Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 06.07.2004

OVG NRW: politische verfolgung, irak, staatliche verfolgung, wahrscheinlichkeit, abschiebung, blutrache, drohende gefahr, ausreise, gefährdung, asyl

Oberverwaltungsgericht NRW, 9 A 1406/02.A
Datum:
06.07.2004
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
9 A 1406/02.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 1 K 628/00.A
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden, zu je 1/8.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige
Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in
entsprechender Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e :
1
I.
2
Die am bzw. in T. geborenen Kläger zu 1. und 2. und ihre zwischen 1990 und 1998
ebenfalls in T. geborenen Kinder, die Kläger zu 3. bis 8., sind irakische
Staatsangehörige kurdischer Volks- und yezidischer Religionszugehörigkeit. Sie reisten
am 7. November 1999 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und
stellten zwei Tage später Asylanträge. Bei der Anhörung vor dem Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab der Kläger zu
1. zur Begründung an: 1988 habe er sich während seines Militärdienstes mit einem
Araber angefreundet. Dieser sei vier Tage vor seiner Ausreise mit einer weiteren
Person, die er als seinen Bruder ausgegeben habe, zu ihm gekommen und habe ihn
gebeten, die andere Person über die Grenze nach Syrien zu bringen, weil diese als
Oppositioneller erkannt worden sei. Da sein Freund ihm 1997 nach einer schlechten
3
Ernte geholfen habe, Futter für seine Tiere zu bekommen, habe er ihm die Bitte nicht
abschlagen können. Er habe die Person dann in die Nähe der Grenze gebracht und dort
einem Glaubensbruder übergeben. Bei dem Versuch, die Grenze zu überschreiten,
seien sie von einer irakischen Streife festgenommen worden. Einer der Begleiter des
Arabers habe fliehen können und ihm gesagt, bei der Festnahme habe man ihn als
Kontakthersteller benannt. Daraufhin habe er fluchtartig das Land verlassen. Nach
Kurdistan habe er nicht gehen können, weil sein Bruder Mitglied der Sondereinheit
gewesen sei. Er habe dort etwas angestellt und sei seither verschwunden. Bei einer
Rückkehr befürchte er, für 20 Jahre inhaftiert oder sogar hingerichtet zu werden. Die
Kläger zu 2. bis 8. erklärten, sie seien ihrem Mann/Vater gefolgt, und machten eigene
Asylgründe nicht geltend. Wegen der Einzelheiten der Angaben wird auf das
Anhörungsprotokoll vom 10. November 1999 Bezug genommen.
Mit Bescheid vom 24. Januar 2000 lehnte das Bundesamt die Anträge auf
Asylanerkennung ab (Nr. 1 des Bescheides) und stellte fest, dass die Voraussetzungen
des § 51 Abs. 1 AuslG (Nr. 2 des Bescheides) sowie Abschiebungshindernisse nach §
53 AuslG (Nr. 3 des Bescheides) nicht vorlägen; ferner forderte es die Kläger zur
Ausreise innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheides auf und drohte für
den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung in den Irak (Sicherheitszone des Nordirak)
an (Nr. 4 des Bescheides).
4
Mit der rechtzeitig erhobenen Klage haben die Kläger vorgetragen, ein jüngerer Bruder
des Klägers zu 1. sei kurz nach dem Aufstand von 1991 gezwungen worden, der
Geheimdiensteinheit Abu Firaz Al Hamadani beizutreten. Diese habe die Aufgabe
gehabt, im Nordirak Erkundigungen einzuziehen und an die Zentralregierung
weiterzuleiten sowie die Grenze zu bewachen. Nach etwa drei Jahren sei er im Nordirak
von Kurden festgenommen und als Verräter hingerichtet worden. Der Name sei deshalb
im kurdischen Autonomiegebiet bekannt, so dass er, der Kläger zu 1., nicht dorthin
gehen dürfe, ohne als Bruder dieses "Verräters" mit äußerstem Misstrauen behandelt zu
werden.
5
Die Kläger haben beantragt,
6
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 24. Januar 2000 zu
verpflichten festzustellen, dass bei ihnen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG,
hilfsweise Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG gegeben sind.
7
Die Beklagte hat die Klageabweisung beantragt.
8
Das Verwaltungsgericht hat der Klage durch das angefochtene Urteil mit dem
Hauptantrag stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kläger hätten wegen
der vom Kläger zu 1. glaubhaft geschilderten Umstände im Zusammenhang mit dem
missglückten Fluchtversuch einer Person, an dem dieser beteiligt gewesen sei, bei
einer Rückkehr in den Irak mit politischer Verfolgung zu rechnen. Eine Fluchtalternative
in den kurdischen Autonomiegebieten im Nordirak sei zu verneinen. Wegen der
Begründung im Einzelnen wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils
Bezug genommen.
9
Hiergegen wendet sich der Beteiligte mit der zugelassenen Berufung. Zu deren
Begründung bezieht er sich auf die Urteile des beschließenden Gerichts vom 19. Juli
2002 - 9 A 4596/01.A - und - 9 A 1346/02.A - sowie vom 14. August 2003 - 20 A
10
430/02.A -, nach denen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG für die Kläger nicht
vorlägen.
Der Beteiligte beantragt,
11
das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
12
Die Kläger und die Beklagte stellen keine Anträge.
13
Die Kläger tragen unter Bezugnahme auf ihr bisheriges Vorbringen ergänzend vor: Auch
wenn derzeit keine Übergriffe von den gegenwärtigen de-facto-Autoritäten, der Koalition
der Besatzungsmächte, auf Personen yezidischen Glaubens zu erwarten seien,
verhindere dies nicht Übergriffe seitens der real existierenden nicht staatlichen Gruppen,
insbesondere durch Angehörige anderer Volks- bzw. Religionsgemeinschaften oder die
ehemaligen regierenden Mitglieder bzw. regimetreuen Personen. So sei beispielsweise
das Oberhaupt der Yeziden im November 2003 nur knapp einem Anschlag entgangen.
