Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 28.02.2007

OVG NRW: wiedereinsetzung in den vorigen stand, briefkasten, grundstück, die post, gesetzlicher vertreter, behörde, verwaltungsakt, bebauungsplan, genehmigung, verfügungsgewalt

Oberverwaltungsgericht NRW, 10 A 1851/04
Datum:
28.02.2007
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
10 A 1851/04
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 4 K 7223/03
Tenor:
Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klägerin die Klage
zurückgenommen hat.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Klägerin begehrt im Berufungsverfahren nur noch die Erteilung einer
Bebauungsgenehmigung zur Errichtung eines Altenwohn- und -pflegeheims.
2
Sie ist Eigentümerin des Grundstücks Gemarkung P. , Flur 4, Flurstücke 525 und 526, S.
22 in E2. . Das 4.476 qm große Grundstück liegt im Ortsteil P. . Es gehört zu einem
Bereich, der westlich von der Straße S1. , nördlich von der P1. B. , östlich von der
Eisenbahnstrecke E2. - L1. und südlich von drei Sportplätzen eingefasst wird. Das
Vorhabengrundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 5575/48. Der
Bebauungsplan ist seit dem 30. Juni 1962 rechtsverbindlich. Er weist für den Bereich
des klägerischen Grundstücks ein Kleingewerbegebiet aus.
3
Das zur Bebauung vorgesehene Grundstück der Klägerin ist im vorderen Bereich mit
einem 2002 errichteten sechsgeschossigen Gebäude bebaut (S1. 18/20, Flurstück 525).
Im Erdgeschoss wird eine Tierarztpraxis betrieben. Im Übrigen wird das Gebäude zu
Wohnzwecken genutzt. Der rückwärtige Bereich des Vorhabengrundstücks (Flurstücke
4
525 und 526) ist unbebaut. Auf dem sich südlich anschließenden Grundstück (Flurstück
159) befinden sich an der Straße S1. eingeschossige Ausstellungsräume eines
Sanitärhandels. Östlich davon folgt ein zweigeschossiges Gebäude (S1. 28, 28a), das
von einer Kurierfirma und im Übrigen zu Wohnzwecken genutzt wird. Im weiteren
rückwärtigen Bereich dieses Grundstücks finden sich zweigeschossige
Flachdachbauten, in denen der Sanitärhandel, eine Firma Heinrich T. sowie ein
Fitnessstudio ansässig sind. Im weiteren südlichen Verlauf der Straße S1. erstrecken
sich bis zum Ende dieser Straße und bis zu der östlich verlaufenden Eisenbahnstrecke
drei Sportplätze. Der an die Eisenbahnstrecke grenzende Platz, der von dem
Fußballoberligaverein U. genutzt wird, ist an seinen Längsseiten mit zum Teil
überdachten Tribünen versehen. Alle drei Sportplätze sind mit Flutlichtmasten
ausgestattet. Nördlich des Vorhabengrundstücks schließt sich straßenseitig das
Gebäude S1. 16 (Flurstück 494) an. In dessen Erdgeschoss befindet sich eine
Badausstellung sowie eine Praxis für Krankengymnastik. Im Übrigen wird das Gebäude,
das fünf Geschosse nebst Staffelgeschoss aufweist, zu Wohnzwecken genutzt. Der
rückwärtige Bereich ist mit einem zwei- und einem eingeschossigen Anbau versehen,
der zur Zeit teilweise zu nicht genehmigten Wohnzwecken genutzt wird. Nördlich folgt
das Gebäude S1. 14 (Flurstück 495), das ebenfalls fünf Geschosse und ein
Staffelgeschoss aufweist. Das Gebäude, das sich auch in den rückwärtigen Bereich des
Flurstücks 495 mit einem ein- bzw. zweigeschossigen Anbau erstreckt, steht zur Zeit
leer. Bis Ende 2006 wurde dort ein Fitnessstudio betrieben. In den oberen Geschossen
befinden sich Wohnungen sowie ein Finanzdienstleister und zwei weitere Firmen. Im
weiteren nördlichen Verlauf der Straße S1. erstreckt sich bis zur Einmündung in die P1.
B. straßenseitig ein zweigeschossiges Verkaufsgebäude eines Baumarkts. Nach der
Einmündung in die P1. B. folgt östlich ein eingeschossiger Bau, in dem ebenfalls der
Baumarkt angesiedelt ist. Hieran schließt sich ein zweigeschossiges Gebäude (P1. B.
