Urteil des OVG Rheinland-Pfalz vom 28.04.2009
OVG Koblenz: öffentliches interesse, beitragspflicht, grundstück, einmaligkeit, esa, ermessensspielraum, entstehung, veranlagung, rechtsgrundlage, vollstreckung
OVG
Koblenz
28.04.2009
6 A 11113/08.OVG
Abgabenrecht
Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
Urteil
Im Namen des Volkes
In dem Verwaltungsrechtsstreit
…
Kläger und Berufungskläger
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte Merk, Schlarb & Partner, Bosenheimer Straße 2-4, 55543
Bad Kreuznach,
gegen
die Verbandsgemeinde Sprendlingen-Gensingen, vertreten durch den Bürgermeister, Elisabethenstraße
1, 55576 Sprendlingen,
Beklagte und Berufungsbeklagte
Prozessbevollmächtigte: Meiborg Rechtsanwälte, Hindenburgplatz 3, 55118 Mainz,
wegen Wasserversorgungs- und Abwasserbeseitigungsbeitrags
hat der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in Koblenz aufgrund der mündlichen
Verhandlung vom 28. April 2009, an der teilgenommen haben
Vorsitzender Richter am Oberverwaltungsgericht Zimmer
Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Frey
Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Beuscher
ehrenamtliche Richterin Hausfrau Büchler
ehrenamtlichen Richter Landwirt Gerdon
für Recht erkannt:
Auf die Berufung des Klägers werden unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Mainz vom
22. April 2008 die Kanalbaubeitragsbescheide der Beklagten vom 7. November 2005 und die
Wasserleitungsbaubeitragsbescheide der Beklagten vom 10. November 2005 in der Gestalt der
Abhilfebescheide vom 14. Februar 2006, des Widerspruchsbescheids vom 14. Februar 2007 sowie der
Änderungsbescheide vom 13. Februar 2009 aufgehoben.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann eine Vollstreckung des Klägers
durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn
nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Heranziehung des Klägers zu einmaligen Beiträgen
für die Abwasserbeseitigung sowie die Wasserversorgung seiner in St. J… gelegenen Grundstücke Flur 1,
Parzellen …, … und … .
Diese Grundstücke entstanden im Rahmen eines Umlegungsverfahrens; sie waren zuvor Teil des
Flurstücks …, dessen frühere Eigentümerin im Jahre 1989 bereits unter Beachtung einer
Tiefenbegrenzung zu einmaligen Kanalbaubeiträgen und nach den Erklärungen der Beteiligten wohl
auch zu einmaligen Wasserversorgungsbeiträgen herangezogen worden war. In der am Flurstück …
vorbeiführenden Straße war seinerzeit eine betriebsfertige Wasserleitung verlegt, die einen Anschluss des
Grundstücks ermöglicht hätte. Die Parzellen …, … und … liegen jeweils teilweise innerhalb der im Jahre
1989 der Veranlagung zugrunde gelegten Fläche.
Nach In-Kraft-Treten des Bebauungsplans „A…“ im Jahre 2002 erließ die Beklagte die
Kanalbaubeitragsbescheide vom 7. November 2005 und die Wasserleitungsbaubeitragsbescheide vom
10. November 2005 gegenüber dem Kläger, denen sie nach Widerspruchseinlegung teilweise durch die
Bescheide vom 14. Februar 2006 abhalf. Dabei setzte die Beklagte die Grundstücksteile rechnerisch ab,
die bereits bei der Veranlagung im Jahre 1989 berücksichtigt worden waren. Im Übrigen wurden die
Widersprüche des Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 2007 zurückgewiesen. Auch
seine Klage blieb im ersten Rechtszug ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht wies sie im Wesentlichen mit
der Begründung ab, die Heranziehung zu Einmalbeiträgen hinsichtlich der Parzellen …, … und … sei
unter dem Gesichtspunkt des Ausbaus, also nicht der erstmaligen Herstellung der Entwässerungs- sowie
der Wasserversorgungseinrichtung rechtmäßig. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Einmaligkeit der
Beitragserhebung liege nicht vor, da die im Jahre 1989 nicht veranlagten Grundstücksteile erst aufgrund
der Festsetzungen des Bebauungsplans „A…“ und der Erweiterung der Ver- und
Entsorgungseinrichtungen beitragspflichtig geworden seien. Auch die Ermittlung der Beitragssätze für den
Ausbau der Einrichtungen nach den Investitionsaufwendungen für die erstmalige Herstellung der
Flächenkanalisation in einzelnen Baugebieten könne nicht beanstandet werden, da sich diese
Aufwendungen regelmäßig nicht unterschieden.