Personen yezidischen Glaubens seien seit langer Zeit erheblichen Verfolgungen und
auch heute noch lebensgefährlichen Situationen ausgesetzt. Hinzu komme die sich
weiter verschärfende Situation im Irak mit z.T. bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Eine
individuelle Gefährdung ergebe zudem sich aus der Geheimdiensttätigkeit des Bruders
des Klägers zu 1. Insoweit hätten sie, insbesondere der Kläger zu 1., Blutrache zu
befürchten. Die Klägerin zu 2. leide überdies unter einer chronischen rezidiven
Blasenentzündung und einer Stenosierung der Ateria subclavia. Diese Erkrankung
erfordere wegen der permanenten Behandlungsbedürftigkeit ihren weiteren Verbleib in
der Bundesrepublik Deutschland.
14
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird ergänzend Bezug genommen
auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der
Erkenntnisse, die im Anhörungsschreiben des Gerichts vom 7. Juni 2004 näher
bezeichnet worden sind.
15
II.
16
Der Senat kann gemäß § 130 a Satz 1 VwGO über die Berufung durch Beschluss
entscheiden, weil er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht
für erforderlich hält. Die Beteiligten sind hierzu gemäß §§ 130 a Satz 2, 125 Abs. 2 Satz
3 VwGO gehört worden.
17
Sie sind durch Anhörungsschreiben vom 7. Juni 2004 auf die Rechtsprechung des
beschließenden Gerichts zum Fehlen der Voraussetzungen für eine politische
Verfolgung im Irak und einer die Anerkennung von Abschiebungshindernissen wegen
allgemeiner Gefahren rechtfertigenden Lage in den kurdischen Autonomiegebieten
sowie die im Einzelnen bezeichneten diesbezüglichen Erkenntnisse hingewiesen
worden. Des weiteren sind die Kläger aufgefordert worden, die zur Stützung ihrer
Begehren dienenden Tatsachen und/oder Unterlagen vorzutragen bzw. einzureichen
sowie gegebenenfalls darauf bezogene Beweismittel zu bezeichnen.
18
Die zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung ist begründet.
19
Die Klage ist entgegen dem angegriffenen Urteil abzuweisen. Die Kläger haben gegen
die Beklagte im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1
20
Satz 1 AsylVfG) weder einen Anspruch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz
nach § 51 Abs. 1 AuslG (1.) noch auf die - hilfsweise begehrte - Zuerkennung von
Abschiebungshindernissen gemäß § 53 AuslG (2.). Die entsprechenden Ablehnungen
in dem Bescheid des Bundesamtes vom 24. Januar 2000 (Nrn. 2 bis 3 des Bescheides)
sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1
VwGO).
1. Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG liegen für die Kläger nicht vor.
21
Nach § 51 Abs. 1 AuslG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in
dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit,
seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner
politischen Überzeugung bedroht ist. Die Voraussetzungen dieser Norm sind
deckungsgleich mit denjenigen des Asylanspruchs aus Art. 16 a Abs. 1 GG, soweit es
die Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut und den politischen Charakter der
Verfolgung betrifft,
22
vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1992 - 9 C 59.91 -, DVBl. 1992, 843,
23
so dass dazu auf die zum Asylgrundrecht ergangene Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts, zurückgegriffen werden kann.
24
Bei der Prüfung der Frage, ob die Kläger die Schutzgewährung nach § 51 Abs. 1 AuslG
beanspruchen können, ist danach zunächst wesentlich, ob sie vor Verlassen ihres
Heimatlandes politische Verfolgung erlitten haben bzw. ihnen solche unmittelbar drohte
und ob ihnen ein Ausweichen innerhalb des Heimatstaates unzumutbar war. War dies
der Fall, kann ihnen Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG grundsätzlich nur
dann versagt werden, wenn eine Wiederholung von Verfolgungs-maßnahmen mit
hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist (herabgestufter Prognosemaßstab). Dies
gilt allerdings nur dann, wenn zwischen der vor der Ausreise erlittenen bzw.
bevorgestandenen Verfolgung und der geltend gemachten Gefahr erneuter Verfolgung
ein innerer Zusammenhang dergestalt besteht, dass bei Rückkehr mit einem
Wiederaufleben der ursprünglichen Verfolgung zu rechnen ist oder nach den gesamten
Umständen typischerweise das erhöhte Risiko der Wiederholung einer gleichartigen
Verfolgung besteht. Fehlt es an diesem inneren Zusammenhang - etwa weil ein
mittlerweile im Heimatstaat an die Macht gelangtes neues Regime den Betroffenen aus
anderen Gründen als dessen Opposition zum abgelösten Regime verfolgen würde -,
gelangt im Hinblick auf die nunmehr befürchtete andersartige Verfolgung der
gewöhnliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zur Anwendung. Bezogen
auf derartige (neue) Verfolgungsgefahren stellt sich das Abschie-bungsschutzbegehren
ebenso wie generell im Falle der Ausreise ohne Vorverfolgung nur dann als begründet
dar, wenn solche Gefahren dem Betreffenden mit beachtlicher, d.h. überwiegender
Wahrscheinlichkeit in der Heimat drohen.
25
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. März 1998 - 9 B 757.97 - sowie Urteile vom 18.
Februar 1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97 ff.; vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -, InfAuslR
1995, 24 (26) und vom 26. Oktober 1993 - 9 C 50.92 -, NVwZ 1994, 500 (503).
26
In Anwendung dieser Grundsätze haben die Kläger keinen Anspruch auf die
Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG.
27
Dabei kann offen bleiben, ob die Kläger verfolgt aus ihrer Heimat ausgereist sind.
