Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 05.04.2006
OVG NRW: afghanistan, gefahr, unhcr, gefährdung des lebens, zahl, flüchtlingshilfe, pakistan, sicherheit, diabetes mellitus, europa
Oberverwaltungsgericht NRW, 20 A 5161/04.A
Datum:
05.04.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
20. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
20 A 5161/04.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 5a K 6261/99.A
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens, soweit darüber noch nicht
abschließend befunden ist.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Die 1965 bzw. 1966 geborenen Kläger sind afghanische Staatsangehörige
hinduistischen Glaubens. Ihr 1994 angebrachtes Asylbegehren hatte beim Bundesamt
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) Erfolg, jedoch wurde der
anerkennende Bescheid in einem vom Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten
betriebenen Klageverfahren aufgehoben. Im Anschluss daran wurde mit Bescheid des
Bundesamtes vom 10. November 1999 auch die Feststellung des Vorliegens von
Abschiebungshindernissen abgelehnt. In dem daraufhin eingeleiteten Klageverfahren
hat das Verwaltungsgericht unter Abweisung der Klage im Übrigen die Beklagte
verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägern Abschiebungshindernisse hinsichtlich
Afghanistan gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vorliegen, weil sie bei einer Rückkehr
keine aufnahme- und hilfsbereiten Freunde oder Verwandte finden könnten und deshalb
in eine extreme Gefahrenlage gerieten.
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Beide Parteien haben daraufhin beantragt, die Berufung zuzulassen. Der Senat hat den
Antrag der Kläger abgelehnt und auf den Antrag der Beklagten hin die Berufung
zugelassen, zu der diese vorträgt, die Gefahren, die das Verwaltungsgericht für die
Kläger festgestellt habe, seien solche allgemeiner Art und nicht so zugespitzt, dass
entgegen der gesetzlichen Grundentscheidung Schutz im Einzelfall gewährt werden
könne.
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Die Beklagte beantragt,
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das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
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Die Kläger beantragen,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie machen geltend: Bei einer Rückkehr nach Afghanistan seien sie dem sicheren Tod,
zumindest schwersten Verletzung ausgeliefert. Angehörige, auf deren Hilfe sie
zurückgreifen könnten, hätten sie in Afghanistan nicht mehr. Unterkunft könnten sie als
ohnehin diskriminierte Hindus allenfalls und unter großen Schwierigkeiten in einem
Tempel finden. Durch ihren langen Aufenthalt in Deutschland seien sie "stigmatisiert",
sodass sie auffallen sowie Übergriffe auf sich ziehen würden. Die medizinische
Versorgung, derer insbesondere der Kläger wegen Diabetes bedürfe, sei in Afghanistan
nicht zu erlangen.
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Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die in das Verfahren eingeführten
Auskünfte und die Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes verwiesen.
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Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung ist begründet; die Klage ist auch hinsichtlich des allein noch
anhängigen Begehrens festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7
AufenthG - diese Vorschrift ist am 1. Januar 2005 an die Stelle von § 53 Abs. 6 AuslG
getreten, § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG in der Fassung des Art. 3 Nr. 20 sowie Art 15 Abs.
3 des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I 1950) - vorliegen,
unbegründet.
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Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll gewährt werden, wenn für
den Ausländer im Zielstaat eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder
Freiheit besteht. Unerheblich ist dabei, von wem die Gefahr ausgeht und auf welchen
Ursachen sie beruht. Entscheidend ist allein, ob für den Ausländer unter
Berücksichtigung auch des im Asylverfahren erfolglos vorgetragenen Sachverhaltes
eine konkrete, individuelle Gefahr für die in der Vorschrift genannten Rechtsgüter
besteht; die Gefahr muss dem Einzelnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit
drohen.
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So zu den gleichlautenden Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG: BVerwG,
Urteile vom 29. März 1996 - 9 C 116.95 -, DVBl. 1996, 1257 und vom 17. Oktober 1995 -
9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324; zur Übertragbarkeit auf das neue Recht vgl. BVerwG,
Beschluss vom 19. Oktober 2005 - 1 B 16.05 -.
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Allerdings erfasst § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - auch insoweit der Normstruktur des §
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53 Abs. 6 AuslG entsprechend - nur einzelfallbezogene, individuell bestimmte
Gefährdungssituationen. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die
Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei
Entscheidungen über eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a
Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Eine
solchermaßen allgemeine Gefahr unterfällt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich
selbst dann nicht, wenn sie den Einzelnen konkret und individualisierbar zu treffen
droht; denn bei allgemeinen Gefahren entfaltet Satz 2 der Vorschrift eine "Sperrwirkung"
dahin, dass über die Gewährung von Abschiebungsschutz allein im Wege politischer
Leitentscheidung befunden werden soll. Mit Blick auf Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 1 GG
ist der Rückgriff auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG jedoch bei einer allgemeinen Gefahr
ausnahmsweise dann nicht gesperrt, wenn die Situation im Zielstaat der Abschiebung
so extrem ist, dass die Abschiebung den Einzelnen "gleichsam sehenden Auges dem
sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde".
Vgl. (wiederum zu § 53 Abs. 6 AuslG) BVerwG, Urteile vom 8. Dezember 1998 - 9 C
4.98 -, BVerwGE 108, 77 sowie vom 29. März 1996 - 9 C 116.95 -, a.a.O. - und zur
Gewährleistung des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes im Wege der
Normauslegung BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. Dezember 1994 - 2 BvL 81 und
82/92 -, NVwZ 1995, 781.
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Die extreme Gefahrenlage ist insbesondere geprägt durch einen hohen
Wahrscheinlichkeitsgrad und die - freilich nicht mit dem zeitlichen Verständnis eines
sofort bei oder nach der Ankunft eintretenden Ereignisses gleichzusetzende -
Unmittelbarkeit eines Schadenseintritts.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 5.01 -, BVerwGE 115,1 und Beschluss vom
26. Januar 1999 - 9 B 617.98 -, NVwZ 1999, 668.
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Sie scheidet allerdings von vornherein aus, wenn gleichwertiger Schutz vor
Abschiebung anderweitig durch eine erfolgte Einzelfallregelung oder durch einen Erlass
vermittelt wird.
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Vgl. BVerwG, Urteile vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, NVwZ 2001, 1420 -, und - die
Rechtsprechung zur extremen Gefahrenlage zusammenfassend - vom 10. Oktober 2004
- 1 C 15.03 -, NVwZ 2005, 462.
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Diese Ausnahme greift vorliegend nicht ein. Insbesondere bietet der Beschluss der
Innenministerkonferenz vom 24. Juni 2005 keine (vorübergehende) Sicherheit, die der
Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG
gleichkommt. Denn die dort vorgestellte Abfolge von Abschiebungen bestimmter
Personengruppen kann nicht mehr als die Erwartung tragen, noch eine gewisse Zeit in
Deutschland verbleiben zu können. Andere in diesem Zusammenhang in Betracht
kommende Entscheidungen sind dem Gericht nicht bekannt und sind auch von der
Beklagten nicht aufgezeigt worden.
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Das Gericht folgt insgesamt der vorstehend dargestellten, gefestigten Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts zum subsidiären Abschiebungsschutz aus § 53 Abs. 6
AuslG, § 60 Abs. 7 AufenthG. Es sieht bei sachgerechter Handhabung des
Prognoseelements in der Beurteilung des maßgeblichen Gefährdungsaspekts sowie der
Gewichtung des Schutzgutes auch keinen Widerspruch zur Rechtsprechung des
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Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte -
vgl. insofern zusammenfassend Marx, Menschenrechtlicher Abschiebungsschutz, in
InfAuslR 2000, 313, 316 m.w.N. -
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und keinen prinzipiellen Mangel in der vom UNHCR in seinen Anregungen zur
Umsetzung des Zuwanderungsgesetzes (UNHCR-Vertretung Deutschland vom 23.
Dezember 2004) angesprochenen Art einer Schutzlücke.
23
Aus der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie)
kann sich in diesem Zusammenhang nichts Abweichendes oder Zusätzliches ergeben,
zum einen schon deshalb, weil die Frist für die Umsetzung der Vorgaben der Richtlinie,
wenn und soweit das innerstaatliche Recht ihnen nicht genügt, jedenfalls noch nicht
abgelaufen ist -
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vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 12. Mai 2005 - A 3 S 358/05 -, NVwZ 2005, 1098
und VGH München, Beschluss vom 2. Mai 2005 - 14 B 02.30703 -,
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zum anderen und vor allem auch, weil nicht ersichtlich ist, inwieweit § 60 Abs. 7
AufenthG in der hier zugrunde gelegten Handhabung den Anforderungen des
internationalen Schutzes, insbesondere auch des subsidiären Schutzes, mithin der
Abwendung der Gefahr eines ernsthaften Schadens, Art. 1, Art. 2 Buchstaben a und e,
Art. 15 der Qualifikationsrichtlinie, nicht gerecht werden sollte.