51) an, das ausschließlich gewerblich genutzt wird. In den im weiteren Verlauf der
Straße Richtung Osten vorhandenen Gebäuden P1. B. 53, Flurstück 153,
(viergeschossig) und 55, Flurstück 492, (sechsgeschossig) befinden sich im
Erdgeschoss der bereits erwähnte Baumarkt sowie ein Schnäppchenmarkt. Die oberen
Geschosse werden überwiegend zu Wohnzwecken genutzt. Auf dem rückwärtigen
Bereich des Flurstücks 153 findet sich der Kundenparkplatz des Baumarkts. Der der
Straße abgewandte Teil des Flurstücks 492 ist mit einem eingeschossigen
Flachdachbau versehen, der ebenfalls von dem Baumarkt genutzt wird. In dem direkt an
das Gebäude P1. B. 55 anschließenden sechsgeschossigen Haus P1. B. 57 (Flurstück
16) befinden sich überwiegend Wohnungen. Das Erdgeschoss steht teilweise leer.
Südöstlich grenzt an dieses Gebäude eine private Stellplatzfläche. Der östlich dieser
Stellplatzfläche und westlich der Eisenbahnstrecke nach Süden verlaufende Weg
(Flurstück 9) führt an einem zweigeschossigen, teilweise von einer Autofirma genutzten
Gebäude vorbei. Richtung Süden schließt sich auf dem Flurstück 11 (P1. B. 59) ein
Getränkemarkt und sodann ein Lebensmittelmarkt (Flurstück 27, P1. B. 61) an. Dieses
Flurstück grenzt direkt mit seiner westlichen Seite an das Vorhabengrundstück. Bei der
östlich des Lebensmittelmarkts und der Wegeparzelle 9 verlaufenden Eisenbahnstrecke
handelt es sich um die Hauptstrecke E2. - L1. . Ferner befindet sich dort der S-
Bahnbahnhof E2. -W. , an dem die Linien S und S halten.
Unter dem 2. September 2002 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten die Erteilung
einer Baugenehmigung zur Errichtung eines Forschungszentrums für Geriatrie. Nach
dem Einrichtungskonzept der D. I. AG C. , deren Tochtergesellschaft die D1. C1. für
soziale Einrichtungen Nr. 15 mbH, C. , Trägerin und Betreiberin des
Seniorenpflegeheims sein soll, handelt es sich bei dem geplanten Vorhaben um ein
5
Seniorenpflegeheim mit 76 Einzel- und 16 Doppelzimmern. Das Konzept beschreibt
eine Einrichtung für alte hilfebedürftige Menschen, die sich aufgrund
krankheitsbedingter körperlicher und seelisch-geistiger Einschränkungen nicht mehr
alleine oder nur mit Hilfe von Pflegepersonal versorgen können und daher stationärer
Pflege bedürfen. Das geplante Bauvorhaben sollte im direkten Anschluss an das
straßenseitig gelegene Wohnhaus S1. 18/20 errichtet werden und sich über die
gesamte Tiefe des Flurstücks 526 bis zu dem östlich gelegenen Flurstück 27, auf dem
sich der Lebensmittelmarkt befindet, erstrecken. Nach dem eingereichten Lageplan, den
Grundrissen und Schnittzeichnungen schließt sich an das Wohngebäude S1. 18/20 ein
eingeschossiger Eingangsbereich an. Östlich davon weist der vorgesehene U- förmige
Bau in seinem nördlichen Bereich zwei und im übrigen drei Geschosse auf. Nach einem
weiteren Innenhof soll das Gebäude entlang der östlichen Flurstücksgrenze mit zwei
Geschossen versehen werden.
Mit Bescheid vom 27. März 2003 lehnte der Beklagte die beantragte Baugenehmigung
ab und trug zur Begründung vor, das Vorhaben sei bereits bauplanungsrechtlich
unzulässig. Hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung füge sich das Vorhaben, das im
Bereich des Bebauungsplans Nr. 5575/48 liege, nicht ein. Die Baupolizeiverordnung
vom 1. April 1939 sei anzuwenden. Danach könnten im - wie hier festgesetzten -
Kleingewerbegebiet Wohnungen zugelassen werden. Unter Beachtung des § 7 I. B. 2.