Derzeit und für die unmittelbare Zukunft ist jedenfalls eine landesweite politische
Verfolgung der Kläger im Irak mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen, so dass für
diesen Zeitraum selbst bei Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabs die
Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht in
Betracht kommt (a). Soweit über den vorgenannten Zeitrahmen hinaus die weitere
Entwicklung im Irak in den Blick genommen wird, kann das Wiederaufleben einer - im
ausgeführten Sinne - im inneren Zusammenhang mit den geltend gemachten früheren
Repressalien stehenden Verfolgung der Kläger gleichfalls ausgeschlossen werden.
Ferner sind keine Anhaltspunkte für eine dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
drohende sonstige politische Verfolgung der Kläger ersichtlich (b).
28
a) Derzeit und für die unmittelbare nächste Zukunft ist eine politische Verfolgung der
Kläger in ihrem Heimatstaat, insbesondere in ihrem Herkunftsgebiet, ausgeschlossen.
Dies folgt schon ganz grundsätzlich daraus, dass dort die für eine jede politischen
Verfolgung notwendige Grundlage, nämlich eine Staatsgewalt, (noch) nicht gegeben ist.
29
Politische Verfolgung ist entgegen der Auffassung der Kläger grundsätzlich staatliche
Verfolgung. Kennzeichnend für eine solche ist, dass die (wie auch immer geartete)
Verfolgung im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Gestaltung und die
Eigenart der allgemeinen Ordnung des Zusammenlebens von Menschen und
Menschengruppen steht, mithin - im Unterschied etwa zur rein privaten Verfolgung -
einen öffentlichen Bezug hat, und von einem Träger überlegener, in der Regel
hoheitlicher Macht ausgeht, der der Schutzsuchende unterworfen ist. Dabei werden dem
Staat staatsähnliche Organisationen gleichgestellt, die den jeweiligen Staat verdrängt
haben oder denen dieser das Feld überlassen hat und die ihn daher insoweit ersetzen.
30
BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315, 333
ff.
31
Damit einhergehend ist maßgeblich für die Bewertung einer Maßnahme als politische
Verfolgung, dass der Schutzsuchende einerseits in ein übergreifendes, das
Zusammenleben in der konkreten Gemeinschaft durch Befehl und Zwang ordnendes
Herrschaftsgefüge eingebunden ist, welches den ihm Unterworfenen in der Regel
Schutz gewährt, andererseits aber wegen asylerheblicher Merkmale von diesem Schutz
ausgenommen und durch gezielt zugefügte Rechtsverletzungen aus der konkreten
Gemeinschaft ausgeschlossen ist. Folglich kann nach dem Fortfall einer bisherigen
Staatsgewalt von einer neuen Macht als staatliche bzw. staatsähnliche Gewalt nur dann
politische Verfolgung ausgehen, wenn diese Macht zumindest in einem
"Kernterritorium" ein solches Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität - im Sinne einer
"übergreifenden Friedensordnung" - tatsächlich errichtet hat.
32
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. August 2000 - 2 BvR 260/98 -, NVwZ 2000, 1165 ff.
33
Derzeit besteht indes (noch) keine irakische Staatsmacht bzw. sie ersetzende staats-
ähnliche Organisation, die in ordnungsrechtlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher
Hinsicht eine Friedensordnung insbesondere im Herkunftsgebiet der Kläger
durchsetzen und erhalten könnte: Das bisherige Regime Saddam Husseins hat seine
politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die am 20. März 2003
begonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren.
34
Auswärtiges Amt (AA), Ad-hoc-Information zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage
im Irak vom 30. April 2003 sowie Ad-hoc-Bericht über die asyl- und
abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 7. Mai 2004.
35
Eine neue Regierung oder sonstige irakische Herrschaftsmacht staatsähnlicher Art mit
der Fähigkeit zur Schaffung und Aufrechterhaltung einer übergreifenden
Friedensordnung im dargelegten Sinne ist noch nicht vorhanden. Zwar ist mittlerweile
als Nachfolgerin des von der Übergangsbehörde der Koalition (Coalition Provisional
Authority - CPA) eingesetzten provisorischen Regierungsrates am 1. Juni 2004 eine
neue irakische Übergangsregierung gebildet worden, der am 28. Juni 2004 die volle
Souveränität über- bzw. zurückgegeben worden ist. Daraus folgt aber nicht, dass die
Übergangsregierung und die ihr untergeordneten irakischen Stellen bereits jetzt als
Staatsgewalt im oben ausgeführten Sinne bewertet werden können. Der irakischen
Übergangsregierung fehlen derzeit und in unmittelbarer Zukunft noch die insofern
befähigten eigenen Einrichtungen bzw. Stellen, um die von ihr gewünschte Form der
staatlichen Friedensordnung zu schaffen und durchzusetzen. Insbesondere die auch
aus ihrer Sicht unabdingbaren Stützen einer souveränen Regierung, nämlich eine
starke Armee und eine hinreichend ausgebildete sowie ausgestattete Polizei, die an
Stelle diverser lokaler, nach eigenen Motiven handelnder Milizen tritt, muss und will die
Übergangsregierung erst noch aufbauen.
36
Vgl. NZZ Online vom 1. Juni 2004, Irakische Regierung mit politischem Profil.
37
Die unter dem besagten Aspekt noch fehlende Staatsgewalt der irakischen
Übergangsregierung wird zudem dadurch ganz nachhaltig bestätigt, dass der irakische
Außenminister Zebari vor dem Sicherheitsrat - wie allgemein bekannt - erklärt hat, zu
einem nach der oben erwähnten Resolution möglichen Verlangen auf vorzeitigen Abzug
der multinationalen Truppen werde es nicht kommen, da ansonsten ein Chaos zu
befürchten sei und die Gefahr eines Bürgerkrieges drohe. Hieraus wird deutlich, dass im
jetzigen Stadium die multinationalen Truppen - wie auch in der oben erwähnten
Resolution vorgesehen - letztlich die einzigen zur Machtdurchsetzung im Bereich der
inneren Sicherheit befähigten Einrichtungen sind. Diese sind jedoch nicht dem Befehl
der irakischen Übergangsregierung unterstellt. Die Übergangsregierung soll nach den
der Resolution beigefügten Briefen des irakischen Regierungschefs und des
amerikanischen Außenministers vielmehr lediglich in einer partnerschaftlichen Weise
an der Kommandierung bzw. dem Einsatz der internationalen Streitkräfte beteiligt
werden, wobei angesichts der Kräfteverhältnisse nahe liegt, dass in Zweifels-fällen das
Letztentscheidungsrecht von den Amerikanern beansprucht werden wird.