Mit seiner vom Senat zugelassenen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er hält daran fest,
dass das Flurstück … bereits im Jahre 1989 dem unbeplanten Innenbereich zuzurechnen und damit
insgesamt beitragspflichtig gewesen sei. Damit komme eine erneute Heranziehung zu Einmalbeiträgen
nicht in Betracht. Diese sei auch deshalb zu beanstanden, weil sie nicht erkennen lasse, dass ein Ausbau
der Einrichtungen abgerechnet werde. Die Erweiterung mit der erstmaligen Herstellung kalkulatorisch
gleich zu stellen, sei ebenfalls rechtswidrig.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Kanalbaubeitragsbescheide der Beklagten vom 7.
November 2005 und die Wasserleitungsbaubeitragsbescheide der Beklagten vom 10. November 2005 in
der Gestalt der Abhilfebescheide vom 14. Februar 2006, des Widerspruchsbescheids vom 14. Februar
2007 sowie der Änderungsbescheide vom 13. Februar 2009 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie tritt der Berufung des Klägers entgegen und legt im Einzelnen dar, aus welchen Gründen kein Ausbau
der Entwässerungs- sowie der Wasserversorgungseinrichtung vorliege. Nach ihrer Auffassung beruht die
Beitragserhebung auf Maßnahmen, die noch zur erstmaligen Herstellung rechnen. Um dies zu
klarzustellen, hat sie unter dem 13. Februar 2009 Änderungsbescheide erlassen. Da die veranlagten
Grundstücke im Umlegungsverfahren neu entstanden seien und die Grundstücksteile, die bereits in die
Beitragserhebung des Jahres 1989 eingeflossen seien, nicht erneut berechnet würden, liege keine
Nacherhebung vor. Soweit man dies gleichwohl annehme, habe die Beklagte wegen ihrer
Beitragserhebungspflicht nacherheben müssen, ohne insoweit einen Ermessensspielraum zu haben.
Die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten ergeben sich aus den
zur Gerichtsakte gereichten Schriftsätzen sowie den von der Beklagten vorgelegten Ver-
waltungsvorgängen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers ist begründet. Die angefochtenen Bescheide in den Fassungen, die sie durch
die Abhilfebescheide vom 14. Februar 2006, den Widerspruchsbescheid sowie die Änderungsbescheide
vom 13. Februar 2009 erhalten haben, verletzen den Kläger in seinen Rechten. Sie sind daher unter
entsprechender Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Urteils aufzuheben. Die Heranziehung des
Klägers zu einem einmaligen Entwässerungsbeitrag für die Parzellen …, … und …sowie zu einem
einmaligen Wasserversorgungsbeitrag für diese Flurstücke ist rechtswidrig.
Die Festsetzung einmaliger Entwässerungsbeiträge und einmaliger Wasserversorgungsbeiträge kann
nicht auf § 7 Abs. 2 des Kommunalabgabengesetzes vom 20. Juni 1995 - KAG 1996 - in Verbindung mit
der Satzung der Beklagten über die Erhebung von Entgelten für die öffentliche
Abwasserbeseitigungseinrichtung i.d.F. vom 20. Dezember 1999 – ESA – bzw. der Satzung der Beklagten
über die Erhebung von Entgelten für die öffentliche Wasserversorgungseinrichtung vom 1. März 1996 -
ESW - gestützt werden.
