Urteil des OVG Rheinland-Pfalz vom 02.04.2009
OVG Koblenz: wirtschaftliche tätigkeit, arbeitssuche, berufliche tätigkeit, aufenthalt, angemessener zeitraum, verfügung, unionsbürger, rente, einkünfte, estland
OVG
Koblenz
02.04.2009
7 A 11053/08.OVG
Ausländerrecht
Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
Urteil
Im Namen des Volkes
In dem Verwaltungsrechtsstreit
der Frau T.,
Klägerin und Berufungsklägerin
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte Eisenträger & Dauch, Dieselstraße 2, 67269 Grünstadt,
gegen
die Stadt Frankenthal (Pfalz), vertreten durch den Oberbürgermeister, Rathausplatz 2-7, 67227
Frankenthal,
Beklagte und Berufungsbeklagte
wegen Aufenthaltsrechts
hat der 7. Senat des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in Koblenz aufgrund der mündlichen
Verhandlung vom 2. April 2009, an der teilgenommen haben
Vorsitzende Richterin am Oberverwaltungsgericht Wünsch
Richter am Oberverwaltungsgericht Wolff
Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Stahnecker
ehrenamtliche Richterin Hotelier Kauth
ehrenamtlicher Richter Kaufmann Schäfer
für Recht erkannt:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 24.
April 2008 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die 1951 geborene Klägerin, eine estnische Staatsangehörige, wendet sich gegen die Feststellung des
Verlustes ihres Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik Deutschland.
Sie besitzt einen Hochschulabschluss als Ingenieur-Chemikerin und arbeitete in Estland vor ihrer
Ausreise als Lehrerin für Chemie. Im September 2004 war sie für rund zwei Wochen zu Besuch bei
Bekannten in Deutschland und lernte dabei ihren jetzigen Lebensgefährten, Herrn L., kennen. Nach ihrer
Rückkehr nach Estland reiste sie im März 2005 ins Bundesgebiet ein und zog mit Herrn L. zusammen.
Als von ihr angegebener Zweck des Aufenthalts ist in der Akte der Ausländerbehörde der Beklagten (vgl.
Bl. 1) "Arbeitssuche" vermerkt. Daraufhin stellte die Beklagte ihr unter dem 28. April 2005 eine
Bescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU aus, wonach sie nach Maßgabe dieses Gesetzes zu
Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt sei.
Mit Bescheid vom 23. November 2005 wurden Herrn L. und der Klägerin - als Mitglied der
Bedarfsgemeinschaft - Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit von Januar bis Juni
2006 bewilligt. Entsprechende Leistungen sowie Hilfe zum Lebensunterhalt erhielt sie auch in der
Folgezeit.
Nachdem die Beklagte von dem Sozialleistungsbezug Kenntnis erlangt und der Klägerin Gelegenheit zur
Stellungnahme zu der beabsichtigten Verlustfeststellung gegeben hatte, stellte sie mit Bescheid vom 25.
April 2006 fest, dass die Klägerin das Recht auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik
Deutschland verloren habe. Zugleich forderte sie sie auf, das Bundesgebiet spätestens mit Rechtskraft der
Verfügung zu verlassen, und drohte ihr die Abschiebung nach Estland an. Die Klägerin habe ausreichend
Gelegenheit gehabt, sich um eine Arbeitsstelle zu bemühen. In der Regel komme höchstens ein Zeitraum
von sechs Monaten zur Arbeitssuche in Betracht. Sie sei seit März 2005 ohne Beschäftigung und bestreite
ihren Lebensunterhalt aus öffentlichen Mitteln. Mit Verfügung vom 12. Juni 2007 änderte die Beklagte
ihren Bescheid dahin gehend ab, dass sie die Frist zur Ausreise auf einen Monat nach Rechtskraft des
Bescheides vom 25. April 2006 festsetzte. Außerdem stellte sie klar, dass ein Einreiseverbot nicht bestehe.
Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein und erklärte in der Sitzung des Stadtrechtsausschusses des
Beklagten am 13. Juni 2007, sie beabsichtige, sich selbständig zu machen. Am gleichen Tage meldete sie
ein Gewerbe "Reinigung nach Hausfrauenart" an. Der Stadtrechtsausschuss wies ihren Widerspruch mit
Widerspruchsbescheid vom 22. Oktober 2007 zurück.
Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, seit November 2007 übe sie das
von ihr angemeldete Gewerbe aus. Sie habe aus ihrer selbständigen Reinigungstätigkeit bis Ende 2007
Einnahmen in Höhe von insgesamt 214,00 € und von Januar bis März 2008 in Höhe von 150,00 €,
175,00 € und 100,00 € erzielt. Außerdem beziehe sie eine estnische Rente, die sich ab April 2007 auf
umgerechnet rund 164,00 € monatlich belaufe.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 24. April 2008 abgewiesen und zur Begründung
ausgeführt, eine dauernde selbständige wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des Niederlassungsrechts,
welche zur Freizügigkeit berechtige, könne in der von der Klägerin stundenweise verrichteten
Reinigungstätigkeit, die auch nur zu einem geringen Verdienst führe, nicht gesehen werden. Eine
ernstzunehmende Gewinnerzielungsabsicht der Klägerin sei nicht erkennbar.
Mit der vom Senat zugelassenen Berufung macht die Klägerin im Wesentlichen geltend: Nachdem sie
krankheitsbedingt im April und Mai 2008 keine Einkünfte habe erzielen können, habe sie nunmehr die
Einnahmen aus ihrer Reinigungstätigkeit deutlich steigern können, und zwar in der Zeit von Juni bis
Oktober 2008 auf 420,00 €, 429,00 €, 434,00 €, 381,00 € und 435,00 € monatlich. Im November 2008
habe sie 194,00 € verdient. Sie sei in diesem Monat nach Estland gefahren, um ihren todkranken
Ehemann, von dem sie nicht geschieden gewesen sei, auf dessen Wunsch zu pflegen. Nach seinem Tod
sei sie am 26. Februar 2009 nach Deutschland zurückgekehrt und habe ihre Reinigungstätigkeit wieder
aufgenommen. Ihre estnische Rente sei mittlerweile auf rund 242 € monatlich erhöht worden. Der Grund
für ihre Einreise in die Bundesrepublik sei Herr L. gewesen. Sie habe gegenüber der Ausländerbehörde
als Aufenthaltszweck nicht angegeben, sich hier zur Arbeitssuche zu befinden.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 24. April 2008
den Bescheid der Beklagten vom 25. April 2006 in der Fassung der Verfügung vom 12. Juni 2007 und in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Stadtrechtsausschusses der Beklagten vom 22. Oktober
2007 aufzuheben.
Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil und beantragt,
Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil und beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Hinsichtlich der Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 2. April 2009 im Einzelnen wird
auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und
Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die vorlegten Behördenakten verwiesen, deren
Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist unbegründet.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 25. April
2006 in der Fassung der Verfügung vom 12. Juni 2007 und der hierzu ergangene Widerspruchsbescheid
sind rechtmäßig.
Rechtsgrundlage der von der Beklagten verfügten Verlustfeststellung ist § 5 Abs. 5 des Gesetzes über die
Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU) ‑ FreizügG/EU ‑. Danach kann der Verlust des
Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2
Abs. 1 innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen
sind. Nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre
Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes. Der Begriff
"entfallen" in § 5 Abs. 5 FreizügG/EU legt zwar nahe, dass die Verlustfeststellung nur erfolgen kann, wenn
das Recht auf Einreise und Aufenthalt ursprünglich bestanden hat und später entfallen ist. Die Vorschrift
ist aber - zumindest entsprechend ‑ auch bei Unionsbürgern anzuwenden, deren
Freizügigkeitsberechtigung von vornherein nicht bestanden hat. Dafür spricht nicht nur, dass die
Feststellung des Nichtbestehens dieses Rechts in § 11 Abs. 2 und § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erwähnt
wird, das Gesetz also selbst von der Möglichkeit einer derartigen Feststellung ausgeht, ohne diese indes
näher zu regeln. Es ist auch sachgerecht und entspricht dem Rechtschutzinteresse des Betroffenen, wenn
die Frage seiner Freizügigkeitsberechtigung im Verfahren der Verlustfeststellung geklärt werden kann
(vgl. Epe, in: GK-AufenthG, Stand April 2008, § 5 FreizügG/EU Rn. 53).