38
Ähnliches gilt für sonstige Stellen oder Behörden, die zur Schaffung, Aufrechterhaltung
und Durchsetzung einer staatlichen Friedensordnung regelmäßig erforderlich sind.
Dass die irakische Übergangsregierung anders als im vorstehend erörterten Bereich der
inneren und äußeren Sicherheit in sonstigen Bereichen des gesellschaftlichen
Zusammenlebens bereits derzeit oder kurzfristig bevorstehend über hinreichende
sachliche und personelle Mittel zur Umsetzung einer staatlichen Friedensordnung
verfügen könnte, lässt sich den vorliegenden Erkenntnissen und Auskünften nicht
entnehmen. Vielmehr ist auch insofern davon auszugehen, dass der Aufbau der
erforderlichen Verwaltungsstrukturen bis auf weiteres unter maßgeblicher Beteiligung
der zivilen Stellen der Koalition erst noch erfolgen muss.
39
Vgl. AA vom 7. Mai 2004, a.a.O.
40
Weiter tritt hinzu, dass die irakische Übergangsregierung momentan noch nicht in
hinreichendem Umfang auf die für ein staatliches Tätigwerden zumindest in den
Kernbereichen erforderlichen selbst kontrollierten Finanzierungsquellen zurückgreifen
kann. Denn Steuern werden seit Kriegsausbruch von den Irakern nicht mehr gezahlt und
das Ölgeschäft als sonstige maßgebliche Einnahmequelle soll nach der oben
angesprochenen Resolution zunächst weiter unter internationaler Kontrolle bleiben.
41
Vgl. zu den fehlenden Steuereinnahmen: FAZ vom 22. März 2004, Der Wiederaufbau
kommt nur langsam voran.
42
Auch bei einer Gesamtschau der nunmehr gegebenen irakischen Regierungs- bzw.
Verwaltungsstellen und der amerikanischen bzw. alliierten Verwaltungs- /Militärein-
richtungen ist momentan noch keine staatliche oder staatsähnliche Gewalt
anzunehmen, von der eine politische Verfolgung ausgehen könnte. Denn damit ist auch
in ihrer Verbindung jedenfalls noch nicht das nach dem oben Gesagten notwendige
Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität im Sinne der erwähnten übergreifenden
Friedensordnung entstanden. Ein durch Befehl und Zwang geordnetes System des
Zusammenlebens, das durch die besagten Stellen nötigenfalls auch durchgesetzt und
dem Einzelnen eine entsprechende Schutzgewährung bei Auseinandersetzungen
vermitteln würde, ist derzeit noch nicht festzustellen. So fehlt es mit Blick auf den
ordnungsrechtlichen Bereich etwa an Anhaltspunkten dafür, dass kriminelle Delikte, die
nach dem Sturz Saddam Husseins sprunghaft angestiegen sind und mancherorts außer
Kontrolle geraten sind,
43
vgl. AA vom 7. Mai 2004, a.a.O.,
44
von Seiten der eingesetzten irakischen oder sonstigen Stellen in einer für die Annahme
einer staatlichen Friedensordnung erforderlichen Weise zumindest regelmäßig
geahndet würden. Zudem kommt es überwiegend im Zentralirak nach wie vor zu
terroristischen Anschlägen auf die Militär-/Sicherheitskräfte, internationale
Organisationen und sonstige missliebige Personen,
45
vgl. auch dazu AA vom 7. Mai 2004, a.a.O.,
46
auf die die Besatzungskräfte - wie allgemein bekannt - mittlerweile mit militärisch-
kriegerischen Mitteln reagieren müssen, ohne aber durchgängig verlässlichen Schutz
für Leben, Freiheit und Eigentum der irakischen Bürger bieten zu können. Bei einer
solchen Situation liegt regelmäßig eine staatliche Friedensordnung (noch) nicht vor.
47
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989, a.a.O., S. 341.
48
Ebenso wenig lässt sich den vorliegenden Erkenntnissen entnehmen, dass in sonstigen
Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, insbesondere etwa auf dem
wirtschaftlichen oder sozialen Sektor, von den erwähnten Stellen in ihrer jeweiligen
Verbindung ein mittels Befehl und Zwang praktiziertes Ordnungs- und Schutzsystem
geschaffen worden ist oder aufrecht erhalten wird. Nach dem Sturz Saddam Husseins
"funktionierte" die irakische Gesellschaft insofern im wesentlichen auf der Basis lokaler
Sozialstrukturen unter dem Einfluss traditioneller Autoritäten familiärer oder religiöser
Prägung.
49
Vgl. dazu schon: Mündliches Gutachten des Sachverständigen Uwe Brocks vom
Deutschen Orient- Institut gemäß der Sitzungsniederschrift vom 14. August 2003 im
Verfahren OVG NRW - 20 A 430/02.A -.
50
Dass sich diese Situation zwischenzeitlich in relevanter Weise geändert haben könnte,
ergibt sich aus den aktuellen Erkenntnissen und Auskünften nicht.
51
Unabhängig von dem Vorstehenden ist eine politische Verfolgung der Kläger aber
selbst dann ausgeschlossen, wenn anzunehmen wäre, die Übergangsregierung und
ihre nachgeordneten irakischen Stellen übten, ggfs. in Verbindung mit den
internationalen Kräften, eine staatliche oder zumindest staatsähnliche Gewalt aus. Es
liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass die Kläger (unmittelbar) von diesen
Stellen ausgehende Verfolgungsübergriffe befürchten müssten. Etwas Anderes ergibt
sich auch nicht aus dem von ihnen erwähnten Artikel in der irakischen Tageszeitung Al-
Taakhi vom 10. März 2004. Diesem lässt sich auch nicht ansatzweise etwas dafür
entnehmen, dass offizielle Stellen in den berichteten angeblichen Vergiftungsanschlag
verwickelt gewesen sein könnten.