BauPolVO könnte jedoch aufgrund der vorhandenen Gebietsstruktur eine Wohnnutzung
nur im Bereich der Blockrandbebauung genehmigt werden. Beantragt sei aber eine
Wohnnutzung im gewerblich geprägten Blockinnenbereich. Das unmittelbare
Nebeneinander von Gewerbe und Wohnen hätte einerseits einschränkende Auflagen
für das zulässige Gewerbe, andererseits Beeinträchtigungen des Wohnens zur Folge.
Der Bescheid wurde am 3. April 2003 zur Post gegeben.
6
Mit Schriftsatz vom 6. Mai 2003 erhob die Klägerin Widerspruch und trug vor: Den
ablehnenden Bescheid habe sie am 7. April 2003 erhalten. Das Widerspruchsschreiben
sei durch ihren Mitarbeiter L. M. am 7. Mai 2003 in den Briefkasten des
Bauaufsichtsamtes in der C2.---------straße 5 in E1. eingeworfen worden. Dieser
Briefkasten trägt folgende Aufschrift:
7
Briefkasten der Stadtverwaltung E1.
8
Leerung: Montag - Freitag 7.00 Uhr
9
Briefe zur Wahrung einer Frist bitte in den Briefkasten
10
X2. -C5. -B. 6 - 8 einwerfen.
11
In der Sache machte die Klägerin geltend, dass es sich bei der Art der beantragten
Nutzung um Wohnen handele. Die Baupolizeiverordnung von 1939 könne nicht
angewendet werden. Vielmehr sei ausschließlich heutiges Planungsrecht maßgebend.
Im vorderen Teil des Vorhabensgrundstücks habe der Beklagte die Errichtung von
Wohnungen genehmigt. Die entsprechenden Wohngebäude seien bereits errichtet. Es
sei kein Grund zu erkennen, warum der übrige Teil des Grundstücks anders zu
beurteilen sei als der vordere Bereich. Die Nutzungsart beziehe sich auf das gesamte
Grundstück und nicht nur auf einen Teil. Der Standort in unmittelbarer Nachbarschaft zu
Gewerbebetrieben ließe keine künftigen Konflikte erkennen.
12
Die Bezirksregierung E. wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 2.
Oktober 2003 als unzulässig zurück. Der Widerspruch sei verfristet erhoben worden. Die
Stadt E. verfüge über einen Nachtbriefkasten. Es wäre der Klägerin möglich und
zumutbar gewesen, diesen zu nutzen. Im Übrigen bestünden Zweifel an der Darstellung
der Klägerin. Das Widerspruchsschreiben der Klägerin sei mit dem Eingangsstempel
"Büro Oberbürgermeister" versehen. Bei Einwurf eines Schreibens in den
Behördenbriefkasten an der C2.---------straße 5 werde dieses jedoch an die
Amtspoststelle B1. I1. 45 weitergeleitet, deren Stempel sich auf dem Schreiben finden
müsste. Auch sei nicht nachvollziehbar, warum das Widerspruchsschreiben den
Datumsstempel "9.5.2003" trage, wenn der Einwurf bereits am 7. Mai 2003 erfolgt sein
sollte.
13
Die Klägerin hat am 3. November 2003 Klage erhoben und zur Begründung
vorgetragen, die Klage sei zulässig. Der Widerspruch sei innerhalb eines Monats bei
der zuständigen Behörde eingegangen. Am 7. Mai 2003 habe einer ihrer Mitarbeiter
persönlich gegen 8.30 Uhr das Widerspruchsschreiben in den Briefkasten des
Beklagten in der C2.---------straße 5 in E. eingeworfen. Diese Adresse sei im Briefkopf
des Ablehnungsbescheids angegeben. Warum das Schreiben mit dem
Eingangsstempel "Büro Oberbürgermeister" versehen worden sei, könne sie nicht
erklären. Ausreichend sei, dass der Widerspruch innerhalb der Frist bei der Behörde,
d.h. bei einer sachlichen oder personellen Empfangsvorrichtung, eingegangen sei. Es
wäre treuwidrig, wenn der Behördenbriefkasten nur um 7.00 Uhr morgens geleert und
alle späteren Schreiben als am nächsten Tag zugegangen gelten würden. Die Klage sei
auch begründet, da der angegriffene Verwaltungsakt rechtswidrig sei und sie in ihren
Rechten verletze. Zur Begründung hat sie sich auf die Ausführungen im
Widerspruchsverfahren bezogen und nochmals darauf hingewiesen, dass das
Bauvorhaben planungsrechtlich zulässig sei.