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Eine den Anforderungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unmittelbar genügende
individuelle, also gerade in ihren persönlichen Eigenschaften und Verhältnissen
angelegte Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht den Klägern bezogen auf die
Verhältnisse in Kabul nicht. Diese sind maßgeblich in den Blick zu nehmen, weil sie
den Bereich betreffen, der im Fall der Rückkehr oder Abschiebung am ehesten zu
erreichen ist.
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Die als fluchtauslösend geschilderten und für den Fall einer Rückkehr nach Afghanistan
so oder ähnlich erneut befürchteten Umstände sowie sonstige Gefahren für die
Schutzgüter des § 60 Abs. 7 AufenthG, die nach einer Rückkehr drohen könnten, sind
solche allgemeiner Art im Sinne des Satzes 2 der Vorschrift. Das gilt zunächst für die
Gefahr, durch Mangel an Lebensmitteln, Wohnraum sowie - vorbehaltlich besonderer
Umstände - gesundheitlicher und sozialer Infrastruktur oder durch Überfälle bei
unzureichendem polizeilichen Schutz zu Schaden zu kommen. Insoweit ist auch ohne
Belang, dass sich Rückkehrer dieser Gefahr dann in höherem Maße ausgesetzt sehen,
wenn sie in Afghanistan mangels aufnahmebereiter Verwandter oder Nachbarn auf sich
selbst gestellt sind. Die Furcht der Kläger, gerade als Hindus in besonderem Maße von
der Mangelsituation oder von Übergriffen und sonstigen Beeinträchtigungen betroffen zu
werden, ist ebenfalls nicht individuell begründet. Die Zugehörigkeit zu einem religiösen
Bekenntnis ist - neben anderen Anknüpfungspunkten für die Abgrenzung von
Bevölkerungsgruppen - ein typischer Ansatz für menschenrechtswidrige Repressalien.
Opfer wird der Einzelne aus Gründen, die er mit vielen anderen teilt; das Betroffensein
hängt zwar von dem persönlichen religiösen Bekenntnis - bzw. der entsprechenden
Zurechnung aus der Sicht eines potentiellen Verfolgers - ab, erstreckt sich aber, was für
eine Bevölkerungsgruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ausschlaggebend
ist, nicht nur auf Einzelne, sondern eine Vielzahl von Personen mit einem gleichen
Merkmal. Wenngleich die hinduistische Bevölkerungsgruppe in Afghanistan
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gegenwärtig zahlenmäßig klein ist, weil die überwiegende Zahl von Hindus vor Jahren
außerhalb des Landes Zuflucht genommen hat, wird dadurch der allgemeine Charakter
einer spezifisch sie treffenden Gefahrensituation nicht aufgehoben. Als
Bevölkerungsgruppe sind auch die Frauen, gegebenenfalls auch eine Untergruppe der
alleinstehenden Frauen anzusehen, sodass auch bei hier festzustellenden zusätzlichen
Erschwernissen grundsätzlich die Sperrwirkung eingreift.
Die für die Prognose im Rahmen der Prüfung einer extremen Allgemeingefahr
erforderliche wertende Gesamtschau aller Gefährdungsmerkmale im Einzelfall -
29
vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. Februar 2004 - 1 B 291.03 -, Buchholz 402.240 § 53
AuslG Nr. 75 -
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unter besonderer Betrachtung der Entscheidungspraxis anderer Obergerichte -
31
vgl BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 5.01 - , a.a.O -
32
ergibt für die Berechtigung des Begehrens der Kläger nichts Tragfähiges. Sie werden
bei einer Rückkehr nach Kabul keiner extremen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt
sein.
33
Der Senat hat sich mit der Frage des verfassungsrechtlich gebotenen
Abschiebungsschutzes für afghanische Staatsangehörige urteilsmäßig zuletzt im Jahre
2003 befasst, also schon nach dem Ende des Taliban-Regimes, jedoch noch in der
ersten Phase der Herausbildung neuer Strukturen. Er hat damals sowohl allgemein als
auch unter Berücksichtigung der besonderen Situation von Hindus eine extreme
Gefahrenlage grundsätzlich verneint.
34
Vgl. etwa Urteil vom 20. März 2003 - 20 A 4270/97.A -.
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Eine abweichende Beurteilung rechtfertigte sich nach der damaligen Rechtsprechung
nur für besonders gelagerte Einzelfälle, z. B. bei alten, behinderten und schwer
erkrankten Personen ohne für eine Hilfestellung in Betracht kommende
Bezugspersonen in Afghanistan.
36
Vgl. Urteil vom 15. Mai 2003 - 20 A 3332/97.A -.
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Im Anschluss an die Rechtsprechung für die Zeit des Taliban-Regimes, für die eine
gebotene Schutzgewährung gemäß § 53 Abs. 6 AuslG ebenfalls grundsätzlich verneint
worden war -
38
vgl. Urteil vom 16. August 2001 - 20 A 3011/97.A -
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hat der Senat gestützt auf Erkenntnismaterial, das auch in das vorliegende Verfahren
eingeführt worden ist, auf eine trotz beträchtlicher Schwierigkeiten festzustellende
Verbesserung der Lage zumindest in Kabul hingewiesen sowie auf die internationale
humanitäre Hilfe, die nicht zuletzt wegen der Anwesenheit von Truppen der ISAF auch
durch militärische Auseinandersetzungen, terroristische Anschläge und kriminelle
Übergriffe nicht gefährdet sei, und sodann ausgeführt:
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Anzeichen dafür, dass die ISAF in näherer Zukunft abgezogen werden könnte, bevor die
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erst am Anfang stehende Aufstellung handlungsfähiger nationaler Sicherheitskräfte und
die Entwicklung wirksamer ziviler Strukturen einen zur Vermeidung des vollständigen
Scheiterns der derzeitigen Stabilisierungsbemühungen erforderlichen Mindeststandard
erreicht haben wird, gibt es nicht. Die finanzielle Ausstattung der Hilfsorganisationen ist,
gemessen am überaus großen Bedarf, knapp, sodass für die von humanitärer Hilfe
abhängigen Teile der Bevölkerung lediglich eine Grundversorgung auf niedrigem
Niveau erbracht wird. Jedoch ist selbst in abgelegenen ländlichen Bereichen ein
Zusammenbruch der Hilfeleistungen mit der Folge einer gravierenden Unterversorgung
und einer verbreiteten Hungersnot ausgeblieben (UNHCR an VG Schleswig vom
15.07.2002; Danesch an VG Schleswig vom 5.08.2002). Dies fällt umso mehr ins
Gewicht, als die Zahl der aus dem Ausland nach Afghanistan zurückkehrenden
Flüchtlinge die Erwartungen und Vorbereitungen vor allem auch des UNHCR, der die
Rückkehr unterstützend begleitet, bei weitem übertroffen hat. Nach Schätzungen sollen
2002 weit mehr als 1,5 Mio. Menschen insbesondere aus Pakistan und Iran nach
Afghanistan zurückgekehrt sein, von denen sich mehrere hunderttausend nach Kabul
begeben haben und dort auf Hilfe angewiesen sind (AA Lagebericht vom 2.12.2002).
Für 2003 wird mit der freiwilligen Rückkehr von weiteren mehreren hunderttausend
Afghanen gerechnet. Von akuter Nahrungsmittelknappheit für die Rückkehrer, die die
vorhandenen Ressourcen der humanitären und sozialen Infrastruktur zusätzlich stark
beanspruchen, wird nicht berichtet; auch das Auftreten von Mangelernährung wird für
Kabul - anders als für einige ländliche Gebiete - nicht bestätigt (AA Lagebericht vom
2.12.2002 und Ad-hoc-Bericht vom 4.06.2002; Glatzer an VG Hamburg vom
22.08.2002). Eine in größerem Umfang stattfindende Umkehrung der
Flüchtlingsbewegungen, die sich in der Vergangenheit bei krisenhaften Zuspitzungen in
Afghanistan mit dem Auftreten großer Flüchtlingsströme vor allem nach Pakistan und
Iran ereignet haben und die auf ein mit dem Fehlen des für ein Überleben
Notwendigsten einhergehendes breites Scheitern der Rückkehrwilligen schließen
lassen könnten, sind nicht bekannt geworden (AA Lagebericht vom 2.12.2002). Die
Unterbringungsmöglichkeiten in Kabul sind für Rückkehrer wegen der Unbewohnbarkeit
vieler Häuser, dem massenhaften Zuzug von Menschen und der Nachfrage durch die
Vielzahl der finanziell bei weiterem leistungsfähigeren Hilfsorganisationen und deren
Mitarbeiter stark eingeschränkt (Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 6.12.2002; Glatzer
an VG Schleswig vom 26.08.2002). Indessen bereitete der UNHCR zur Vermeidung von
Obdachlosigkeit mit existenzgefährdenden Auswirkungen bereits 2002 die Errichtung
von Notunterkünften vor (AA Ad-hoc-Bericht vom 4.06.2002); auch ist nicht berichtet
worden, dass der Mangel an angemessenen Unterkünften in Kabul zu
lebensbedrohlichen Zuständen für größere Teile der Bevölkerung geführt hat. Es ist
daher nicht festzustellen, dass wegen des Fehlens auch nur notdürftigen Wohnraums
eine Vielzahl von Menschen in Kabul schutzlos der Witterung ausgesetzt wäre und
deshalb Gefahren für Leib und Leben zu gewärtigen hätte.