Nach §§ 1 und 2 ESA erhebt die Beklagte hinsichtlich der auf das Schmutz- und Niederschlagswasser
entfallenden Investitionsaufwendungen für die erstmalige Herstellung und die Erweiterung unter anderem
der Straßenleitungen und der Grundstücksanschlüsse im öffentlichen Verkehrsraum einmalige Beiträge.
§§ 1 und 2 ESW stellen die Rechtsgrundlage für die Erhebung einmaliger Beiträge für die der
Wasserversorgung dienenden Investitionsaufwendungen der erstmaligen Herstellung und der
Erweiterung unter anderem der Straßenleitungen (Ortsnetze) und der Grundstücksanschlüsse im
öffentlichen Verkehrsraum dar.
Nachdem die Beklagte mit Änderungsbescheiden vom 13. Februar 2009 klargestellt hat, dass sie mit den
streitgegenständlichen Bescheiden einmalige Beiträge ausschließlich für die erstmalige Herstellung, nicht
aber für eine Erweiterung der Entwässerungs- sowie der Wasserversorgungseinrichtung erhoben hat,
bedarf die im Verlauf des Verfahrens aufgeworfene Frage, ob die Voraussetzungen einer Heranziehung
des Klägers zu Einmalbeiträgen für die Erweiterung der genannten Einrichtungen vorliegen, keiner
Erörterung mehr. Denn unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt müssen die angefochtenen Bescheide
schon mangels hinreichender inhaltlicher Bestimmtheit aufgehoben werden. Hierzu gehört die Angabe,
ob der Beitrag für die erstmalige Herstellung oder den Ausbau einer bestehenden Einrichtung erhoben
wird (OVG R-P, 12 A 12730/94.OVG, ESOVGRP). Erstmalige Herstellung und Ausbau sind zwei
voneinander zu trennende unterschiedliche Maßnahmen, die jeweils eine eigenständige Beitragspflicht
auslösen können (OVG R-P, 12 A 10494/00.OVG, ESOVGRP).
Die angefochtenen Bescheide können aber auch insoweit keinen Bestand haben, als mit ihnen einmalige
Beiträge für die erstmalige Herstellung der Entwässerungs- sowie der Wasserversorgungseinrichtung
festgesetzt wurden. Denn die Heranziehung des Klägers stellt eine sogenannte Nacherhebung (1.) dar,
für die es bis zur Neuregelung des § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG durch Gesetz vom 12. Dezember 2006 – KAG
2006 - an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage fehlte (2.). Mit dem In-Kraft-Treten dieser
Neuregelung wurde der Beklagten zwar die Möglichkeit zur Nacherhebung aufgrund einer
Ermessensentscheidung eingeräumt; davon wurde jedoch kein Gebrauch gemacht (3.).
1.
Das grundsätzlich bestehende beitragsrechtliche Verbot der Nacherhebung beruht darauf, dass die
abstrakte Beitragspflicht für ein Grundstück bezogen auf eine bestimmte Herstellungs- oder
Ausbaumaßnahme nur einmal, also zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einer bestimmten Höhe,
entstehen und nur in diesem Umfang festgesetzt werden kann (sog. Prinzip der Einmaligkeit der
Beitragserhebung, vgl. OVG R-P, 6 A 10430/04.OVG, ESOVGRP). Erfolgt eine Heranziehung, ist damit der
mit der Herstellung oder dem Ausbau der Einrichtung verbundene Vorteil abgegolten (OVG R-P, 12 B
42/85, KStZ 1986, 16; OVG R-P, 12 A 10314/98.OVG, DVBl. 1998, 1237, ESOVGRP). Auch wenn eine
Beitragserhebung unterbleibt, erlischt ein entstandener Beitragsanspruch mit dem Ablauf der
Festsetzungsfrist. Das folgt aus § 169 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung – AO –. Diese Bestimmung ist
auf kommunale Abgaben entsprechend anzuwenden (§ 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG 1996, § 39 Abs. 1 Nr. 4 des
Kommunalabgabengesetzes vom 5. Mai 1986 – KAG 1986 -).