14
Die Klägerin hat beantragt,
15
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheids vom 27. März 2003 und des
Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung E. vom 2. Oktober 2003 zu verpflichten,
ihr auf ihren Antrag vom 2. September 2002 eine Baugenehmigung zur Errichtung eines
Forschungszentrums für Geriatrie auf dem Grundstück in E. , Gemarkung P. , Flur 4,
Flurstücke 525 und 526, zu erteilen,
16
hilfsweise festzustellen, dass die Nutzung Wohnen auf dem vorgenannten Grundstück
zulässig ist.
17
Der Beklagte hat beantragt,
18
die Klage abzuweisen.
19
Zur Begründung hat er vorgetragen, die Klage sei bereits unzulässig, da der
Widerspruch nicht rechtzeitig erhoben worden sei. Der Beklagte hat insofern auf die
Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen. Der Briefkasten C3.--------- straße 5
enthalte sogar einen dahingehenden Hinweis, dass Briefe zur Wahrung einer Frist in
den Briefkasten X. -C4. -B. 6 - 8 einzuwerfen seien. Der Briefkasten C3.---------straße 5
werde montags bis freitags jeweils um 7.00 Uhr geleert. Die Briefe erhielten auf dem
Umschlag einen Stempel mit dem aktuellen Datum. Die Post mit einer Amtsanschrift
werde zur Poststelle B1. I2. 45 weiter geleitet und dort geöffnet. An den
20
Oberbürgermeister gerichtete Post werde an sein Büro weitergeleitet, dort geöffnet und
mit einem aktuellen Eingangsstempel versehen. Die Klage sei auch unbegründet. Der
Beklagte hat auch insoweit Bezug auf seinen Ablehnungsbescheid genommen und
nochmals darauf hingewiesen, dass die Baunutzungsverordnung nicht anwendbar sei.
Im Übrigen könnte einer nach der Baupolizeiverordnung grundsätzlich zulässigen
Nutzung die Unverträglichkeit mit anderen Nutzungen gemäß § 7 I. B. 2. BauPolVO
entgegen gehalten werden. Bei dieser Vorschrift handele es sich um ein zulässiges
Steuerungsinstrument, das dem in § 15 BauNVO geregelten vergleichbar sei.
Das Verwaltungsgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 18. Februar 2004 die Klage
abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Die
Verpflichtungsklage habe keinen Erfolg, da der angegriffene Bescheid unanfechtbar
geworden sei. Der Widerspruch sei verspätet erhoben worden. Der Beklagte habe die
Verfügungsgewalt über das Widerspruchsschreiben auch bei Unterstellung des
Vortrags der Klägerin frühestens am 8. Mai 2003 und damit nach Ablauf der Monatsfrist
erlangt. Ein schriftlicher Widerspruch gelange erst mit der Leerung des Briefkastens in
die Verfügungsgewalt der Behörde. Der Einwurf in den Behördenbriefkasten eröffne
lediglich die Möglichkeit zur Erlangung der Verfügungsgewalt durch die Behörde. Hier
halte der Beklagte einen Nachbriefkasten vor und weise auch an dem von der Klägerin
genutzten Briefkasten auf dessen Leerungszeiten und die Möglichkeit der Benutzung
des Nachtbriefkastens hin. Damit habe der Beklagte alles Erforderliche getan, um dem
Bürger die volle Ausschöpfung der Fristen zu ermöglichen. Eine Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand sei ausgeschlossen, da die Fristversäumnis verschuldet sei. Jeder
könne den Hinweis auf dem Briefkasten C3.---------straße 5 lesen.
21
Gegen den der Klägerin am 2. März 2004 zugestellten Gerichtsbescheid hat sie am 2.
April 2004 die Zulassung der Berufung beantragt. Der Senat hat mit Beschluss vom 25.
August 2006 die Berufung zugelassen. Dieser Beschluss ist der Klägerin am 29. August
2006 zugestellt worden. Mit am 27. September 2006 bei Gericht eingegangenem
Schriftsatz hat sie einen Berufungsantrag gestellt. Sie führt zur Begründung an, die
Klage sei zulässig, da der Widerspruch rechtzeitig bei dem Beklagten eingegangen sei.