Es ist nicht festzustellen, dass die Einschätzung des Senats insgesamt oder für
bestimmte bisher schon gesondert betrachtete Gruppen der Korrektur bedarf, weil eine
Veränderung zum Schlechteren, die nunmehr Schutz im Rahmen des § 60 Abs. 7
AufenthG erfordert, eingetreten ist. Weder hat sich die Sicherheitslage so zugespitzt,
dass jeder in sein Heimatland zurückkehrende und nach Kabul gelangende Afghane die
berechtigte Sorge hegen muss, mit auch nur nennenswerter Wahrscheinlichkeit Opfer
gezielter Übergriffe oder sonstiger Anschläge zu werden, noch haben sich die
Lebensbedingungen in einer Weise entwickelt, dass sie für den Einzelnen einen triftigen
Grund für die Annahme bieten, alsbald schwere Beeinträchtigungen erleiden zu
müssen. Zwar ist die Situation für Rückkehrer insgesamt und in fast jeder Hinsicht
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schwer und keinesfalls frei von Gefahren, sodass nicht zweifelhaft sein kann, dass die
Grundlage für eine Entscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 in Verbindung mit § 60a Abs.
1 Satz 1 AufenthG gegeben ist. Dies kann freilich - wie oben dargetan - nicht Maßstab
sein.
Eine solche Zuspitzung der Situation, dass das verfassungsrechtliche Schutzgebot für
extreme Gefahrenlagen eingreift, ergibt sich aus der Vielzahl der Stellungnahmen und
Darstellungen, die in das Verfahren eingeführt worden sind und die zusammenfassend
ein aktuelles Bild der Lage in Afghanistan vermitteln, nicht. Die teilweise konträren
Aussagen in verschiedenen Stellungnahmen zwingen ganz überwiegend nicht zu einer
Klärung und Entscheidung für die eine oder die andere Darstellung und Wertung. Der
Senat hat vielmehr die - durch die große Spannweite der Gegenstände und Inhalte von
Berichterstattungen in den allgemein zugänglichen Quellen bestätigte - Überzeugung
gewonnen, dass die gegenwärtige Situation in Kabul von erheblichen Widersprüchen
geprägt ist, sich mithin für keine verallgemeinernde Schilderung tragfähige
Anhaltspunkte eines eindeutigen Falsch oder Richtig finden lassen. Die
unterschiedlichen Blickwinkel und Zielrichtungen der einzelnen Beiträge tragen nach
Einschätzung des Senats zu einem hohen Grad von Verlässlichkeit des Gesamtbildes
bei. Erkenntnisquellen, die weitergehendes oder solideres Material bieten könnten, sind
von den Beteiligten nicht präzise bezeichnet worden und auch sonst nicht ersichtlich.
Hinzu kommt, dass Afghanistan, insbesondere der Bereich Kabul, nicht zuletzt wegen
der Anwesenheit von Sicherheits- und Hilfskräften zahlreicher Staaten unter einer
interessierten Beobachtung gerade auch durch die Medien steht, und daher nicht
angenommen werden kann, Zustände, Entwicklungen und Ereignisse, die sich im
zugrunde gelegten Auskunftsmaterial nicht widerspiegeln und zu bestimmten
eindeutigen Schlüssen in Bezug auf eine Extremsituation führen könnten, seien
unbekannt geblieben.
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Allgemein ist festzuhalten, dass in Kabul wirtschaftliche Entwicklung und Etablierung
günstiger Lebensumstände zusammentreffen mit größter Armut und schlimmen
Verhältnissen, die bis zu einer schon lebensbedrohlichen Existenz in Slums reichen.
Weiterhin gibt es einerseits die in Kabul verbliebenen oder in der Zeit der Mujaheddin
und der Taliban nach Kabul Gelangten, die sich zum Teil auf Kosten derer bereichert
haben, die aus der Stadt und dem Land geflohen waren, andererseits die Rückkehrer,
wobei zu unterscheiden ist zwischen denen, die in großen Strömen freiwillig oder
faktisch gezwungen aus Flüchtlingslagern in Pakistan und Iran nach Kabul gelangen,
obwohl sie weithin nicht von dort, zum Teil nicht einmal aus städtischen Gebieten
stammen, und denen, die - etwa wegen ihres allgemeinen wirtschaftlichen oder sozialen
Status schon vor dem Verlassen Afghanistans - in entferntere Länder, sei es Indien, sei
es Europa, fliehen konnten und von dort zurückkehren. Schließlich liegt auf der Hand,
dass in einem städtischen Siedlungsraum mit mehreren Millionen Menschen in einer
Zeit des Wiederaufbaus grundlegender Strukturen - beispielsweise für die
Sicherheitskräfte - nicht überall ein gleiches und zufriedenstellendes Mindestmaß an
Versorgung und Ordnung zu finden ist. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass in der
derzeitigen Phase der staatlichen Entwicklung eine Vielzahl divergierender Richtungen
ideologischer, religiöser oder politischer Art sowie auf Eigenständigkeit pochender
Machthaber mit jeweils eigenem ethnischen und regionalen Hintergrund eingebunden
werden muss, was die Herausbildung und Durchsetzung klarer Verhältnisse und
Strukturen erschwert.
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Diese Gegebenheiten, die sich durchweg in allen umfassenden Stellungnahmen
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wiederfinden, einbeziehend ist im Einzelnen festzustellen:
Von einer allgemeinen Sicherheit und Stabilität im gesamten Land sind die
gegenwärtigen Verhältnisse in Afghanistan noch weit entfernt. Regionale Warlords
praktizieren ihre Eigenständigkeit in der Durchsetzung ihrer jeweiligen Interessen und
fügen sich allgemeinen Vorgaben der Zentralregierung nur in diesem Rahmen
(Deutsches Orientinstitut an OVG Bautzen - im Weiteren: Deutsches Orientinstitut - vom
23.09.2004, Auswärtiges Amt Lagebericht - im Weiteren: AA - vom 29.11.2005,
Informationsverbund Asyl/PRO ASYL Bericht "Rückkehr nach Afghanistan" von Arend-
Rojahn u.a. - im Weiteren: PRO ASYL - vom 1.06.2005). Der Bereich Kabul hebt sich -
maßgeblich gestützt auf ausländische Hilfe, insbesondere ISAF, und auf die im Aufbau
und in der Ausbildung befindliche Polizei - davon ab; die allgemeine Sicherheitslage
dort wird insgesamt günstiger bewertet, aber keinesfalls als zufriedenstellend
bezeichnet. Die Polizei folgt hier grundsätzlich den Weisungen (Deutsches Orientinstitut
vom 23.09.2004, PRO ASYL vom 1.06.2005), kann aber trotz erheblicher Fortschritte
noch keine Sicherheit im öffentlichen Raum bieten (PRO ASYL vom 1.06.2005). Die
Lage wird teils als weitgehend stabil (Schweizerische Flüchtlingshilfe Afganistan
Update - im Weiteren: Schweizerische Flüchtlingshilfe - vom 3.02.2006), teils als fragil,
aber auch als vom UNHCR für ausreichend sicher gehalten bezeichnet (AA vom
29.11.2005). Allerdings wird in den Auskünften übereinstimmend auf die Kriminalität, bei
der vor allem Kindesentführungen hervorgehoben werden, auf die Korruptheit der
Sicherheitskräfte und auf einen weitestgehenden Ausfall effektiven gerichtlichen
Schutzes verwiesen. Auch wird angeführt, dass ganze Stadtviertel ohne Ordnungskräfte
seien und weder insgesamt noch im Einzelfall Sicherheit gewährleistet oder Schutz
geboten werde sowie dass Nacht für Nacht Dutzende ums Leben kämen (Danesch
Gutachten zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan - im
Weiteren: Danesch - vom 23.01.2006). Demgegenüber wird aber auch berichtet, die
Sicherheit im täglichen Lebensablauf sei nicht beeinträchtigt und die Zahl der Morde sei
im Vergleich zu westlichen Großstädten nicht auffällig hoch (David Aussage vor dem 12.