Da im Beitragsrecht – von hier nicht vorliegenden Ausnahmen abgesehen - der grundbuchrechtliche
Grundstücksbegriff maßgeblich ist (vgl. OVG R-P, 6 A 10724/06.OVG, AS 33, 327, KStZ 2006, 239,
ESOVGRP), handelt es sich bei der streitgegenständlichen Heranziehung des Klägers um eine
Nacherhebung. Denn die gegenüber der Voreigentümerin des Grundstücks Parzelle …, aus dem (auch)
die heutigen Grundstücke Parzellen …, … und …hervorgingen, durch Beitragsbescheid vom 24. Februar
1989 erfolgte Erstveranlagung betraf das gesamte Grundstück Parzelle …, auch wenn die Höhe der
Beitragspflicht unter Berücksichtigung einer satzungsrechtlichen Tiefenbegrenzung ermittelt wurde. Das
verdeutlicht die Bestimmung des § 7 Abs. 7 KAG 1996 (ebenso wie zuvor § 29 KAG 1986), wonach
Beiträge als öffentliche Last auf dem Grundstück, also auf dem gesamten der Beitragspflicht
unterliegenden Buchgrundstück, ruhen. Dass allein durch den Neuzuschnitt und die Umbenennung von
Grundstücken im Umlegungsverfahren Beitragspflichten nicht (erneut) entstehen, weil einmal entstandene
Beiträge auch nach einer Umlegung dem Teil der Erdoberfläche verhaftet bleiben, für den die
Beitragspflicht sich konkretisiert hat, ist vom Senat bereits entschieden worden (6 A 10724/06.OVG, AS 33,
327, KStZ 2006, 239, ESOVGRP). Selbst wenn man nur die innerhalb der im Jahre 1989 geltenden
Tiefengrenze liegende Fläche des Flurstücks … als erstveranlagt betrachtet, waren davon Teile eines
jedes neuen Grundstücks (Parzellen …, … und …) betroffen.
Sollte sich die Erstveranlagung des Jahres 1989 nicht auch auf die erstmalige Herstellung der
Wasserversorgungseinrichtung bezogen haben, wäre insoweit gleichwohl seinerzeit die Beitragspflicht
entstanden und mittlerweile verjährt. Denn nach § 11 Abs. 5 Satz 1 KAG 1986 hing die Entstehung des
Beitragsanspruchs von der Inbetriebnahme der Leitung ab, an die angeschlossen werden konnte. Wie
seitens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erklärt wurde, konnte die
Wasserversorgungseinrichtung schon damals in Anspruch genommen werden. Gemäß § 169 Abs. 2 Nr. 2
AO, der über § 39 Abs. 1 Nr. 4 KAG 1986 Anwendung fand, betrug die Festsetzungsfrist vier Jahre, die
nach § 170 Abs. 1 AO mit dem Ablauf des Kalenderjahres zu laufen begann, in dem die Abgabe entstand.
Die Festsetzungsverjährung ist somit spätestens zum 31. Dezember 1993 eingetreten.
2.
Die angesichts dessen mit der angefochtenen Heranziehung des Klägers erfolgte Nacherhebung war bis
zur Neuregelung des § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG 2006 unzulässig. Eine Ausnahme vom Prinzip der Einmaligkeit
der Beitragserhebung liegt nicht vor.
a) Eine (erneute) Veranlagung für die Herstellung oder den Ausbau einer öffentlichen Einrichtung ist
ausnahmsweise möglich, soweit sie von der ursprünglichen Einrichtung wesensverschieden ist.