52
Die Kläger behaupten vielmehr, ihnen als Yeziden drohten Übergriffe durch Moslems.
Hiervor würden bzw. könnten sie die besagten Stellen nicht schützen mit der Folge,
dass es sich bei diesen Übergriffen um eine dem Staat zurechenbare mittelbare
politische Verfolgung handele. Die letztgenannte Schlussfolgerung ist indes
unzutreffend. Zwar kommen auch Maßnahmen Dritter als mittelbare politische
Verfolgung in Betracht, sofern sie dem Staat zurechenbar sind. Eine solche
Zurechenbarkeit ist aber nur dann gegeben, wenn der Staat zur Schutzgewährung
entweder nicht bereit ist oder wenn er sich nicht in der Lage sieht, die ihm an sich
verfügbaren Mittel im konkreten Fall gegenüber Verfolgungsmaßnahmen bestimmter
Dritter, etwa des staatstragenden Klerus, einzusetzen. Umgekehrt fehlt es an der
Zurechenbarkeit, wenn die Schutzgewährung die Kräfte eines konkreten Staates
übersteigt; jenseits der ihm an sich zur Verfügung stehenden Mittel endet seine
asylrechtliche Verantwortlichkeit. In diesem Sinne verlangt die mittelbare staatliche
Verfolgung ebenso wie eine solche unmittelbarer Art, dass eine Anknüpfung des
staatlichen Verhaltens - hier der Untätigkeit gegenüber Dritten - an asylerhebliche
Merkmale besteht.
53
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989, a.a.O., S. 335, 336.
54
Dass die vorstehenden Voraussetzungen mit Blick auf die behauptete Untätigkeit
irakischer Stellen und der internationalen Kräfte hinsichtlich eventueller
Verfolgungsmaßnahmen moslemischer Fundamentalisten gegenüber Yeziden erfüllt
sein könnten, ist nicht ersichtlich. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass ein
solches Verhalten seine Ursache in einer fehlenden Bereitschaft zur Schutzgewährung
finden oder aber aus Gründen einer - wie auch immer motivierten - Rücksicht auf die
erwähnten moslemischen Gruppierungen erfolgen könnte. Vielmehr sind die Militär-
/Sicherheitskräfte kaum zu einem ausreichenden Eigenschutz gegenüber den sie
angreifenden terroristischen Gruppen in der Lage, befinden sich mithin also in einer
Situation, in denen die verlangte dauernde Schutzgewährung für Zivilpersonen ihre
derzeitigen Handlungsmöglichkeiten übersteigt. Entsprechendes gilt erst Recht für die
eingesetzten irakischen Stellen, die noch über keine ausreichenden eigenen Ordnungs-
oder Sicherheitskräfte mit genügender Ausbildung und Ausstattung verfügen. Damit
einhergehend ist - zumal angesichts der Zielsetzung des internationalen Eingreifens im
55
Irak, das u.a. der Wiederherstellung demokratischer und rechtmäßiger Zustände dienen
soll - auch nicht erkennbar, dass die behauptete Untätigkeit ihrer objektiven
Gerichtetheit nach an asylerhebliche Merkmale anknüpfen könnte.
b) Aber auch dann, wenn man über den vorstehend behandelten Zeitrahmen der
Gegenwart und unmittelbaren Zukunft hinaus die weitere Entwicklung im Irak - nach
Herausbildung einer den maßgeblichen Anforderungen entsprechenden irakischen
Staatsgewalt - in den Blick nimmt, kommt eine Anerkennung der Kläger als
Abschiebungsschutzberechtigte nicht in Betracht.
56
Das Vorbringen der Kläger zu einer Verfolgung wegen der Mithilfe des Klägers zu 1. an
der letztlich gescheiterten Flucht eines Offiziers des irakischen Militärs nach Syrien bzw.
wegen ihrer Religionszugehörigkeit gibt nach der derzeit möglichen Prognose auch bei
Einstellen noch bestehender Ungewissheiten für die Gefahr entsprechender künftiger,
relevanter Übergriffe nichts her. Vor einer politischen Verfolgung aus Gründen der
genannten Art sind die Kläger auch nach Wiederentstehen einer irakischen
Staatsgewalt hinreichend sicher. Es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die
Kläger bei einer Rückkehr in den Irak in Anknüpfung an die behauptete frühere
Verfolgung von Seiten einer neu etablierten Staatsgewalt keine erheblichen Übergriffe
zu besorgen hätten; die Gefahr einer Wiederholung darauf gegründeter Nachstellungen
ist vielmehr mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen. Dasselbe gilt - falls das
Erfordernis hinreichender Sicherheit überhaupt auf Nachfluchtgründe zu erstrecken ist -
für eine früher teilweise angenommene Gefährdung im Falle der Rückkehr wegen der
Stellung eines Asylantrags und des ungenehmigten Auslandsaufenthaltes. Denn ein
sich künftig herausbildendes neues irakisches Regime wird keine Ähnlichkeit mit dem
früheren Regime haben und aus jener Zeit stammende Anknüpfungspunkte für
Übergriffe gegen Einzelne sind allenfalls im Sinne von Racheakten gegen Unterstützer
des damaligen Regimes - was auf die Kläger gerade nicht zutrifft - denkbar. Diese
Überzeugung des Gerichts gründet sich auf die Einschätzung, dass es im Irak nicht
wieder zu einer Ballung der Macht bei einer der Volksgruppen kommen wird, zumal
nicht in der Hand der nur eine Minderheit darstellenden Gruppe der Sunniten, in der das
Regime Saddam Husseins vor allem verankert war, oder aber in der Hand radikaler
Schiiten. Eine solche Entwicklung wird durch die im Irak sowohl von den
Koalitionskräften unter Führung der USA als auch von der UNO angestrebte
Ausbalancierung der Macht zwischen den Volksgruppen ausgeschlossen, mit der
gerade verhindert werden soll, dass es zu einer Machtausübung allein aus Gründen des
Machterhalts einer bestimmten Gruppe, wie beim Regime Saddam Husseins, kommt.