Die organisatorischen Vorkehrungen des Beklagten für den Zugang fristgebundener
Schriftstücke genügten nicht den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG. Die
Notwendigkeit, auf den 2,6 km entfernten Nachtbriefkasten des Beklagten
auszuweichen, stelle eine unzumutbare Zugangserschwernis dar, mit der nicht zu
rechnen sei. Die Klage sei auch begründet. Das Vorhaben sei in der vorgesehenen Art
der Nutzung zulässig. Es könne nicht ausschließlich auf die zum Zeitpunkt der
Aufstellung des Bebauungsplans gültige Regelung in § 7 BauPolVO zurückgegriffen
werden. Ergänzend sei auch die zum Zeitpunkt der Rechtsanwendung maßgebliche
Fassung der Baunutzungsverordnung anzuwenden. Zur Konkretisierung der zulässigen
typisierten Nutzungen könne nicht bei dem mutmaßlichen Verständnis des damaligen
Verordnungsgebers stehen geblieben werden. Die Baupolizeiverordnung enthalte keine
konkreten Regelungen für Altenpflegeheime. Die verwendeten Rechtsbegriffe müssten
offen für ein sich dem Wandel der Lebensverhältnisse anpassendes Verständnis sein.
Die Kleingewerbegebiete der Baupolizeiverordnung seien mit den Mischgebieten in § 6
BauNVO vergleichbar. Dort stünden Wohnen und gewerbliche Nutzung gleichberechtigt
nebeneinander. Altenwohnheime bzw. Altenpflegeheime fielen unter den Begriff des
Wohngebäudes. Daneben seien auch Anlagen für soziale oder gesundheitliche Zwecke
in Mischgebieten zulässig. Unzulässig sei die Annahme des Beklagten, der
Blockinnenbereich sei gewerblich geprägt und mit Wohnnutzung nicht verträglich. Das
Gebiet habe seinen Charakter als Kleingewerbegebiet verloren. Entlang der Straße S1.
22
sei bereits jetzt Wohnbebauung ebenso wie in den hinteren Grundstücksbereichen
vorhanden. Einschränkungen für die bestehenden Gewerbebetriebe seien bei der
Errichtung des geplanten Bauvorhabens nicht zu erwarten.
Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung am 28. Februar 2007 unter
Zurücknahme der Klage im Übrigen ihr Begehren darauf reduziert, den Beklagten zu
verpflichten, ihr für die beabsichtigte Errichtung eines Altenwohn- und
23
-pflegeheims einen bauplanungsrechtlichen Vorbescheid beschränkt auf die Art der
Nutzung zu erteilen.
24
Die Klägerin beantragt,
25
den angefochtenen Gerichtsbescheid zu ändern und den Beklagten unter teilweiser
Aufhebung seines Bescheids vom 27. März 2003 und des Widerspruchsbescheids der
Bezirksregierung E. vom 2. Oktober 2003 zu verpflichten, ihr auf ihren Antrag vom 2.
September 2002 eine Bebauungsgenehmigung zur Errichtung eines Altenwohn- und -
pflegeheims auf dem Grundstück in E. , Gemarkung P. , Flur 4, Flurstücke 525 und 526,
beschränkt auf die Art der Nutzung im Rahmen der zur Genehmigung gestellten
Gebäude zu erteilen.
26
Der Beklagte beantragt,
27
die Berufung zurückzuweisen und die Klage abzuweisen.
28
Er bezieht sich zur Begründung auf seine Ausführungen im erstinstanzlichen Verfahren.
29
Die Berichterstatterin des Senats hat am 9. Februar 2007 eine Ortsbesichtigung
durchgeführt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll
verwiesen.
30
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der überreichten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
31
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
32
Das Verfahren war gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, soweit die Klägerin
ihre Klage mit Einwilligung des Beklagten zurückgenommen hat. Die Klagerücknahme
erfasst den geltend gemachten Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung zur
Errichtung eines Altenwohn- und -pflegeheims.
33
Die zulässige Berufung ist mit dem im Berufungsverfahren gestellten Antrag
unbegründet. Die Umstellung des Klageantrags ist als Klageänderung gemäß § 91 Abs.
