26/04.
Die aufgeworfene Frage lässt sich aber auch anhand der aktuellen Erkenntnislage
beantworten. So ist zu der Minderheit der tschetschenischen Volksgruppe in der
Russischen Föderation unter eingehender und überzeugender Würdigung der vorhandenen
Erkenntnisquellen in der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes
geklärt,
hierzu Entscheidungen des 2. Senats vom 23.6.2005 – 2 R 4/04 -, 2 R 17/03 -,
- 2 R 16/03 - und - 2 R 11/03 – sowie vom 21.4.2005 – 2 Q 46/04 -; sich
hieran anschließend Beschluss des 3. Senats vom 29.5.2006 – 3 Q 1/06 -;
siehe auch die zu 2 R 16/03 und 2 R 11/03 ergangenen Entscheidungen des
Bundesverwaltungsgerichts vom 17.5.2006 – 1 B 100.05 – und – 1 B 101.05 -.
dass eine landesweite Kollektivverfolgung aller tschetschenischen Volkszugehörigen im
(gesamten) Staatsgebiet der Russischen Föderation bei Anlegung der hierzu in der
höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten strengen Maßstäbe ungeachtet der sich
im Gefolge von Terroranschlägen in der jüngeren Vergangenheit verschärfenden
Spannungen und Vorbehalte nicht festgestellt werden kann. Nach den dortigen
Feststellungen lässt sich nach dem vorliegenden Auskunftsmaterial weder ein staatliches
(russisches) Verfolgungsprogramm mit dem Ziel einer physischen Vernichtung und/oder
der gewaltsamen Vertreibung aller Tschetschenen aus dem Staatsgebiet nachweisen,
noch lassen bekannt gewordene Einzelverfolgungsmaßnahmen mit Blick auf die
zahlenmäßige Größe der die bei weitem größte der im Nordkaukasus beheimateten
Ethnien stellenden Volksgruppe der Tschetschenen die Feststellung einer die Annahme
einer landesweiten Gruppenverfolgung gebietenden Verfolgungsdichte zu.
Selbst bei Anlegung des in der Rechtsprechung für die Fälle der so genannten
Vorverfolgung im Heimatland entwickelten „herabgestuften“ Prognosemaßstabs für die
Feststellung einer Rückkehrgefährdung steht nach der o.g. Rechtsprechung den aus
Tschetschenien stammenden Bürgern der Russischen Föderation russischer
Volkzugehörigkeit aber auch ethnischen Tschetschenen in anderen Regionen der
Russischen Föderation eine auch unter wirtschaftlichen Aspekten zumutbare für die
Betroffenen tatsächlich erreichbare inländische Fluchtalternative zur Verfügung.
Auch die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60
Abs. 7 Satz 1 AufenthaltsG können danach nicht angenommen werden. Insoweit ist, was
die Geltendmachung einer Gefährdung durch die allgemeine wirtschaftliche
Versorgungslage angeht, zusätzlich die vom Bundesgesetzgeber beibehaltene
Sperrwirkung nach den §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60a AufenthaltsG für die
Berücksichtigungsfähigkeit von so genannten Allgemeingefahren für die Bevölkerung oder
auch nur Bevölkerungsgruppen im Herkunftsstaat zu beachten. Darüber hinausgehende
humanitäre Gesichtspunkte hat der Bundesgesetzgeber danach auch am Maßstab des
Verfassungsrechts in zulässiger Weise den hierfür zuständigen politischen
Entscheidungsträgern überantwortet.
Diese Grundsätze lassen sich, da auch nach entsprechend auszulegendem klägerischen
Vortrag eine Gefährdungssituation im Zusammenhang mit dem (1999 begonnenen)
Versuch eines Hineintragens des Tschetschenienkonflikts in das Herkunftsland der Kläger
Dagestan zu beurteilen ist, auf kumykische Volkszugehörige übertragen, die gleichfalls
Angehörige einer kaukasischen Minderheit sind
siehe in diesem Zusammenhang den o.g Beschluss des 2. Senats des OVG des
Saarlandes vom 21.4.2005, a.a.o..