57
Vgl. so schon: Mündliches Gutachten Uwe Brocks, a.a.O. und speziell für das Konzept
der UNO: NZZ Online vom 1. Juni 2004, Irakische Regierung mit politischem Profil.
58
Dem entsprechend und die vorgenannte Bewertung bestätigend sind sowohl der
ehemalige provisorische Regierungsrat wie auch die jetzige Übergangsregierung unter
breiter Einbeziehung der relevanten Gruppen des Iraks gebildet worden.
59
Vgl. AA vom 7. Mai 2004, a.a.O. und NZZ Online vom 1. Juni 2004, Irakische Regierung
mit politischem Profil.
60
Damit fehlt die Grundlage für Reaktionen auf Verhaltensweisen, die - wie die von den
Klägern geltend gemachte Fluchthilfe des Klägers zu 1. - tatsächlich oder
möglicherweise als Infragestellen des Machtanspruchs einer herrschenden Clique
61
gewertet wurden bzw. werden konnten. Gerade das Fehlen einer die künftige
Entwicklung möglicherweise in dieselbe Richtung treibenden ideologischen Basis des
früheren Regimes, das sich letztlich in der bloßen Wahrung seiner Machtpositionen
erschöpfte, lässt es ausgeschlossen erscheinen, dass es nach der Zerschlagung eben
dieses Machtapparates zur Herausbildung einer Struktur kommt, die eine vom
bisherigen Regime gesehene Gegnerschaft als solche übernimmt und erneut
(wiederholend) verfolgt.
Aus den vorgenannten Gründen spricht auch nichts dafür, sondern stellt es sich
ebenfalls als mit hinreichender Sicherheit auszuschließend dar, dass eine unmittelbare
oder zumindest mittelbare staatliche Verfolgung der Kläger durch eine zukünftige
irakische Staatsmacht in Anknüpfung an deren yezidische Religionszugehörigkeit
erfolgt; ein staatliche Verfolgungsübergriffe auslösendes Konfliktpotenzial allein aus
derartigen ethnischen/religiösen Gründen ist weiterhin nicht anzunehmen.
62
Vgl. so schon: Mündliches Gutachten Uwe Brocks, a.a.O., das sich auf alle ethnischen
Gruppen bezieht.
63
Aus dem erwähnten Zeitungsartikel vom 10. März 2004 lässt sich keine gegenteilige
Bewertung herleiten, wie bereits in anderem Zusammenhang dargelegt worden ist.
64
Dass den Klägern wegen sonstiger Umstände mit der hierfür nach den oben gezeigten
Grundsätzen erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungsübergriffe
durch eine künftige irakische Staatsgewalt drohen könnten, ist nicht ersichtlich.
65
2. Die Kläger besitzen ferner keinen Anspruch auf die Feststellung von
Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG.
66
Die Abschiebungsschutztatbestände des § 53 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4 AuslG erfordern
jeweils eine konkret-individuell drohende Gefahr durch einen Staat oder eine
staatsähnliche Organisation. Daran fehlt es hier schon deshalb, weil nach den oben
gemachten Ausführungen derzeit im Irak keine Staatsgewalt bzw. staatsähnliche Gewalt
existiert und nichts dafür ersichtlich ist, dass von künftigen staatlichen oder
staatsähnlichen irakischen Stellen konkrete Gefahren für die Kläger mit der
erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgehen könnten.
67
Den Klägern drohen bei Rückkehr ebenso wenig landesweite Gefahren, die ein
Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG begründen könnten. Hiernach
kann von der Abschiebung des Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden,
wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder
Freiheit besteht, und zwar unabhängig davon, ob diese vom Staat ausgeht oder ihm
zuzurechnen ist. Für die Annahme einer "konkreten" Gefahr genügt nicht die
theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die genannten Rechtsgüter zu werden.
Vielmehr ist erforderlich, dass eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und
erhebliche Gefährdungssituation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit
besteht.
68
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. Mai 1999 - 9 A 4671/98.A -.
69
Nach diesem Maßstab scheidet die Zuerkennung eines Abschiebungshindernisses
i.S.v. § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG für die Kläger aus. Denn eine individuelle, konkret auf
70
die Kläger zielende Bedrohung ist für diese zumindest seit dem Ende des 3. Golfkrieges
und der danach im Aufbau befindlichen politischen Neuordnung nicht mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit ersichtlich. Hinweise auf eine derartige individuell mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit gegebene Bedrohung lassen sich nicht dem erwähnten
Zeitungsartikel entnehmen. Der Artikel stellt nur Vermutungen über eine allgemeine
Bedrohung der yezidischen Bevölkerung durch terroristische Anschläge, etwa in Form
der Trinkwasservergiftung, in der betroffenen Region an. Ebenso wenig lassen sich aus
dem - fehlgeschlagenen - Anschlag auf das Oberhaupt der Yeziden Mir Tahsin Saied
am 11. September 2003 mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Rückschlüsse auf eine
konkrete Gefährdung einfacher Angehöriger der yezidischen Religion wie der Kläger
ziehen.