Senat des OVG Berlin-Brandenburg - im Weiteren: David - vom 27.03.2006).
Festzustellen ist ferner, dass die Verfasser von Auskünften, die auf relativ aktuellen
eigenen Beobachtungen beruhen (insbesondere Danesch, Merzadah - in Afghan Hindu
und Sikh Verband in Deutschland "Zur Lage der Hindus und Sikh-Minderheit in
heutigen Afghanistan" von 01.2006 - und die Berichterstatter für PRO ASYL), in Kabul
zahlreiche Bereiche haben besuchen und Kontakte haben knüpfen können. In einer
Gesamtschau bleibt danach festzuhalten, dass von einer Allgegenwärtigkeit von
Übergriffen auf Leben oder Gesundheit sowie die unerlässlichen Grundlagen der
Lebensführung nicht ausgegangen werden kann, dass allerdings mit effektiver
Verfolgung und Abhilfe sowie gerichtlicher Ahndung im Falle eines Übergriffs nicht zu
rechnen ist. Ein maßgeblicher Faktor ist offensichtlich, wie und in welcher Umgebung
sich der Einzelne bewegt. Dass es für Rückkehrer zwangsläufig zu einer Zuspitzung
kommen muss, die zur Sorge berechtigt, alsbald Opfer von Übergriffen zu werden oder
in Attentate einbezogen zu werden, ist nicht ersichtlich. Das vermutete Verfügung über
Geldmittel trägt anders lautende Einschätzungen nicht.
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Entsprechendes gilt für die weiteren Voraussetzungen, deren Vorhandensein für die
Schutzgüter des § 60 Abs. 7 AufenthG generell unerlässlich ist, insbesondere für
Unterkunft und Verpflegung. Auch hier zeigt die Auskunftslage einerseits
existenzbedrohende Szenarien, andererseits aber auch reale Möglichkeiten einer
akzeptablen Problembewältigung. Insgesamt steht die Frage im Vordergrund, wer in
dem von Armut geprägten Land die notwendigen finanziellen Mittel besitzt und/oder sich
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beschaffen kann, um die an sich ausreichend verfügbaren und erwerbbaren Güter
einschließlich Wohnraum zu erlangen. Dass nach jahrelangen Kämpfen im Stadtgebiet
von Kabul und angesichts des Zustroms von Rückkehrern vornehmlich aus Pakistan
und Iran Wohnraum sehr knapp sowie - zum Teil auch infolge der Ansprüche
zahlungskräftiger Ausländer, etwa auch von Nicht-Regierungs- Organisationen (PRO
ASYL vom 1.06.2005) - sehr teuer ist und die Unterbringung ein hervorstechendes
Problem darstellt, leuchtet ebenso ein, wie das Bemühen des UNHCR, hier zu helfen
(AA vom 29.11.2005, UNHCR Anhang 10 in der BMJ- Übermittlung vom 5.12.2005), und
das Interesse afghanischer Regierungsstellen, im Rahmen von
Rückkehrvereinbarungen mit Ländern, in die Afghanen geflohen waren, Geldleistungen
für die Wohnraumbeschaffung zu erlangen (PRO ASYL vom 1.06.2005, Danesch vom
23.01.2006). Viele zurückkehrende Personen müssen sich mit äußerst behelfsmäßigem
Schutz begnügen oder in Ruinen eine Bleibe suchen. Die Größe dieses Anteils an der
Bewohnerschaft Kabuls wird unterschiedlich bewertet. Während zum Teil in
offensichtlicher Fokussierung der Betrachtung auf die Elendsviertel, in denen gerade
Rückkehrer aus den Afghanistan benachbarten Ländern leben, der Eindruck erweckt
wird, der überwiegende Teil der Millionen zählenden, weithin aus verarmten
Rückkehrern bestehenden Bewohner von Kabul sei nur äußerst notdürftig und slumartig
untergebracht (etwa Danesch vom 23.01.2006), nennt David (vom 27.03.2006) - aus der
Sicht eines Betreuers von Flüchtlingen vornehmlich aus westeuropäischen Ländern -
eine Zahl von etwa 100.000 Personen, die in Slums oder Ruinen leben müssten. Dabei
ist freilich zugrundezulegen, dass der Wohnstandard den dortigen Verhältnissen
entsprechend das Zusammenleben einer Mehrzahl von Personen auf engstem Raum,
bis hin zu einem Zimmer für eine mehrköpfige Familie einschließen kann (PRO ASYL
vom 1.06.2005). Auch hinsichtlich der Unterkunftsmöglichkeit ist letztlich zu folgern,
dass für die Prognose, was den einzelnen Rückkehrer treffen wird, von wesentlicher
Bedeutung ist, ob auf ihn die Beobachtungen zu übertragen sind, die für die Masse der
Rückkehrer aus Pakistan und Iran zu machen sind, wovon Danesch ausgeht, oder ob -
wie von David geschildert - sich eine Wiedereinbindung in den Heimatstaat begleitet
und mit einer gewissen Orientierungsphase gestalten lässt.
Die Diskrepanzen in den Darstellungen setzen sich fort bei dem Versorgungsproblem
und der Chance, eigenständig für den Lebensunterhalt sorgen zu können. Einheitlicher
Ausgangspunkt ist allerdings, dass es an jeglicher öffentlicher Gewährleistung einer
Grundversorgung fehlt. Der gesamte Bereich der sozialen Absicherung ist traditionell
und grundsätzlich der Hilfe und Unterstützung innerhalb der Familie, des Clans oder
des Stammes überlassen. Überwiegend wird dementsprechend davon ausgegangen,
dass bei einer Rückkehr in einer oder in eine Großfamilie regelmäßig mit keinen
schwerwiegenden Gefährdungen im Sinne der Kriterien bei der hier in Rede stehenden
Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG zu rechnen ist, wenngleich auch nicht
auszuschließen ist, dass an Rückkehrer aus Europa Erwartungen gestellt werden, weil
im Ausland erworbenes Vermögen unterstellt wird (Deutsches Orientinstitut vom
23.09.2004, PRO ASYL vom 1.06.2005, Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 3.02.2006,
AA vom 29.11.2005). Ohne ein solches soziales Netz wird die Situation in den
vorgenannten Auskünften als schwierig oder äußerst schwierig bzw. als auf die
Grundnahrungsmittelversorgung beschränkt bezeichnet; für bestimmte Konstellationen
wird bei Mittel- und Arbeitslosigkeit eine Überlebensmöglichkeit sogar ausgeschlossen
(PRO ASYL vom 1.06.2005). Das Vorhandensein der notwendigen Lebensmittel im
erforderlichen Umfang in Kabul wird überwiegend bejaht, wobei zum einen darauf
verwiesen wird, dass die Versorgung durch die Vereinten Nationen sowie
Hilfeleistungen anderer Organisationen greifen, zum anderen aber auch die allgemeine
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wirtschaftliche Entwicklung und der - wegen der Kaufkraft freilich längst nicht allen
zugute kommende - freie Warenverkehr angeführt werden (AA vom 29.11.2005,
Deutsches Orientinstitut vom 23.09.2004, PRO ASYL vom 1.06.2005, David vom
27.03.2006). Danesch (vom 23.01.2006) weist wiederholt darauf hin, in den von ihm
besuchten Slums und Ruinen keine Helfer angetroffen zu haben, die sich um die
Versorgung der dort Lebenden gekümmert hätte, und berichtet von vielen Fällen der
Unterernährung; Rückkehrer könnten nur mit einer geringen Geldleistung und mit einer
notdürftigen Grundausstattung rechnen, wobei sich die Aufmerksamkeit des UNHCR auf
die Rückkehrer aus den Nachbarländern richte, zumal die Rückkehrer aus Europa
zahlenmäßig keine Rolle spielten. Auf die schlimme Lage der Binnenflüchtlinge sowie
der Rückkehrer aus Pakistan in den von ihnen genutzten Lagern sowie auf die (nur)
begrenzte Hilfe des UNHCR mit Geld- und Sachmitteln weisen auch PRO ASYL, AA
sowie UNHCR (vom 1.06.2005 bzw. 29.11.2005 und in Anlage 10 zur BMJ-Übermittlung
von 5.12.2005) hin. Zum Teil werden Arbeitsmöglichkeiten nur in Hilfsarbeiten als
Tagelöhner mit einem Entgelt gesehen, das kaum zur Beschaffung von Brot für eine
Familie reicht (Danesch vom 23.01.2006), zum Teil wird allgemein auf das Fehlen von
Arbeitsplätzen verwiesen, wobei auch der Staat nicht, selbst nicht für Gebildete,
einspringen kann, weil seine Dienste bereits überbesetzt sind (PRO ASYL von
1.06.2005). Demgegenüber wird aber auch auf die wirtschaftliche Entwicklung mit
ausländischem Engagement und reger Bautätigkeit hingewiesen, die trotz verbreiteter
Arbeitslosigkeit gerade Rückkehrern aus Europa aufgrund von Sprachkenntnissen oder
als Geschäftsleuten Chancen eröffnet (Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 3.02.2006,
David vom 27.03.2006).