Beispielsweise spricht man von einer nochmaligen ersten Herstellung, wenn eine bestehende,
ordnungsgemäß funktionierende Entwässerungsanlage unter Aufgabe ihrer Selbständigkeit in einer völlig
neu geplanten und verwirklichten Gesamteinrichtung aufgeht und dadurch eine derartige
Wesensveränderung erfährt, dass sie nicht mehr mit der ursprünglich vorhandenen identisch ist, was vor
allem in Betracht kommt, wenn aufgrund einer Neuplanung ein neues System geschaffen wird, das nach
Lage, räumlicher Ausdehnung und in seiner Leistungskapazität mit der bisherigen Anlage nicht mehr
vergleichbar ist (vgl. hierzu OVG R-P, 12 A 10073/97.OVG, ESOVGRP; OVG R-P, 12 A 10992/92.OVG,
ESOVGRP; OVG R -P, 8 A 10936/04.OVG; OVG R-P, 6 A 11595/06.OVG). Davon kann hier nicht die Rede
sein.
b) Das Prinzip der Einmaligkeit der Beitragserhebung wird auch dann nicht verletzt, wenn die erstmalige
Herstellung anderer Einrichtungsteile (vgl. hierzu OVG R-P, 12 A 10666/95.OVG, ESOVGRP) oder eine
andere beitragsbegründende Maßnahme (also etwa ein Ausbau nach bereits früher erfolgter erstmaliger
Herstellung) abgerechnet wird. Diese Voraussetzungen sind hier ebensowenig erfüllt.
c) Die bis zur Neuregelung des § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG 2006 gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten einer
Nacherhebung kommen als Grundlage der angefochtenen Bescheide ebenfalls nicht in Betracht.
Weder war der Beitragsbescheid vom 24. Februar 1989 hinsichtlich des Grundstücks Parzelle …
(Erstveranlagung) im Sinne des §§ 172 Abs. 1, 164, 165 AO als vorläufig oder unter dem Vorbehalt der
Nachprüfung erlassen worden, noch lagen die engen Voraussetzungen vor, unten denen gemäß § 3 Abs.
1 Nr. 4 KAG 1996 i.V.m. §§ 172 bis 177 AO eine Nacherhebung von Beiträgen zugelassen war (vgl. OVG
R-P, 6 A 286/80, AS 17, 223 <227>; OVG R-P, 6 B 10837/91.OVG, KStZ 1992, 177, ESOVGRP; OVG R-P,
6 C 11693/02.OVG; 6 A 10430/04.OVG, ESOVGRP).
Das Verbot der Nacherhebung wurde bis zum In-Kraft-Treten des KAG 2006 auch nicht durch eine
besondere (gesetzliche) Ermächtigung zur Nachveranlagung durchbrochen, wie sie beispielsweise in §
18 Abs. 5 Satz 2 KAG 1986 normiert war. Danach entstand im Falle der Erhöhung der Maßstabsdaten ein
zusätzlicher anteiliger Beitragsanspruch; gleiches galt nach § 11 Abs. 5 Satz 2 KAG 1986, wenn
nachträglich Grundstücke gebildet, Betriebe gegründet oder Anschlussmöglichkeiten geschaffen wurden.
Eine solche oder eine vergleichbare Vorschrift findet sich im KAG 1996 indessen nicht. Dementsprechend
hat der früher für das leitungsgebundene Abgabenrecht zuständige 12. Senat des
Oberverwaltungsgerichts bereits entschieden, dass es unter Geltung des KAG 1996 keine gesetzliche
Grundlage für die Schaffung eines beitragsbegründenden Tatbestands in einer kommunalen
Abgabensatzung gibt, der in Anlehnung an § 18 Abs. 5 Satz 2 KAG 1986 die grundstücksbezogene
Nachveranlagung wegen tatsächlicher oder rechtlicher Erhöhung der baulichen Nutzungsmöglichkeiten
gestatten soll (OVG R-P, 12 A 10314/98.OVG, DVBl 1998, 1237, ESOVGRP). Deshalb finden die
angefochtenen Bescheide keine Rechtsgrundlage in § 3 Abs. 3 ESA und § 3 Abs. 3 ESW, wonach
Grundstücksteile,soweit sie nicht bereits zu einmaligen Beiträgen herangezogen wurden, beitragspflichtig
sind, wenn Grundstücke nach der Entstehung des Beitragsanspruchs durch weitere nutzbare
Einrichtungsteile erschlossen werden und dadurch für qualifiziert nutzbare Grundstücksteile ein weiterer
Vorteilentsteht. In ähnlicher Weise sehen § 3 Abs. 5 ESA und § 3 Abs. 5 ESW vor, dass im Falle der
Erhöhung der Maßstabsdaten nach Entstehung der Beitragspflicht um mehr als 10 v.H. der
beitragspflichtigen Fläche die zusätzliche Fläche beitragspflichtig wird. Diesen satzungsrechtlichen
Ermächtigungen zur Nacherhebung von Beiträgen fehlt es an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage.