Eine Gefährdung der Kläger im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG kann auch nicht
deshalb angenommen werden, weil sie nach ihrem Vortrag wegen der Tätigkeit des
Bruders des Klägers zu 1. bei der Einheit Abu Firaz Al Hamadani Blutrache zu
befürchten hätten. Entsprechende Maßnahmen sind jedenfalls nicht - wie erforderlich -
mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Offenbar haben die Kläger das bis vor
Kurzem auch noch so gesehen. Denn die Furcht vor Blutrache wird erstmals im
Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Kläger vom 28. Juni 2004 geäußert, obwohl
die Tätigkeit des Bruders des Klägers zu 1. bereits bei der Anhörung vor dem
Bundesamt erwähnt worden ist. Damals hat der Kläger zu 1. nur ganz allgemein davon
gesprochen, wegen des Bruders nicht nach Kurdistan gehen zu können. In der
mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat er diese Aussage dahin
erläutert, er werde im kurdischen Autonomiegebiet als Bruder eines "Verräters" mit
äußerstem Misstrauen behandelt werden. Selbst im Schriftsatz der
Prozessbevollmächtigten der Kläger vom 18. Dezember 2003 war nur die Rede davon,
dass die Kläger dort als Verwandte unerwünscht seien und erheblichen Repressalien
ihrer Glaubensbrüder ausgesetzt wären, insbesondere keine Unterstützung durch diese
erfahren würden, so dass ihre Existenz gefährdet wäre. Welche Umstände neu
eingetreten sind, die nunmehr ihre geänderte Beurteilung der Lage rechtfertigen
könnten, haben die Kläger nicht weiter dargelegt. Hinzu kommt, dass die Aktivitäten des
Bruders ohnehin nur sehr pauschal dahin umschrieben worden sind, dieser habe als
Mitglied der Sondereinheiten etwas angestellt und sei seitdem verschwunden (so vor
dem Bundesamt), die Aufgabe seiner Einheit sei es gewesen, im Nordirak
Erkundigungen einzuziehen und an die Zentralregierung weiterzuleiten sowie die
Grenze zu bewachen (so vor dem Verwaltungsgericht). Diesen Angaben lassen sich
keine hinreichend genauen und dem Bruder des Klägers zu 1. zurechenbaren Taten
entnehmen, die nach dem Inhalt der von den Klägern überreichten Stellungnahme von
Hajo/Savelsberg vom 21. Januar 2004 überhaupt Auslöser für eine Blutrachetat werden
könnten. Ferner entfällt für die Kläger eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, Blutrache
ausgesetzt zu sein, auch deshalb, weil nach ihrem eigenen Vortrag der Bruder des
Klägers zu 1. als der die Blutrache auslösende Täter bereits selbst als Verräter
hingerichtet worden ist und damit die im Sinne der Blutrache erforderliche Vergeltung
schon geübt worden sein dürfte. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Bruder des
Klägers zu 1. nur bis etwa 1994 für die Sondereinheit tätig gewesen sein soll. Wären die
Kläger ernsthaft wegen dessen Tätigkeit gefährdet gewesen, so ist nicht
nachzuvollziehen, weshalb sie bis zu ihrer Ausreise noch mindestens fünf Jahre von
Blutrache unbehelligt im Irak leben konnten. Angesichts der vorstehenden
Ausführungen besteht kein Anlass, die von den Klägern beantragte Einholung eines
Sachverständigengutachtens zur Frage einer den Klägern evtl. im Irak drohenden
Blutrache vorzunehmen, zumal mangels näherer Konkretisierung der Beweisfrage in
71
dem Begehren nur eine bloße Ermittlungsanregung liegt, nicht aber ein echter
Beweisantrag.
Ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG folgt auch nicht aus dem
für die Klägerin zu 2. vorgelegten ärztlichen Attest. Die Kläger zu 1. und 3. bis 8. können
für sich daraus mangels eigener Erkrankung ohnehin nichts ableiten. Aus den
bescheinigten Krankheiten kann aber auch für die Klägerin zu 2. nichts hergeleitet
werden. Das Attest ist insoweit nicht hinreichend aussagekräftig. Eine akute Erkrankung
ist ihm nicht zu entnehmen. Die Blasenentzündung wird als chronisch bezeichnet, die
wieder auftreten kann. Die Stenosierung beschreibt einen Zustand der Arterie, nämlich
eine Verengung, die als solche nichts über den Grad der daraus folgenden Gefährdung
aussagt. Darüber hinaus wird in dem Attest lediglich festgehalten, dass wegen der
aufgeführten Krankheiten eine ständige Behandlung erforderlich sein soll. Das Attest
lässt aber weder erkennen, welcher Art die Behandlung sein soll, noch, welche Folgen
eine unterbleibende Behandlung zeitigen würde, insbesondere dass ohne Behandlung
der Tod oder schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen bei der Klägerin zu 2. einträten.
Auch die aus der Behandlungsbedürftigkeit gezogene eher weich formulierte
Schlussfolgerung, dass die Klägerin zu 2. für weitere drei Monate in Deutschland
verbleiben "sollte", spricht dagegen, dass aus medizinischer Sicht ein weiterer
Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland zur Verhinderung von Gefahren im Sinne
von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG notwendig ist, mag dieser auch wünschenswert sein. Das
gilt umso mehr, als es auch im Irak eine - wenn auch zur Zeit noch eingeschränkte -
medizinische Versorgung gibt.
72
Ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 6 AuslG lässt sich gleichfalls nicht aus der
schwierigen Sicherheits- und/oder Versorgungslage im Irak herleiten. Dies gilt auch
unter Berücksichtigung von stattfindenden Terroranschlägen, bestehenden
Kriminalitätsgefahren oder Versorgungsengpässen. Damit in Zusammenhang stehende
Gefahren unterfallen als allgemeine, jedermann betreffende Gefährdungen an sich der
Sperrklausel des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG. Mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2
Satz 1 GG ist der Rückgriff auf § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bei einer allgemeinen Gefahr
lediglich dann nicht gesperrt, wenn im Zielstaat der Abschiebung eine extreme
Gefahrenlage besteht, bei der eine Abschiebung den Einzelnen gleichsam sehenden
Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde.
73
Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324.
74
Da die Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG aber nur durchbrochen werden darf,
um eine mit Verfassungsrecht unvereinbare Abschiebung zu verhindern, scheidet die
Durchbrechung selbst bei Vorliegen einer extremen Gefahrenlage dann aus, wenn
gleichwertiger Schutz vor Abschiebung anderweitig durch eine Einzelfallregelung oder
einen Erlass vermittelt wird.