Vorbehaltlich von Problemfeldern, die wie insbesondere die medizinische Versorgung
von allgemeiner Bedeutung sind, ist im Hinblick auf die Grundbedingungen für ein
Leben in Kabul nach dem Vorstehenden für die Rückkehrer von Bedeutung, ob sie,
soweit sie nicht Aufnahme in einem familiären Verband, der nach den sozialen
Gegebenheiten in Afghanistan erheblich über ein Verständnis lediglich von Eltern und
Kindern hinausgeht, finden, als Teil einer allein seitens des UNHCR erfassten,
versorgten und rudimentär betreuten großen Zahl von mehr oder weniger mittellosen
und hilfsbedürftigen Flüchtlingen nach Kabul gelangen, von denen viele dort nicht
einmal heimisch sind, sondern wohin sie nur gelangen, weil in ihren Heimatregionen die
Lebensbasis von Landwirtschaft und Handwerk zerstört ist (UNHCR Anlage 5 zur BMJ-
Übermittlung vom 5.12.2005), oder ob sie die Gelegenheit erhalten, die sehr
beschränkten Möglichkeiten eigener Entfaltung zu nutzen, die eine Stadt wie Kabul
auch hinsichtlich wirtschaftlicher Betätigung bietet. Dass Letzteres unerlässlich ist, um
den Mindeststandard zu gewährleisten, den höherrangiges Recht über den Wortlaut des
§ 60 Abs. 7 AufenthG hinaus gebietet, ist höchst fraglich. Insofern ist zu bedenken, dass
es bei allen von den Beobachtern der Lage aufgezeigten gravierenden Mängeln bei der
Sicherheit, in der Gewährleistung der Ernährung und bei der Wohnraumversorgung zu
keinen verlässlichen Erkenntnissen über Beeinträchtigungen von Leben oder
Gesundheit in einem solchen Maße gekommen ist, dass Rückschlüsse auf einen hohen
Gefährdungsgrad für jeden einzelnen Rückkehrer zu ziehen sind. Diesbezügliche, meist
auf Angaben vom Hörensagen gestützte Schlussfolgerungen etwa von Danesch (vom
23.01.2006) erscheinen zwar, obwohl sie jeder weiteren Präzisierung entbehren, vor
dem Hintergrund von Schilderungen einzelner vorgefundener konkreter Verhältnisse
zunächst schlüssig. Sie lassen dann aber doch Fragen danach offen, wie die von ihm
Angetroffenen etwa die geschilderte, langandauernde und nach seiner Darstellung
völlig unzureichende Versorgung und die kalte Jahreszeit ohne nennenswerten Schutz
überstanden haben sowie wie sich die Lebensbedingungen befragter Händler im
49
Einzelnen darstellen. Ferner bleibt etwa bei Merzadah (von 01.2006) ausgeblendet, wie
sich die Lebensgrundlage und deren Entwicklung bei Personen darstellen, die er als
Tempelbesucher und - bewohner angetroffen hat oder die wie ein aufgesuchter
Geschäftsmann aus anderen Ländern als den Nachbarstaaten zurückgekehrt waren.
Gegen einen Schluss dahin, die Verhältnisse erfüllten grundsätzlich und für jeden
Rückkehrer die vom Bundesverwaltungsgericht nach den einleitenden Ausführungen
aufgestellten Kriterien für die Zubilligung von Abschiebungsschutz bei allgemeinen
Gefahren im Heimatstaat sprechen auch die Feststellungen des Auswärtigen Amtes in
seinen Lageberichten. Danach (vgl. zuletzt AA vom 29.11.2005) stellt sich die Lage von
Rückkehrern sicherlich nicht problem- und gefahrlos dar, was allerdings zunächst nur
auf Verhältnisse hindeutet, die Erwägungen zu einem Abschiebungserlass nach § 60a
Abs. 1 AufenthG in hohem Maße nahe legen, den Schluss auf eine extreme
Gefahrenlage indes noch nicht zulässt. Dem entspricht es auch, wenn die mit den
rechtlichen Anforderungen und Kriterien vertrauten Autoren des Berichts von PRO
ASYL (1.06.2005) die Lage von Rückkehrern im Grunde (nur) als "generell
problematisch" bezeichnen, was grundsätzlich mit den erhöhten Anforderungen an
unabweisbaren Individualschutz nicht korreliert. Vor allem aber leuchtet schwerlich ein,
dass UNHCR, dessen Mitarbeiter mit der Lage vor Ort jedenfalls zuverlässig vertraut
sein müssen, weiterhin zur massenhaften Rückkehr aus Pakistan und Iran beiträgt, ohne
die weitere Rückführung ausschlaggebend unter die Bedingung zusätzlicher
umfangreicher Mittel zu stellen; demgegenüber hat er etwa zu Zeiten der Besorgnis von
Versorgungsengpässen infolge der Dürreperioden auf eine nachhaltige Verbesserung
seiner finanziellen Ausstattung gedrängt.
Letztlich bedarf all das aber keiner isolierten abschließenden Festlegung, weil das
Gericht insgesamt nicht zu der Überzeugung gelangt ist, dass Rückkehrer aus
Deutschland - vorbehaltlich besonderer Umstände, auf die im Weiteren noch
einzugehen ist - zwangsläufig und mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Situationen
geraten werden, die den in den Auskünften geschilderten konkreten Fällen von
Zuspitzungen gleichkommen. Eine eindeutige Aussage in dieser Hinsicht macht David
(vom 27.03.2006), der anführt, dass Rückkehrern aus Ländern der EU von ihrer Ankunft
auf dem Flughafen in Kabul an Hilfestellung geboten wird, die erste gesundheitliche
Absicherung und Unterbringung nebst Verpflegung gewährleistet, und an die sich auch
Unterstützung beim Aufbau einer eigenen Existenzgrundlage anschließen kann. Es
handelt sich derzeit um Leistungen aus dem RANA-Programm mit Mitteln der EU, die
von der IOM -International Organization for Migration - erbracht werden. Diese Hilfe steht
allen Rückkehrern aus der EU zur Verfügung, unabhängig davon, ob sie freiwillig
ausreisen, abgeschoben werden oder im Rahmen einer Vereinbarung zurückgelangen,
und führt zu einem durchgreifenden Unterschied im Vergleich zu den Rückkehrern aus
Pakistan und Iran, die in - den Rückkehrern aus Europa unter Umständen nicht
zugängliche - Flüchtlingslager gelangen, in denen die Lage und das Überleben
schwierig ist. David stützt seine Aussagen auf eine bereits längere Tätigkeit bei IOM in
Kabul und die Begleitung und Beobachtung der ersten Zeit nach der Rückkehr bei
zahlreichen Personen, etwa 30 bis 40 monatlich aus Großbritannien und insgesamt
schon etwa 120 aus Deutschland. Als Indiz für offensichtlich bestehende verschiedene
Möglichkeiten des Wiedereinfügens in die Verhältnisse in Afghanistan, insbesondere
Kabul, ist es anzusehen, dass die Unterkunftsangebote, die auf zwei Wochen angelegt
sind, regelmäßig in zeitlicher Hinsicht nicht voll genutzt werden, und das Heim nach den
Angaben von David auch noch nicht voll belegt war. Rückkehrer müssen also andere
Wege oder Kontakte zu in Kabul Etablierten finden, von denen sie sich auch
gegebenenfalls erforderliche Hilfe versprechen. Zur Unterstützung bei der Schaffung
50
einer eigenen Lebensgrundlage gibt es die Möglichkeit einer finanziellen Förderung
oder Unterstützung im Bemühen um eine Arbeitsstelle, was bei Rückkehrern aus
Deutschland im Hinblick auf das Interesse ausländischer Unternehmen vor allem wegen
Sprachkenntnissen durchaus erfolgreich sein kann (dazu auch Schweizerische
Flüchtlingshilfe vom 3.02.2006). Die Darstellung von David überzeugt jedenfalls in den
Schilderungen für die erste Zeit nach der Rückkehr aus Europa. Es handelt sich um die
erste präzise Darstellung, die gerade den Personenkreis betrifft, auf den es im
vorliegenden Verfahren für eine Prognose der Lebensumstände ankommt. Insofern
weisen die sonstigen Auskünfte eine gewisse Lücke auf, sei es, weil die Probleme für
die Masse der zurückkehrenden Flüchtlinge dominieren, sei es, weil die geringe Zahl
der Rückkehrer aus Europa oder sonstigen im Weltmaßstab reichen Fluchtländern eine