3.
Die Heranziehung des Klägers durch die angefochtenen Bescheide kann auch nach der Neuregelung
des § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG 2006 keinen Bestand haben. Zwar wurden damit die Bestimmungen der §§ 172
bis 177 AO von einer entsprechenden Anwendung auf Kommunalabgaben ausgenommen und die
‑
bisher durch § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d Halbs. 2 AO ausgeschlossene - Anwendbarkeit der
§§ 130, 131 AO geregelt (vgl. LT-Drucks. 15/318, S. 8). Auch wenn man diese vor Entscheidung über die
Widersprüche des Klägers in Kraft getretene Neuregelung im vorliegenden Zusammenhang für
anwendbar hält, fehlt es an einer Ermessensentscheidung der Beklagten über die Nacherhebung.
Gemäß § 131 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AO darf ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt, auch
nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft nur widerrufen
werden, wenn die Abgaben erhebende Behörde auf Grund nachträglich eingetretener Tatsachen
berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen, und wenn ohne den Widerruf das öffentliche
Interesse gefährdet würde. Der rechtmäßig erlassene Beitragsbescheid vom 24. Februar 1989, der
insoweit begünstigenden Charakter hatte, als er die beitragspflichtige Fläche unter Beschränkung auf die
satzungsmäßige Tiefenbegrenzung festsetzte, durfte zwar insoweit widerrufen werden, als nunmehr die
gesamte Fläche des früheren Flurstücks … aufgrund des nachträglich erlassenen Bebauungsplans
qualifiziert nutzbar wurde. Der Begriff Tatsache in
§ 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AO
bezeichnet nicht nur im
umgangssprachlichen Sinne etwas rein Tatsächliches, sondern auch die abgabenrechtliche Beurteilung
eines Sachverhalts (BFH, VII R 43/07, juris). Die Beklagte hätte einen Verzicht auf den Teilwiderruf auch
als eine Gefährdung des öffentlichen Interesses betrachten dürfen. Dies ist regelmäßig schon dann der
Fall, wenn bei einem Festhalten an der früheren Entscheidung der Begünstigte gegenüber anderen
Abgabenpflichtigen bevorzugt würde; denn es besteht ein öffentliches Interesse an der Gleichmäßigkeit
der Abgabenerhebung (vgl. BFH, VII R 41/03, juris).
Allerdings durfte nur aufgrund einer fehlerfreien Ermessensausübung über einen Teilwiderruf entschieden
werden. Eine solche Entscheidung ist indessen nicht getroffen worden. Zwischen dem öffentlichen
Interesse an der Abänderung der begünstigenden Regelungen und dem Interesse des Begünstigten an
der Aufrechterhaltung dieser Regelungen war nach pflichtgemäßem Ermessen abzuwägen (vgl. BayVGH,
6 B 94.2489, juris). Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn der Ermessensspielraum auf eine
einzige rechtmäßige Entscheidung, nämlich die der Nacherhebung, geschrumpft wäre. Von einer solchen
Verengung des Ermessensspielraums, wie sie beispielsweise im Zusammenhang mit der Änderung von
Subventionsgewährungen wegen der haushaltsrechtlichen Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und
Sparsamkeit (vgl.