1 VwGO jedenfalls deshalb zulässig, weil der Beklagte in sie eingewilligt hat. Die
Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1, 2. Alt. VwGO) hat keinen Erfolg.
34
1.
35
Die Klage ist - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - zulässig. Das
Widerspruchsverfahren ist ordnungsgemäß durchgeführt worden, insbesondere ist der
Widerspruch innerhalb der Frist des § 70 Abs. 1 VwGO erhoben worden. Danach ist der
36
Widerspruch innerhalb eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten
bekannt gegeben worden ist, schriftlich oder zur Niederschrift bei der Behörde zu
erheben, die den Verwaltungsakt erlassen hat.
Die danach einzuhaltende Widerspruchsfrist von einem Monat hat die Klägerin gewahrt.
Sie begann am 7. April 2003 zu laufen. Zwar wurde der angefochtene Bescheid nach
dem Absendevermerk des Beklagten mit einfachem Brief am 3. April 2003 zur Post
gegeben und gilt damit nach § 41 Abs. 2 Satz 1 VwVfG NRW mit dem dritten Tage nach
der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Der dritte Tag ist auch dann maßgebend,
wenn es sich - wie hier - um einen Sonntag handelt.
37
Vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, Kommentar, 7. Auflage 2000, § 41 Rdnr. 53.
38
Die vorgenannte Drei-Tages-Fiktion gilt jedoch gemäß § 41 Abs. 2 Satz 2 VwVfG NRW
dann nicht, wenn der Verwaltungsakt zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist.
Nach dem hinreichenden Vortrag in der Widerspruchsschrift und in der
Klagebegründung, dem der Beklagte nicht entgegen getreten ist, ist der
Ablehnungsbescheid der Klägerin am 7. April 2003 (Montag) zugegangen.
39
Die damit am 7. Mai 2003 endende Widerspruchsfrist wurde mit dem
Widerspruchsschreiben der Klägerin vom 6. Mai 2003 gewahrt. Die Klägerin hat
rechtzeitig Widerspruch erhoben. Der Widerspruch ist in dem Zeitpunkt erhoben, in dem
das Widerspruchsschreiben mit Wissen und Willen des Widerspruchsführers in den
Verfügungsbereich der Ausgangsbehörde gelangt ist.
40
Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 1992 - 7 C 16/92 -, NJW 1993, 1874.
41
Nach dem Vorbringen der Klägerin wurde die Widerspruchsschrift am 7. Mai 2003 von
einem ihrer Mitarbeiter persönlich in den Behördenbriefkasten C3.--------- straße 5
eingeworfen. Damit und nicht erst mit der Leerung des Briefkastens am 8. Mai 2003 ist
das Widerspruchsschreiben in den Verfügungsbereich des Beklagten gelangt.
42
Zweifel an der Darstellung der Klägerin über den Zeitpunkt des Einwurfs in den
Behördenbriefkasten werden von dem Beklagten nicht (mehr) geltend gemacht und sind
auch nicht ersichtlich. Insbesondere steht diesem Vortrag nicht entgegen, dass die
Widerspruchsschrift den Eingangsstempel "Büro Oberbürgermeister" trägt. Denn nach
der Stellungnahme des Fachamtes des Beklagten vom 8. Januar 2004 wird in der
Dienststelle C3.---------straße 5 eingegangene und an den Oberbürgermeister gerichtete
Post ungeöffnet an dessen Büro weitergeleitet, dort geöffnet und mit einem aktuellen
Eingangsstempel versehen. Damit ist auch zu erklären, dass die Widerspruchsschrift
nicht bereits einen Eingangsstempel vom 8. Mai 2003, sondern erst vom 9. Mai 2003
trägt.
43
Der Erhebung des Widerspruchs am 7. Mai 2003 durch Einwurf der Widerspruchsschrift
in den Behördenbriefkasten C3.---------straße 5 steht nicht entgegen, dass nach der
Aufschrift auf diesem Briefkasten dieser von montags bis freitags um 7.00 Uhr geleert
wird und Briefe zur Wahrung einer Frist in den Behördenbriefkasten X1. -C4. -B2. 6 bis 8
einzuwerfen sind. Die dahinter stehende Praxis des Beklagten, Briefe, die nach 7.00
Uhr in diesen Behördenbriefkasten eingeworfen worden sind, erst am darauffolgenden
Tag zu entnehmen, führt nicht dazu, dass von einem Zugang dieser Schriftstücke auch
erst am nächsten Tag auszugehen ist.