eher aufwändige spezielle Betrachtung erfordert. Die Darstellung ist in sich stimmig und
nachvollziehbar. Sie blendet auch die Schwierigkeiten - insbesondere für die große
Zahl der aus Pakistan und Iran nach Kabul Gelangenden - nicht aus. Einige Gegensätze
- etwa bei den Aussagen zur allgemeinen Sicherheit sowie in der Abschätzung der in
Slums oder Ruinen Lebenden - zu anderen Darstellungen, insbesondere zu den im
Vorstehenden auch wiedergegebenen Aussagen von Danesch, spiegeln die
Widersprüche wider, die eine Stadt von mehreren Millionen Einwohnern stets aufweist,
und bringen zum Ausdruck, dass einmal aus der täglichen Arbeit in einem speziellen
und für die dort Tätigen überschaubaren Bereich, einmal von einem außenstehenden
Sammler von Informationen - ob mit oder ohne bestimmte Auftraggeber und Tendenz -
berichtet wird; unterschiedliche Wahrnehmungen und Akzentsetzungen erscheinen
dabei unvermeidlich. Insofern ist allerdings auffällig, dass Danesch (vom 23.01.2006)
von der Tätigkeit von IOM in Kabul spricht, sich aber mit einer Mitteilung vom
Hörensagen dahin begnügt, die Organisation zahle nur für den Transport von
Rückkehrern; im Gegensatz zu dem Bericht über ein Gespräch mit UN-Vertretern über
die (allgemeine) Flüchtlingssituation wurde dem Hinweis auf ein Engagement gerade
für Rückkehrer aus Europa nicht nachgegangen. Kaum anders verhält es sich mit dem
Bericht von PRO ASYL (vom 1.06.2005), in dem die Tätigkeit von IOM erwähnt, jedoch
mit einem bloßen Hinweis darauf abgetan wird, die Unterstützung für freiwillige
Rückkehrer sei zur Zeit möglich, weil nur wenige kämen. Nähere Feststellungen vor Ort
sind offensichtlich nicht getroffen worden. Soweit die Lageberichte des Auswärtigen
Amtes auf die von David geschilderten Hilfsmöglichkeiten nicht näher eingehen, ist dem
kein weiterer Aussagewert für die tatsächliche Leistung und Wirksamkeit der Hilfe
beizumessen. Dieser Umstand erschließt sich aus dem umfassenden Ansatz der
Berichte. Sie zielen auf die allgemeine Lage im Lande, und zwar auch, was die
Situation der Gesamtheit der ehemaligen Flüchtlinge angeht. Diese wird - wie
ausgeführt - als problematisch bezeichnet, aber nicht weiter etwa nach den früheren
Aufenthaltsländern aufgeschlüsselt.
Eine andere Gefahreinschätzung ergibt sich auch nicht unter dem Aspekt möglicher
Grenzen der von David geschilderten Hilfsleistungen. Was die Finanzmittel angeht, hat
er darauf hingewiesen, dass derzeit eine Absicherung im Rahmen des RANA-
Programms bis zum Sommer gegeben ist; es wird aber mit einer Verlängerung
gerechnet. Was die von PRO ASYL angesprochene Kapazität betrifft, so ist sicherlich
ein Zusammenhang mit der Zahl der aus den Ländern der EU Zurückkehrenden
gegeben; ob es aber - auch und gerade in Bezug auf Afghanen aus Deutschland - zu
einer kurzfristigen nennenswerten Steigerung kommen wird und wie gegebenenfalls
etwa bei der Finanzausstattung des gegenwärtigen Programms oder durch Auflegen
anderer Programme darauf reagiert wird, ist offen. Immerhin ist zu sehen, dass nach
dem Beschluss der Innenministerkonferenz vom 24. Juni 2005 nicht zu erwarten steht,
51
dass in absehbarer Zeit die Zahl der Abschiebungen in einem Maße steigt, dass die
Rückkehrer begleitenden Hilfsmöglichkeiten der geschilderten Art nicht mehr greifen
können; das vorgesehene gestufte Vorgehen entspringt ersichtlich auch dem Bemühen,
durch eine gewisse Koordinierung den zweifellos schwierigen Lebensverhältnissen für
Rückkehrer in Afghanistan Rechnung zu tragen. Auch sprechen die Lageberichte des
Auswärtigen Amtes mit ihren sehr kritischen Aussagen zu den zivilen Zuständen und
Entwicklungen in Afghanistan dafür, dass sich die Exekutive trotz Ausbleibens einer
Regelung nach § 60a Abs. 1 AufenthG der Lage für Rückkehrer bewusst ist, der
gegenwärtig mit finanziellen Mitteln über die EU begegnet wird. Dies und die oben
angeführten, gegen eine tatsächliche Zuspitzung der Lage für alle Rückkehrer
sprechenden Aspekte eingestellt ist auch ohne Feststellung einer Gewährleistung der
Finanzausstattung von IOM zumindest in der bisherigen Weise für Rückkehrer aus
Deutschland in prognostischer Sicht eine dringende und ausweglose
Gefährdungssituation nicht zu bejahen.
In der Wertung abweichend: VG Karlsruhe, Urteil vom 9. November 2005 - A 10 K
12302/03 -.
52
Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die Auskunftslage nicht den Schluss
trägt, alle Rückkehrer aus Deutschland, die nicht - z.T. sogar unter Missachtung der
Beibringungslast: nicht nachweisbar - in einem funktionierenden - und z.T. in einem zu
engen Sinne verstandenen - Familienverband Aufnahme finden, gerieten in Afghanistan
in eine völlig aussichtslose Lage. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass eine solche
Situation bei Hinzukommen besonderer Umstände eintritt. Dazu bedürfen verschiedene
Anknüpfungspunkte der gesonderten Betrachtung.
53
Eine im Rahmen der Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG
relevante Zuspitzung in Anknüpfung an Volks- oder Religionszugehörigkeit ist nicht
festzustellen. In Afghanistan leben seit jeher verschiedene Ethnien unterschiedlicher
Größenordnung zusammen (vgl. etwa Deutsches Orientinstitut vom 23.09.2004, AA vom
29.11.2005), wobei es je nach den Größen- und Machtverhältnissen in Teilregionen des
Landes zu Spannungen und auch zu erheblichen Diskriminierungen kommen kann.
Selbst wenn solche Vorkommnisse bis an die Beeinträchtigung der Lebensgrundlagen,
bis zur Vertreibung oder unmittelbaren Bedrohung von Leben und Gesundheit reichen,
besteht bei der alleinigen Anknüpfung an die Volkszugehörigkeit immer noch die
Möglichkeit, in andere Landesteile auszuweichen. Entsprechendes gilt hinsichtlich der
religiösen Ausrichtung innerhalb des Islam, also insbesondere hinisichtlich von Schiiten
und Sunniten. Anders zu sehen sind die nichtislamischen Religionen, denen zwar in der
Verfassung Freiheit zugestanden ist, allerdings unter dem Vorbehalt gesetzlicher
Regelungen, die ihrerseits den Grundlagen des Islam nicht widersprechen dürfen
(Hutter/Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Universität Bonn,
"Existenzmöglichkeiten für Hindus und Sikhs in der Islamischen Republik Afghanistan?"
- im Weiteren: Hutter - vom 25.01.2006). Wie sich die Verfassungswirklichkeit entwickeln
und festigen wird, ist derzeit noch offen und schwer vorherzusehen, wie nicht zuletzt die
durch die allgemeine Presse jüngst bekannt gewordenen Vorgänge um einen im
Ausland zum Christentum übergetretenen afghanischen Moslem belegt haben. Für eine
systematische Verfolgung der Angehörigen nichtislamischer Religionen sind
gegenwärtig allerdings keine Ansätze ersichtlich. Festzustellen sind vielfältige
Benachteiligungen, insbesondere von privater Seite. Dass diese Beeinträchtigungen
allgemein schon bis an den Kern des Schutzbereichs reichen, den § 60 Abs. 7 AufenthG
abdecken soll und muss, ergibt sich jedoch nicht. In zugespitzten Einzelfällen einer
54
besonders schwerwiegenden Verletzung islamischer Vorstellungen und/oder bei
Hinzutreten weiterer Umstände wird freilich ein unabweisbarer Schutzbedarf wegen der
Religion in Betracht zu ziehen sein.