Die Voraussetzungen für eine solche Verlustfeststellung liegen vor. Die Klägerin ist weder als
Arbeitnehmerin (1.) noch als niedergelassene selbständige Erwerbstätige (2.) noch als nichterwerbstätige
Unionsbürgerin (3.) gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt. Da seit ihrer Einreise ins
Bundesgebiet im Jahr 2005 keine fünf Jahre vergangen sind, kann die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 5
FreizügG/EU noch getroffen werden.
1. Gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU Unionsbürger,
die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen. Diese
Arbeitnehmerfreizügigkeit wird durch Art. 39 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft -
EGV - gewährleistet. Sie schließt die Arbeitssuche mit ein. Denn sie gibt den Arbeitnehmern das Recht,
sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben und sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten frei zu bewegen (vgl. Art. 39 Abs. 3a und b EGV).
Die praktische Wirksamkeit dieses Rechts ist dabei nur gewahrt, wenn dem Betroffenen ein
angemessener Zeitraum eingeräumt wird, um im Aufnahmemitgliedstaat von Stellenangeboten, die
seinen beruflichen Qualifikationen entsprechen, Kenntnis nehmen und sich gegebenenfalls bewerben zu
können. Das Gemeinschaftsrecht verwehrt es einem Mitgliedstaat nicht, den Aufenthalt eines
Stellensuchenden aus einem anderen Mitgliedstaat zu begrenzen, wenn er nach sechs Monaten keine
Stelle gefunden hat, sofern er nicht nachweist, dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg
Arbeit sucht (vgl. EuGH, InfAuslR 1991, 151 - Antonissen -).
Die Klägerin ist nicht als Arbeitnehmerin freizügigkeitsberechtigt. Sie hält sich insbesondere auch nicht zur
Arbeitssuche im Bundesgebiet auf. Dies folgt nicht nur aus dem Umstand, dass die Klägerin seit ihrer
Einreise im März 2005 und damit seit rund vier Jahren keine Arbeitsstelle - als unselbständig Beschäftigte
- gefunden hat. Es kommt hinzu, dass sie, wie sie in der mündlichen Verhandlung selbst bestätigt hat,
nicht "zur Arbeitssuche" - wie in der Akte der Ausländerbehörde vermerkt - nach Deutschland gekommen
ist, sondern um mit Herrn L., ihrem Lebensgefährten, zusammenzuleben. Sie behauptet selbst nicht, sich
jemals um eine solche Arbeitsstelle bemüht zu haben oder sich derzeit darum zu bemühen. Für sie
bestand daher von Anfang an keine Arbeitnehmerfreizügigkeit. Auf den Umstand, dass Staatsangehörige
Estlands derzeit zudem nur eine eingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit genießen (vgl. Epe, a.a.O., §
13 FreizügG/EU Rn. 9 ff.), kommt es demnach nicht mehr an.
2. Gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU auch
Unionsbürger, wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind
(niedergelassene selbständige Erwerbstätige). Diese Freizügigkeit zur Ausübung einer selbständigen
Erwerbstätigkeit folgt aus der durch Art. 43 EGV gewährleisteten Niederlassungsfreiheit, hinsichtlich derer
für Staatsangehörige Estlands keine Beschränkungen bestehen (vgl. Epe, a.a.O., § 13 FreizügG/EU Rn.
7).