44
Eine andere Betrachtungsweise ist mit den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG nicht
vereinbar. Danach sind Mindeststandards in organisatorischer, verfahrensmäßiger und
inhaltlicher Hinsicht erforderlich. Aus Art. 19 Abs. 4 GG ergeben sich auch
Vorwirkungen auf die Ausgestaltung des dem gerichtlichen Rechtsschutzverfahren
vorgelagerten Verwaltungsverfahrens. Dieses darf nicht so angelegt sein, dass es den
gerichtlichen Rechtsschutz unzumutbar erschwert.
45
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 1982 - 2 BvR 1187/80 -, BVerfGE 61, 82 (110).
46
Die Grenze des Zumutbaren ist dann überschritten, wenn auf den Bürger die
Verantwortung für Risiken und Unsicherheiten bei der Entgegennahme rechtzeitig in
den Gewahrsam der Behörde gelangender fristwahrender Schriftsätze abgewälzt und
die Ursache hierfür allein in der Sphäre der Behörde zu finden ist.
47
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Mai 1991 - 2 BvR 215/90 -, NJW 1991, 2076.
48
Mit der Einrichtung eines Briefkastens am Dienstgebäude des Bauaufsichtsamtes hat
der Beklagte nach außen erkennbar eine Möglichkeit für die Empfangnahme von - auch
fristwahrenden - Schriftstücken geschaffen. Nutzt ein Bürger diesen Briefkasten - wie
hier vorgetragen - in den Morgenstunden eines Arbeitstages zu Beginn der üblichen
Geschäftszeiten, kann er berechtigt davon ausgehen, dass er das seinerseits
Erforderliche für den Zugang des Schriftstücks getan hat. Dies gilt unabhängig davon,
dass durch eine Aufschrift auf die einmalige Leerung um 7.00 Uhr und den 2,6 km
entfernten Nachtbriefkasten hingewiesen worden ist, weil mit einer derart
überraschenden Verfahrensweise auch ein sorgfältig seine Rechte wahrnehmender
Bürger nicht zu rechnen braucht.
49
Damit war es der Klägerin nicht verwehrt, die Widerspruchsschrift am letzten Tag der
Widerspruchsfrist auch nach 7.00 Uhr in den Behördenbriefkasten C3.--------- straße 5
mit fristwahrender Wirkung einzulegen.
50
Die Zulässigkeit der Klage scheitert im Übrigen nicht daran, dass die Erteilung eines
Bauvorbescheids nicht ausdrücklich Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gewesen
ist. Zwar sind die Voraussetzungen, unter denen nach § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2
VwGO ein Vorverfahren entbehrlich ist, nicht erfüllt. Über die gesetzlich geregelten Fälle
hinaus sind jedoch im Hinblick auf den Regelungszweck des § 68 VwGO weitere
Ausnahmen vom Erfordernis des Vorverfahrens zuzulassen. Ein Vorverfahren ist dann
entbehrlich, wenn im Wege der Klageänderung an Stelle des ursprünglich streitigen
Verwaltungsakts ein anderer Verwaltungsakt Gegenstand des Rechtsstreits wird und
das geänderte Klagebegehren im Wesentlichen denselben Streitstoff betrifft wie das
ursprünglich durchgeführte Vorverfahren.
51
Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. März 1982 - 1 C 157.79 -, DVBl. 1982, 692; ähnlich: Urteil
vom 22. Februar 1980 - 4 C 61.77 -, DVBl. 1980, 503.
52
Diese Voraussetzungen können insbesondere auch erfüllt sein beim Übergang von
einer Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung zu einer Klage auf Erteilung einer
Bebauungsgenehmigung.
53
Vgl. OVG NRW, Urteile vom 5. Juni 2000 - 10 A 696/96 - und vom 15. Mai 2001 - 10 A
54
4605/98 -.
Der streitige Vorbescheid betrifft einen Ausschnitt der ursprünglichen begehrten
Baugenehmigung, die Gegenstand des Verwaltungsverfahrens war.
55
2.
56
Die Klage ist jedoch auch mit dem nunmehr gestellten Antrag unbegründet.