Aus den erstinstanzlich verwerteten
Auskünften des Auswärtigen Amtes an VG Göttingen vom 11.4.2003 – 508 -
516.80/41035- und des VG Braunschweig vom 13.4.2004 -508-
516.80/42358-
ergibt sich, dass Kumyken, die ca. 13 % der Bevölkerung in Dagestan darstellen, zwar in
politischer Opposition zur Machtelite in Dagestan stehen, die von den beiden größten
Volksgruppen Awaren (27,5 %) und Darginen bzw. Dargynzen (15,6 %) gebildet wird.
Ethnische Konflikte sind daher nicht auszuschließen. Informationen über konkrete
Verfolgungsmaßnahmen durch regionale oder föderale Behörden in Anknüpfung an die
kumykische Volkszugehörigkeit sind hingegen nicht bekannt. Binnenflüchtlinge kumykischer
Volkszugehörigkeit können sich auch außerhalb Dagestans in der Russischen Föderation
registrieren lassen. Zwangsweise Rückführungen nach Dagestan erfolgen nach der
Erkenntnislage nicht. Zwar kann weiter nicht ausgeschlossen werden, dass kaukasisch
aussehende Personen in der Russischen Föderation diskriminierenden Praktiken wie
häufigen Personenkontrollen unterworfen werden. Erkenntnisse, dass derartige oder
sonstige Maßnahmen einen asylerheblichen oder i.S. d. § 60 AufenthG relevanten Umfang
erreichten, liegen nicht vor.
Kumykische Volkszugehörige können dennoch im russischen Kernland ein
Existenzminimum erwirtschaften in Abhängigkeit von Bildungsstand, beruflicher
Qualifikation, Alter, sozialem Umfeld u.a..
Diese Einschätzung über eine zumutbare Fluchtalternative für Kumyken innerhalb der
Russischen Föderation wird bestätigt durch den jüngsten
Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 15.2.2006 (Stand: Dezember 2005)
– 508-516.80/3 RUS-.
Danach haben sich im Gefolge von verstärkt seit Beginn 2005 stattfindenden
Sprengstoffanschlägen und Schießereien die allgemeinen Lebensumstände in Dagestan
verschlechtert und sind Menschenrechtsverletzungen durch dagestanische
Sicherheitskräfte zu beobachten. Dafür, dass kumykischen Volkszugehörigen aus Dagestan
nunmehr eine Wohnsitznahme außerhalb Dagestans in anderen Teilen der Russischen
Föderation nicht mehr möglich sein sollte, gibt es keine durchgreifenden Erkenntnisse.
So haben entsprechend der Verfassung alle russischen Staatsbürger das Recht der freien
Wahl des Wohnsitzes und Aufenthaltes in der Russischen Föderation. In der Praxis gibt es –
insbesondere in den Großstädten Moskau und St. Petersburg – Zuzugsbeschränkungen,
diese erfolgen nach den Aussagen des Auswärtigen Amtes im genannten Lagebericht
unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wenngleich sich Auswirkungen der
antikaukasischen Stimmung, insbesondere auf die Möglichkeit der Wohnsitznahme für
Tschetschenen in einzelnen Landesteilen feststellen lassen. Wohnsitznahmen von
Tschetschenen sind vor allem innerhalb der tschetschenischen Diaspora außerhalb
Tschetscheniens und in Südrussland möglich. Über ( gezielte ) erhebliche Schwierigkeiten
bei der Wohnsitznahme von Kumyken in anderen Landesteilen der Russischen Föderation
außerhalb Dagestans lässt sich dem genannten Lagebericht nichts entnehmen. Da sich
derartiges auch nicht aus anderen Erkenntnisquellen, insbesondere auch nicht der Presse
ergibt, ist der Senat davon überzeugt, dass kumykischen Volkszugehörigen nach wie vor
die Möglichkeit offen steht, ohne Schwierigkeiten asylerheblichen oder i.S.d. § 60 AufenthG
relevanten Ausmasses einen Wohnsitz außerhalb Dagestans in der Russischen Föderation
zu begründen und sich dort ein wirtschaftliches Existenzminimum zu sichern.