75
Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, DVBl. 2001, 1531.
76
Gemessen daran haben die Kläger keinen Anspruch auf Feststellung von
Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, weil einerseits eine extreme
Gefahrenlage im Irak nicht vorliegt und andererseits - selbst wenn eine solche vorläge -
durch die bestehende Erlasslage in NRW hinreichender Schutz vor Abschiebung
gewährt wird.
77
Obwohl nach den dem Senat vorliegenden aktuellen Erkenntnissen in Teilen des Iraks
die Sicherheitslage sehr instabil ist und auch die Versorgung der Zivilbevölkerung mit
Nahrung und Trinkwasser regional zeitweise unzureichend funktioniert, kann nicht
davon ausgegangen werden, dass Rückkehrer gleichsam sehenden Auges dem
sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würden.
78
Von ausgedehnten Kampfhandlungen zwischen den Besatzungskräften und irakischen
Aufständischen wird in den letzten Monaten nicht mehr berichtet. Terroristische
Anschläge treffen hauptsächlich Menschen in zentralirakischen Städten; Teilregionen
im kurdisch geprägten Norden sowie schiitisch geprägten Süden gelten hingegen als
weitgehend befriedet. Ziel der Anschläge sind oftmals die Besatzungsmächte oder die
neue irakische Polizei. Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Anschläge auch Tote
und Verletzte unter der Zivilbevölkerung verursacht haben. Angesichts einer irakischen
Bevölkerung von über 24 Millionen Menschen und den demgegenüber stehenden
Zahlen ziviler Kriminalitäts- und Terroropfer,
79
vgl. die Darstellung der schwersten Terroranschläge im Ad-hoc-Bericht über die asyl-
und abschiebungsrelevante Lage im Irak (Stand: April 2004) des Auswaärtigen Amtes
vom 7. Mai 2004,
80
wird aber der erforderliche erhöhte Wahrscheinlichkeitsgrad,
81
vgl. zu diesem Maßstab: BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 5.01 -, DVBl. 2001,
1772, 1775,
82
der für die Annahme einer ein Abschiebungshindernis im zuvor beschriebenen Sinne
stützenden Gefahrenlage erforderlich ist, nicht erreicht.
83
Im Ergebnis ebenso: OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 26. Februar 2004 - 8 A
10334/04.OVG - AuAS 2004, 119.
84
Dass die Kläger aufgrund von Problemen im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen
Lage konkreten, bei einer Rückkehr hochgradigen Existenzgefährdungen ausgesetzt
wären, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Zwar wird die Versorgungslage als angespannt
bezeichnet, die Hilfslieferungen des "Oil for Food"- Programms wurden nach
kriegsbedingt kurzfristiger Einstellung aber wieder aufgenommen und die Fortführung
entsprechender humanitärer Hilfe ist auch in Zukunft weiterhin beabsichtigt.
85
Vgl. AA vom 7. Mai 2004, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante
Lage im Irak (Stand: April 2004).
86
Vor dem Hintergrund der stetig fortschreitenden Aufbauarbeit im Irak durch die
Mitarbeiter der CPA, der aus 38 Staaten in den Irak entsandten Polizei- und Militärkräfte
sowie der Vielzahl nichtstaatlicher Hilfsorganisationen,
87
vgl. nur NZZ vom 25. Mai 2004, „Das Internationale Rote Kreuz trotzt im Irak der Gefahr",
88
und nach Auswertung der dem Gericht vorliegenden aktuellen Erkenntnisse aus der
allgemein zugänglichen Presse gelangt der Senat zur Überzeugung, dass Rückkehrer
in den Irak derzeit nicht befürchten müssen, dort aufgrund mangelnder humanitärer
Versorgung mit hoher Wahrscheinlichkeit existentiellen Gefährdungen ausgesetzt zu
89
sein.
Vgl. im Ergebnis ebenso: Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 30. März 2004 - 9 LB
5/03 - .
90
Unabhängig vom zuvor Dargestellten scheidet die Zuerkennung von
Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Auslegung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG
aber auch wegen eines bestehenden anderweitigen Schutzes vor Abschiebung aus.
Der erkennende Senat folgt insoweit der Rechtsprechung des 20. Senats des
Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, nach der irakischen
Staatsangehörigen auch deswegen kein Abschiebungsschutz in verfassungskonformer
Auslegung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG gewährt werden kann, weil diese Personen
aufgrund der bestehenden nordrhein-westfälischen Erlasslage in einer den
Anforderungen des § 54 AuslG entsprechenden Weise vor einer Abschiebung geschützt
sind.
91
Vgl. unter Auswertung der Erlasslage und erläuternder Schriftstücke: OVG NRW,
Beschluss vom 13. Mai 2004 - 20 A 1206/02.A -.
92
Ein Abschiebungshindernis im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG lässt sich
schließlich nicht aus einer Unmöglichkeit der Abschiebung oder freiwilligen Ausreise in
den Irak herleiten. Abgesehen davon, dass die kurdischen Autonomiegebiete nach wie
vor von Privatpersonen vom Iran aus und auch über die türkische Grenze erreicht
werden können sowie Bagdad beispielsweise von Jordanien aus auf dem Landwege
erreichbar ist,
93
vgl. AA vom 7. Mai 2004, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante
Lage im Irak (Stand:April 2004),
94
begründete selbst eine bestehende Unmöglichkeit der Abschiebung bzw. Einreise in
den Heimatstaat nur ein vorübergehendes Vollstreckungshindernis nach § 55 Abs. 2, 4
AuslG, nicht aber ein Abschiebungshindernis.
95
Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 1997 - 9 C 38.96 -, DVBl. 1997, 1384 ff.
96
Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sind nicht zu beanstanden. Sie
entsprechen den im angefochtenen Bescheid zitierten gesetzlichen Vorgaben
97
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1 VwGO, § 100 ZPO, § 83 b
AsylVfG; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO,
§§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
98
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.
99