Vgl. etwa OVG Bautzen, Urteil vom 23.Oktober 2003 - A 1 B 114/00 -.
55
Das gilt auch für Hindus und Sikhs. Wenngleich von umfassenden und rundum
abgesicherten Erkenntnissen nicht ausgegangen werden kann, so erlaubt die
Auskunftslage doch den Schluss, dass sich die allgemeine Lage dieser Gruppe im
Hinblick auf die Frage nach einer extremen Gefahr im oben bezeichneten Sinne nicht
entscheidend von derjenigen anderer Rückkehrer abhebt. Unklarheiten verbleiben nach
den Stellungnahmen zwar schon im Hinblick auf die derzeitige Größe dieser Gruppe.
Für Afghanistan werden Zahlen von bis zu 2.000, 2.500 und 5.000 Personen (Danesch
vom 23.01.2006, Merzadah von 01.2006, AA vom 29.11.2005) bzw. 3000 Familien
genannt (Hutter vom 25.01.2006, US Department of State vom 8.11.2005), für Kabul bis
zu 1.300 Personen (Danesch vom 23.01.2006) bzw. 600 Familien mit 3.000 Personen
(Afghan Hindu and Sikhs in News vom 4.01.2006); darunter sind auch Rückkehrer etwa
aus Indien, die versuchen, wirtschaftlich wieder Fuß zu fassen. Jedenfalls aber handelt
es sich um eine sehr kleine Minderheit sowohl auf das gesamte Land wie auf Kabul
bezogen. Die Auskünfte geben nichts her für eine nach Status und Lebensbedingungen
in etwa homogene Gruppe im Sinne einer funktionierenden Gemeinschaft, die auch die
Möglichkeit zur vollen Aufnahme und wirtschaftlich-sozialen Integration für Rückkehrer
bietet. Denn aus den oben bezeichneten Berichten von Danesch und Merzadah ist zu
entnehmen, dass zahlreiche während des Bürgerkrieges nach Kabul geflohene oder
aus ihrem früheren Besitz vertriebene Familien in äußerster Not in Tempelanlagen
leben, wo sich ihre Situation nicht von der unterscheidet, die in den slumartigen
Flüchtlingslagern für Rückkehrer aus Pakistan und Iran herrscht. Die Unterkunft ist
gesundheitsgefährdend und der Lebensunterhalt kann nur notdürftig durch
Tagelöhnerarbeit bestritten werden. Andererseits aber ist anhand der Berichte auch
festzustellen, dass Hindus und Sikhs sich Positionen oder zumindest gewisse
Grundlagen erworben haben, die es ihnen ermöglichen, die Interessen der Gruppe oder
ihre eigenen Interessen geltend zu machen. So waren die Hindus und Sikhs in der Loya
Jirga vertreten (Hutter vom 25.01.2006). Ferner wird von einem Hindu berichtet, der zum
Senator berufen worden ist, geschildert, dass mit Erfolg die Bereitstellung eines neuen
Verbrennungsplatzes gefordert worden ist, und angeführt, dass - wenngleich ohne
Erfolg in der Sache - Verfahren wegen Rückgabe von Grundeigentum geführt und bis in
hohe Dienststellen hinauf Nachforschungen über den Verbleib von entführten Mädchen
angestellt wurden. Die Erfolglosigkeit des Bemühens um Rückgabe des Vermögens ist
ebenso wie die berichteten Drohungen und Einschüchterungen seitens der neuen
Besitzer kein Spezifikum im Zusammenhang mit der Religion, sondern darüber hinaus
verbreitet (AA vom 29.11.2005). Die Sorge um Entführung - von der im Übrigen
ebenfalls nicht nur und speziell für Hindus und Sikhs berichtet wird (PRO ASYL vom
1.06.2005, Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 3.02.2006) - und um
Zwangsislamisierung von Mädchen und jungen Frauen ohne verlässliche Chance für
wirksame nachgehende Abhilfe ist sicherlich in gewissem Maße berechtigt; jedoch kann
- auch unter Berücksichtigung der geringen Zahl von Hindus und Sikhs in Kabul - noch
nicht von einer solch dringenden Gefahr ausgegangen werden, dass den in Betracht
kommenden Afghaninnen auch bei einer Rückkehr in Begleitung eines männlichen
Familienmitglieds unabweisbar Schutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu gewähren ist.
Zusammenfassend betrachtet ist dem speziell auf die Berichterstattung über die Lage
der Hindus und Sikhs in Kabul ausgerichteten Material (Danesch vom 23.01.2006,
56
Merzadah von 01.2006) hinsichtlich der Aspekte Sicherheit und Versorgung mit dem
Existenznotwendigen nichts Tragfähiges zu entnehmen, das diese Gruppe nachhaltig
von anderen abhebt. Soweit Danesch (vom 23.01.2006) aus nicht feststellbarer
Unterstützung der Hindus und Sikhs durch den Staat und durch Hilfsorganistationen
folgert, es werde eine "demographische" Lösung gesucht, überzeugt das schon deshalb
nicht, weil - wie oben aufgezeigt - staatliche Versorgungsprogramme und
allgegenwärtige Leistungsgewährung durch Hilfsorganisationen auch sonst nicht
festzustellen sind. Nimmt man die von Danesch ebenfalls konstatierte Diskriminierung
sowie kulturelle und religiöse Unterdrückung hinzu, so zielt seine Schlussfolgerung
auch weniger auf die Beeinträchtigung von Leib, Leben oder Freiheit, also die in § 60
Abs. 7 AufenthG genannten Schutzgüter, als auf den Fortbestand einer eigenständigen
Minderheit. Aber selbst wenn man über den engen ausdrücklichen gesetzlichen
Rahmen hinausgeht, erlauben die Berichte jedenfalls bei Anlegung des hier gebotenen
Grades der Überzeugung von der Gefahr und deren - insbesondere zeitlicher -
Dringlichkeit den Schluss noch nicht. Wie oben bereits gesagt lässt sich derzeit nicht
klar vorhersagen, wie sich gerade auch in Bezug auf die religiösen Gewährleistungen
der Verfassung die Wirklichkeit entwickeln wird. Dabei kann nicht ausgeblendet werden,
dass es möglich war, unter staatlicher Beachtung große religiöse Feste zu feiern
(Afghan Hindu and Sikhs in News vom 4.01.2006), und dass Gottesdienste in alten
Tempeln abgehalten werden, eine Verbrennungsstätte durchgesetzt werden konnte,
Unterricht stattfindet und es den Hindus und Sikhs offensichtlich möglich ist, sich im
öffentlichen Raum Gehör zu verschaffen. Die von Danesch aufgezeigte Folge mag nicht
auszuschließen sein, sie ist aber nach dem gegenwärtigen Stand keinesfalls als
zwangsläufig oder auch nur eindeutig überwiegend wahrscheinlich zu betrachten. Der
Senat verbleibt daher bei seiner schon im Urteil vom 20. März 2003 - 20 A 4270/97.A -
ausgesprochenen Verneinung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6
AuslG/§ 60. Abs. 7 AufenthG speziell für Hindus und Sikhs. Die letzten zu einer
abweichenden Schlussfolgerung führenden obergerichtlichen Entscheidungen,
OVG Bautzen, Urteil vom 29. Februar 2000 - A 4 B 4289/97 - und OVG Schleswig, Urteil
vom 13. Mai 1998 - 2 L 141/95 -,
57
betreffen die Zeit der Talibanherrschaft und heben speziell auf die damaligen
Anforderungen an das Auftreten im öffentlichen Raum sowie auf besondere
Behinderungen und Erschwernisse in der Beschaffung des Lebensnotwendigen ab; sie
sind für die gegenwärtige Situation nicht mehr von Gewicht. Die Lage hat sich trotz
verbliebener gesellschaftlicher Diskriminierung verbessert (Schweizerische
Flüchtlingshilfe vom 3.02.2006). Einzelne Bescheide des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge und gerichtliche Entscheidungen, in denen für Hindus die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bejaht werden,
58
vgl. etwa Bundesamt, Bescheid vom 26. August 2005 - 5150358-423 - und VG Köln,
Urteil vom 10. Januar 2006 - 14 K 4340/03.A -,
59
sind für die hier zu treffende Entscheidung ohne Bedeutung, weil gerade bei den
Kriterien der Art und Konkretheit einer Gefahr nachhaltige Unterschiede zwischen
Absatz 1 und Absatz 7 - in verfassungskonformer Anwendung - des § 60 AufenthG
bestehen.