Der gemeinschaftsrechtliche Begriff der Niederlassung bezieht sich auf eine selbständige wirtschaftliche
Tätigkeit, die - in Abgrenzung zur Erbringung von Dienstleistungen i.S.v. Art. 49 f. EGV - nicht nur
vorübergehend, sondern auf grundsätzlich unbestimmte Zeit im Aufnahmemitgliedstaat ausgeübt werden
soll. Da die Klägerin sich dauerhaft in Deutschland aufhalten will, kommt eine gemeinschaftsrechtliche
Freizügigkeitsberechtigung allein im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) und nicht auf
die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EGV) in Betracht.
Die Art der ausgeübten Tätigkeit ist zwar grundsätzlich unerheblich. Es muss sich aber um eine
wirtschaftlich relevante Tätigkeit handeln, weshalb völlig untergeordnete, unwesentliche Tätigkeiten nicht
genügen. Der erforderliche Wille zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit verlangt zudem eine
ernstzunehmende Gewinnerzielungsabsicht (vgl. Epe, a.a.O., § 2 FreizügG/EU Rn. 74; Hailbronner,
Ausländerrecht, Stand: Oktober 2007, § 2 FreizügG/EU Rn. 44).
An einer ernstzunehmenden Gewinnerzielungsabsicht fehlt es hier. Die Klägerin hat ihre
Reinigungstätigkeit vielmehr allein unter dem Druck des vorliegenden Verlustfeststellungsverfahrens
aufgenommen und würde sie nach Überzeugung des Senats alsbald wieder beenden, wenn dieser Druck
nach Aufhebung des angefochtenen Bescheides nicht mehr bestünde.
Hierfür spricht das gesamte bisherige Verhalten der Klägerin seit ihrer Einreise ins Bundesgebiet:
Die Klägerin ist nach ihren eigenen Angaben nicht "zur Arbeitssuche" nach Deutschland gekommen,
sondern um mit Herrn L., ihrem Lebensgefährten, den sie bei einem Besuchsaufenthalt im September
2004 in Deutschland kennengelernt hatte, zusammenzuleben, wie oben bereits erwähnt. Über eine
berufliche Tätigkeit hatte sie sich ihren Angaben zufolge bei ihrer Einreise keine Gedanken gemacht.
Sie nahm nach ihrer Einreise im März 2005 bis zum Juni 2007 und damit für einen Zeitraum von über zwei
Jahren weder eine unselbständige noch eine selbständige Tätigkeit auf. Erst im Rahmen des
Widerspruchsverfahrens meldete sie am Tag der Sitzung des Stadtrechtsausschusses - am 13. Juni 2007
- eine Reinigungstätigkeit als Gewerbe an. Wie sie in der mündlichen Verhandlung selbst eingeräumt hat,
erfolgte diese Gewerbeanmeldung, nachdem sie von einer Mitarbeiterin der Ausländerbehörde auf die
Notwendigkeit eigener Einkünfte hingewiesen worden war.
Nach der tatsächlichen Aufnahme ihrer Reinigungstätigkeit im November 2007 erzielte sie hieraus
Einkünfte bis zum Jahresende in Höhe von 214,00 € und in der Zeit von Januar bis März 2008 in Höhe
von 150,00 €, 175,00 € und 100,00 € monatlich. Erst nach der Abweisung ihrer Klage durch das
Verwaltungsgericht mit Urteil vom 24. April 2008 steigerte sie ihre Einnahmen auf über 400,00 € monat-
lich.
Auch Lebensalter und Vorbildung der Klägerin sprechen dafür, dass sie lediglich unter dem Druck des
laufenden Verlustfeststellungsverfahrens eine Reinigungstätigkeit aufgenommen hat. Die Klägerin ist
1951 geboren, sie war bei ihrer Einreise mithin 54 Jahre und bei Aufnahme ihrer Tätigkeit im Jahre 2007
bereits 56 Jahre alt. Außerdem besitzt sie einen in der Ukraine erworbenen Hochschulabschluss als
Ingenieur-Chemikerin und hat in Estland vor ihrer Ausreise als Lehrerin für Chemie gearbeitet. Die von ihr
aufgenommen Reinigungstätigkeit erfordert jedoch weder den von ihr erworbenen noch einen sonstigen
Bildungsabschluss.
3. Gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 schließlich auch nicht
erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU. Danach haben nicht
erwerbstätige Unionsbürger das Recht nach § 2 Abs. 1 - auf Einreise und Aufenthalt -, wenn sie über
ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Diese Freizügig-
keitsberechtigung folgt aus Art. 18 EGV i.V.m. Art. 7 Abs. 1b der Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004.
Die Voraussetzungen dieses Rechts liegen nicht vor.
Die Klägerin verfügt lediglich über eine geringfügige estnische Rente in Höhe von zuletzt 242,00 €
monatlich. Allein für ihre Krankenversicherung muss sie jedoch monatlich 218,67 € aufwenden. Sie hat
auch von Januar 2006 bis zumindest Sommer 2008, dem Zeitpunkt der Steigerung ihrer Einkünfte aus der
Reinigungstätigkeit auf über 400,00 € monatlich, Sozialleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
bezogen.
Zwar hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung erstmals angegeben, sie habe bei ihrer Einreise mit
der Unterstützung ihrer Tochter gerechnet. Diese helfe ihr bis heute mit Geldleistungen bei Bedarf. Die
Tochter unterstütze sie seit ihrer Einreise mit etwa 500,00 € monatlich. Deren Mann, der Autohändler sei,
befinde sich oft in Deutschland und bringe ihr dann das Geld mit. Der Betrag, der Herrn L. zur Verfügung
gestanden habe und den sie mit Rente und Unterstützung ihrer Tochter gehabt habe, habe für sie und
Herrn L. zum Leben ausgereicht.
Dieses Vorbringen rechtfertigt aber nicht die Annahme, dass die Klägerin über ausreichende
Existenzmittel verfügt. Hiergegen spricht schon der genannte langfristige Bezug von Sozialleistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts. Die Angaben der Klägerin sind außerdem insofern vage, als sie
einerseits eine finanzielle Unterstützung "bei Bedarf" und andererseits eine Unterstützung "mit etwa
500,00 € monatlich" erwähnt. Daraus lässt sich nicht schließen, dass sie unabhängig von ihrem Bedarf
regelmäßig jeden Monat eine Unterstützung von 500,00 € erhält. Die Klägerin hat - wie sich aus dem
Zusammenhang ihrer Äußerung ergibt - auch nur erklärt, dass das Geld, das Herrn L. und ihr bei ihrer
Einreise zur Verfügung gestanden habe, ihnen beiden gereicht habe. Dass das ihnen zur Verfügung
stehende Geld auch noch nach dem Bezug von Sozialleistungen ab Januar 2006 an sich, das heißt ohne
die empfangenen Sozialleistungen, gereicht hätte und auch künftig - ohne die Einkünfte aus ihrer
Reinigungstätigkeit und ohne Sozialleistungen - ausreichen werde, um ihren Lebensunterhalt
einschließlich Krankenversicherungsschutz zu sichern, hat sie hingegen selbst nicht geltend gemacht.
Sollten ihre Tochter oder Herr L. allerdings künftig die Klägerin regelmäßig ‑ und nachprüfbar - in einem
Umfang finanziell unterstützen, dass sie über ausreichende Existenzmittel einschließlich
Krankenversicherungsschutz im Bundesgebiet verfügt, wäre sie auch als nichterwerbstätige
Unionsbürgerin gemeinschafts-rechtlich freizügigkeitsberechtigt und hätte mithin ein Recht auf Einreise
und Aufenthalt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten beruht auf § 167
VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10 ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.
Rechtsmittelbelehrung
gez. Wünsch gez. Wolff gez. Dr. Stahnecker
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Berufungsverfahren auf 5.000,00 € festgesetzt (§§ 47, 52
Abs. 3 GKG).
gez. Wünsch gez. Wolff gez. Dr. Stahnecker