Soweit die Kläger als grundsätzlich klärungsbedürftig die Frage aufzeigen, ob „ Beteiligte
des Einfalles extremistisch dagestanisch-tschetschenischer Kämpfer in Dagestan im
August 1999 auch nach einer strafrechtlichen Ahndung weiter verfolgt werden oder in der
Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative haben“, kommt eine
Berufungszulassung wegen Grundsatzbedeutung nicht in Betracht.
Die so von den Klägern bezeichnete Frage stellt sich bereits deshalb nicht, weil sie von dem
insoweit maßgeblichen rechtlichen Ansatz des Verwaltungsgerichts her nicht
entscheidungserheblich ist
vgl. zum Beispiel Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, § 78 AsylVfG Rdnr. 16;
Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 78 Rdnr. 153, Gemeinschaftskommentar
zum AsylVfG, § 78 Rdnr. 153 m.w.N. 169; siehe etwa auch Beschluss des
Senats vom 5.5.2006 – 3 Q 22/06 -,
denn das Verwaltungsgericht hat die Kläger nicht als tatsächlich Beteiligte an diesen
Vorfällen angesehen – dies haben die Kläger auch niemals behauptetet – sondern lediglich
die ( angebliche ) mehrmonatige Festnahme des Klägers zu 1) als vermeintlichen
kämpferischen Wahabiten im Zusammenhang damit stehend vermutet. Dass dies jedoch
nicht in dem erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zu seiner Flucht aus Dagestan zu
bewerten ist, hat es aus dem Umstand abgeleitet, dass der Kläger zu 1) erst im Mai 2004
nach der (angeblich) Anfang Januar 2000 erfolgten Freilassung aus Dagestan ausgereist
ist.
Hieraus folgt zugleich, dass auch die weiter als grundsätzlich bedeutsam aufgezeigte
Frage, ob sog. Wahabiten als Gruppe verfolgt werden, nicht entscheidungserheblich ist,
denn das Verwaltungsgericht hat die wegen des nach Aussage der Kläger vor dem
Bundesamt kurzzeitigen Bekenntnisses zum Wahabitentum im Jahr 1999 erfolgte
fünfmonatige Festnahme mangels Kausalzusammenhang zur Flucht im Mai 2004 als
verfolgungsirrelevant angesehen und die Kläger wegen angeblicher weiterer kurzzeitiger
(bis zu 2 Tagen) Inhaftierungen wegen ungerechtfertigter Vorwürfe durch örtliche
Behörden auf die für Kumyken außerhalb Dagestans bestehende Fluchtalternativen
verwiesen.
Ungeachtet dessen ist darauf hinzuweisen, dass nach dem o.g. Lagebericht des
Auswärtigen Amtes, dem keine durchgreifenden gegenteiligen Erkenntnisse
entgegenstehen, eine generelle Unterdrückung von Muslimen, die in der Russischen
Föderation einen Bevölkerungsanteil von 10 bis 14 % ( 14 bis 20 Millionen ) stellen, nicht
stattfindet, wohl aber stärkere Kontrollmaßnahmen.
So werden häufig nordkaukasische Rebellen pauschal als Wahabiten bezeichnet. Außer
einer ( ständigen ) Beobachtung wahabitischer Zellen durch die Geheimdienste und als
„drastischere“ Maßnahme die Schließung von Moscheen bis auf „staatstreue“ in
bestimmten Republiken wie Karbadino-Balkarien sind dem Auswärtigen Amt ersichtlich
keine generellen Maßnahmen asylerheblicher Intensität bekannt geworden, die auf eine
landesweite Gruppenverfolgung von Wahabiten schließen lassen.
Für die erstrebte Rechtsmittelzulassung ist nach allem kein Raum.
Der Zulassungsantrag ist daher mit der Kostenfolge aus den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b
AsylVfG zurückzuweisen.
Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.
Aus vorstehendem ergibt sich demnach auch, dass die beantragte Bewilligung von
Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren mangels hinreichender
Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung zu versagen (§§ 166 VwGO, 114
ZPO) ist.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.