60
Eine im vorliegenden Zusammenhang relevante Zuspitzung der Lage hinsichtlich der
Existenzbedingungen ist - vorbehaltlich besonderer Umstände - für Frauen konkret zu
61
befürchten, die ohne männliche Begleitung nach Afghanistan zurückkehren müssen und
nicht in intakten Strukturen Aufnahme finden. Denn alleinstehende Frauen sind in
hohem Maße schon dann gefährdet, wenn sie die erforderlichen Schritte zur
Beschaffung des Lebensnotwendigen unternehmen. So ist in den Auskünften weithin
einheitlich festgehalten, dass alleinstehende Frauen nicht akzeptiert sowie als
"Freiwild" betrachtet werden, vielfältigen Benachteiligungen und Übergriffen ausgesetzt
sind und auch bei Unterkunft in einer der von Nicht- Regierungsorganisationen speziell
für Frauen geschaffenen Unterkünfte letztlich als moralisch verwerflich angesehen und
behandelt werden (PRO ASYL vom 1.06.2005, AA vom 29.11.2005, Danesch vom
23.01.2006). Es ist ohne Weiteres plausibel, dass unter solchen Bedingungen ein
Leben ohne nachhaltige Beeinträchtigungen der Versorgung mit dem Nötigsten oder mit
Ausschluss jeglicher Bewegungsfreiheit oder mit der konkreten Gefahr, sich
körperlichen Übergriffen auszusetzen, nicht möglich ist. Insofern stimmt das Gericht
auch der Beurteilung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in seinem
Bescheid vom 13. Mai 2005 - 5156885-423 - (AuAS 2005, 249) zu und schließt an seine
bisherige Rechtsprechung an.
Vgl. Urteil des Senats vom 20. März 2003 - 20 A 4270/97.A -, in dem bei einer
unverheirateten Frau auf die bei realistischer Betrachtung der konkreten Umstände
allein zu erwartende Rückkehr gemeinsam mit einem Bruder abgestellt worden ist.
62
Von einer relevanten Zuspitzung der Lage ist ferner bei Erkrankungen auszugehen, die
eine die Grundelemente in Behandlung und Medikamenten übersteigende Versorgung
erfordern. Dass die medizinischen Möglichkeiten in Afghanistan entsprechend den
Verhältnissen eines der ärmsten Länder der Welt und nach jahrlangen Kämpfen höchst
unzureichend sind, wird von keiner der Auskunftsstellen oder -personen bezweifelt.
EURASIL (Anlage 11 Annex I zur Übermittlung des BMJ vom 5.12.2005) bezeichnet den
Mangel an möglicher medizinischer Behandlung demgemäß auch schon als ein in
Betracht kommendes Rückkehrhindernis. Standardmittel und eine gewisse
Grundversorgung sind zwar vorhanden, wobei aber offen bleibt, inwieweit die
prinzipielle Unentgeltlichkeit nicht durch erforderliche Bestechung zunichte gemacht
wird (Deutsches Orientinstitut vom 23.09.2004, Schweizerische Flüchtlingshilfe vom
3.02.2006, Danesch vom 23.01.2006 und an OVG Bautzen vom 24.07.2004). Bei
unerlässlichen Behandlungen komplizierterer Art sowie bei erforderlicher
kontinuierlicher und gleichmäßiger Versorgung mit bestimmten qualifizierten
Medikamenten wird - falls ein Ausbleiben alsbald zu schwerwiegenden Folgen führt -
regelmäßig die hinreichende Wahrscheinlichkeit für Beeinträchtigungen gegeben sein,
vor denen nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu schützen ist. Vergleichbar kann sich im
Einzelfall auch die Situation mittelloser alter, schwacher oder behinderter Personen
darstellen, wenn es ihnen aufgrund ihrer Verfassung nicht mehr möglich ist, die
notwendigen Schritte zur Grundversorgung zu unternehmen, und festzustellen ist, dass
hilfsfähige und - bereite Personen in Afghanistan nicht zur Verfügung stehen.
63
Vgl. schon Urteil des Senats vom 15. Mai 2003 - 20 A 3332/97.A -.
64
Weitere Zuspitzungen können sich noch aus Umständen ergeben, die ihrer Art nach
schon andere, regelmäßig vorrangige Schutzgründe - Asyl oder § 60 Abs. 1 bis 3 und 5
AufenthG - tragen könnten, dort aber aus welchen Gründen außer mangelnder
Glaubhaftigkeit auch immer nicht zum Erfolg geführt haben. Insofern ist, soweit dabei
von einer Bevölkerungsgruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gesprochen
werden kann, vor allem an Angehörige früherer Regime - etwa Kommunisten oder
65
Taliban - zu denken (vgl. dazu Deutsches Orientinstitut vom 23.09.2004, AA vom
29.11.2005, Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 3.02.2006). Allerdings dürfte es hier
nur ganz ausnahmsweise zu einer Konstellation kommen, die nach Wahrscheinlichkeit
und Dringlichkeit der Gefahr den hier betrachteten Anforderungen für einen
unerlässlichen Abschiebungsschutz genügt.
Für die Kläger trifft keine der vorstehend als unabweisbar Schutz erfordernd
dargestellten Konstellationen zu. Der insoweit aufzugreifende Aspekt der
gesundheitliche Verfassung der Kläger genügt den oben dargestellten Kriterien einer
Ausnahme von der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht. Zwar ist von
einer Diabetes-Erkrankung des Klägers auszugehen, doch ist nicht nachvollziehbar
dargetan, dass hier die Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung der
Gesamtverfassung besteht, wenn er mit dieser gesundheitlichen Belastung in
Afghanistan lebt. Der Kläger hat im Termin nur eine Bescheinigung vorgelegt, nach der
er an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus leidet. Näheres zu dem Grad der
Erkrankung, zur erforderlichen Dichte der Medikamentation sowie zu notwendigen
Untersuchungen und Einstellungen ist nicht mitgeteilt worden. Da die Bescheinigung
offensichtlich im Hinblick auf den gerichtlichen Termin erstellt worden ist, spricht
Überwiegendes dafür, dass Konkreteres für eine eventuelle Gefährdung des Klägers
nicht mitzuteilen war; dies erscheint auch einleuchtend, weil in einer früher überreichten
Bescheinigung aus dem Jahr 1999 von einer möglichen Unterbrechung der
medikamentösen Versorgung und der Möglichkeit einer positiven Prognose die Rede
war. Wie den oben zur medizinischen Versorgung angeführten Auskünften zu
entnehmen ist, ist es keineswegs ausgeschlossen, einen bestehenden Bedarf an Insulin
zu befriedigen. Die in den Auskünften (insbesondere Danesch vom 24.07.2004 an OVG
Bautzen) angesprochenen Schwierigkeiten stellen die prinzipielle Möglichkeit nicht in
Frage und decken sich wiederum mit dem Aspekt der Wiedereinfügung in die dortigen
Verhältnisse auch und gerade in wirtschaftlicher Hinsicht. Da nichts dafür dargetan ist,
dass es beim Kläger schon dann zu einer nachhaltigen Verschlimmerung des
Krankheitsbildes oder gar einer Gefährdung des Lebens kommen kann, wenn nicht
jederzeit und unmittelbar eine bestimmte Menge an Insulin bestimmter Qualität zur
Verfügung steht, können sie Voraussetzungen einer extremen Gefahr nicht als gegeben
angesehen werden. Der Klägerin ist - ebenfalls mit offensichtlichem Bezug zur
anstehenden gerichtlichen Entscheidung - fachärztlich eine psychische Erkrankung mit
einer "eher ungünstig einzuschätzenden" Prognose bescheinigt worden. Dass eine
durchgreifende Veränderung der Lebensumstände, wie sie eine Rückkehr nach
Afghanistan zweifellos bedeutet, und eine Unterbrechung der Behandlung zwangsläufig
zu einer schwerwiegenden Verschlimmerung der Erkrankung mit erheblichen
Auswirkungen führen muss, lässt sich der Bescheinigung nicht entnehmen. Das Gericht
sieht keinen Anlass, dem Krankheitsbild noch weiter nachzugehen - was im Übrigen
auch klägerseitig nicht beantragt worden ist -, weil davon auszugehen ist, dass der
behandelnde Arzt nichts weiteres Relevantes mitzuteilen hatte. Daher ist es auch
unerheblich, dass in den oben bezeichneten Auskünften auch und gerade die
psychiatrische Versorgung in Kabul als unzureichend beschrieben wird.
66
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 1 VwGO, § 100 Abs. 1
ZPO. Gründe, die Revision zuzulassen, § 132 Abs. 2 VwGO, liegen nicht vor.
67
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