BVerwG, 3 C 22.02
, NVwZ-RR 2004, 413, juris;
BVerwG, 3 C 22.96
,
BVerwGE 105, 55
[57 f.]) regelmäßig vorliegt, kann hier jedoch nicht gesprochen werden. Ermessenserwägungen im
Rahmen des Erlasses des Widerspruchsbescheids, als die Neuregelung des § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG 2006
bereits in Kraft war, erübrigten sich auch nicht mit Rücksicht auf die Beitragserhebungspflicht der
Beklagten. § 94 Abs. 2 Satz 1 der Gemeindeordnung – GemO – normiert keine Beitragserhebungspflicht
schlechthin. Vielmehr bestimmt § 94 Abs. 2 Satz 1 GemO, dass die Gemeinde die zur Erfüllung ihrer
Aufgaben erforderlichen Einnahmen - soweit vertretbar und geboten - aus Entgelten für ihre Leistungen,
im Übrigen aus Steuern zu beschaffen hat, soweit die sonstigen Einnahmen nicht ausreichen. Dies
bedeutet, dass die Beitragserhebung im Rahmen der Vorschriften des Kommunalabgabenrechts erfolgt
und dabei gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG 2006 i.V.m. §§ 130, 131 AO Ermessen auszuüben ist (vgl. auch
OVG R-P, 6 A 10430/04.OVG, ESOVGRP). Eine Ermessensreduzierung auf Null kann schließlich nicht
allein deshalb angenommen werden, weil die Flächenanteile der Parzellen …, … und …, die sich
innerhalb der im Jahre 1989 geltenden Tiefenbegrenzung befinden, in die den angefochtenen
Bescheiden zugrunde liegenden Berechnungen nicht eingeflossen und nur die „bisher nicht veranlagten
Restflächen“ berücksichtigt wurden. Dieser Umstand macht eine Beachtung der Interessen des Klägers im
Rahmen einer Ermessensentscheidung über die Nacherhebung nicht entbehrlich. Vielmehr belegt er,
dass die innerhalb der seinerzeitigen Tiefenbegrenzung liegenden Teile der Grundstücke Parzellen …, …
und … schon damals als Bauland anzusehen waren, das zudem bereits über den Vorteil verfügte, den
eine Abwasserbeseitigungs- und auch eine Wasserversorgungseinrichtung vermitteln und der darin
besteht, dass ein qualifiziert nutzbares Grundstück an die betriebsfertige Ver- und Entsorgungseinrichtung
angeschlossen werden kann. Durch die Vergrößerung der qualifiziert nutzbaren Flächenanteile der
Parzellen …, … und … hat sich diese beitragsrechtlich maßgebliche Vorteilssituation nicht zwingend in
entsprechendem Umfang erhöht.
War der Ermessensspielraum mithin nicht auf Null geschrumpft, sind die angefochtenen Bescheide schon
deshalb fehlerhaft, weil nicht wenigstens der Widerspruchsbescheid als Ermessensentscheidung
getroffen wurde (vgl. BFH, I R 35/98, juris; OVG M-V, 2 L 218/06, juris). In einem solchen Fall können
Ermessenserwägungen im gerichtlichen Verfahren auch nicht gemäß
§ 114 Satz 2 VwGO
ergänzt werden.
Denn diese Regelung gestattet nicht, das Ermessen erstmals auszuüben oder die Gründe einer
Ermessensausübung (gänzlich oder inhaltlich) auszuwechseln (vgl.
BVerwG, 6 B 133/98
,
NJW 1999,
2912
).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711
ZPO.
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, bestehen nicht.
Rechtsmittelbelehrung
…
gez. Zimmer gez. Dr. Frey gez. Dr. Beuscher
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Verfahren im zweiten Rechtszug auf 11.581,88 €
festgesetzt (§§ 47, 52 Abs. 3 GKG).
gez. Zimmer gez. Dr. Frey gez. Dr. Beuscher