57
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Erteilung eines positiven
baurechtlichen Vorbescheids - beschränkt auf die Art der Nutzung (§ 113 Abs. 5 Satz 1
VwGO).
58
Dem beantragten Vorhaben stehen öffentlich-rechtliche Vorschriften entgegen (§ 71
Abs. 2 in Verbindung mit § 75 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW), weil es bauplanungsrechtlich
unzulässig ist. Es fügt sich hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht im Sinne der
hier einschlägigen bauplanungsrechtlichen Vorschrift des § 34 Abs. 1 BauGB in die
Eigenart der näheren Umgebung ein.
59
Eine Beurteilung der planungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens bezüglich der Art
seiner Nutzung nach § 30 BauGB scheidet aus. Der seit dem 30. Juni 1962
rechtsverbindliche Bebauungsplan Nr. 5575/48 ist unwirksam. Denn die auf dem
Bebauungsplan befindliche Ausfertigung vom 2. März 1962 ist durch den
Oberstadtdirektor der Stadt E. und damit nicht in der erforderlichen Form erfolgt.
60
Durch die Ausfertigung des als Satzung und damit als Rechtsnorm beschlossenen
Bebauungsplans soll sichergestellt werden, dass der Inhalt des Plans mit dem Willen
des gemeindlichen Beschlussorgans übereinstimmt. Das Bundesrecht ließ und lässt
ungeregelt, welche Anforderungen an eine solche Ausfertigung zu stellen sind.
61
Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24. Mai 1989 - 4 NB 10.89 -, BRS 49 Nr. 25 und vom 16.
Mai 1991 - 4 NB 26.90 -, BRS 52 Nr. 32.
62
Mangels ausdrücklicher normativer Vorgaben im maßgeblichen Landesrecht für die
Ausfertigung von Bebauungsplänen reicht es aus, wenn eine Originalurkunde
geschaffen wird, auf welcher der Bürgermeister als Vorsitzender des Rats, mithin des
zuständigen Beschlussorgans der Gemeinde schriftlich bestätigt, dass der Rat an einem
näher bezeichneten Tag "diesen Bebauungsplan als Satzung beschlossen" hat.
63
Einen derartigen vom Ratsvorsitzenden unterzeichneten Vermerk enthält die
Planurkunde jedoch nicht. Im hier maßgeblichen Zeitpunkt konnte die für die
Ausfertigung erforderliche Herstellung einer Originalurkunde, hinsichtlich der
dokumentiert wird, dass sie den Inhalt der von dem Rat beschlossenen Festsetzungen
zutreffend wiedergibt, durch den Gemeindedirektor nicht erfolgen. Zwar war dieser
grundsätzlich gesetzlicher Vertreter der Gemeinde in Rechts- und
Verwaltungsgeschäften (§ 55 Abs. 1 Satz 2 GO NRW vom 21. Oktober 1952, GV. NRW.
S. 269) und führte auch die Beschlüsse des Rates durch (§ 47 Abs. 1 Satz 2 GO NRW
1952). Gemäß § 37 Abs. 3 Satz 1 GO NRW 1952 war jedoch allein der Bürgermeister
oder sein Stellvertreter berechtigt, Bekanntmachungen des Ortsrechts zu unterzeichnen.
64
Vgl. hierzu OVG NRW, Urteile vom 28. März 1956 - III A 712/55 -, Kottenberg- Steffens-
65
Henrichs, Rechtsprechung zum kommunalen Verfassungsrecht, Band 5 Nr. 4 zu § 37
GO, vom 28. August 1968 - III A 855/58 -, Kottenberg-Steffens-Henrichs,
Rechtsprechung zum kommunalen Verfassungsrecht, Band 5 Nr. 28 zu § 37 GO und
vom 17. Januar 1994 - 11 A 2396/90 -, BRS 56 Nr. 24.
Die Bekanntmachungsverordnung, nach der der Gemeindedirektor auch beauftragt war,
das ordnungsgemäße Zustandekommen der von dem Rat beschlossenen Satzungen zu
prüfen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 BekanntmVO) trat erst am 12. September 1969 (GV. NRW. S.
684) in Kraft.
66
Demzufolge beurteilt sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens der
Klägerin nach § 34 BauGB. Das Vorhabengrundstück liegt innerhalb eines im
Zusammenhang bebauten Ortsteils der Stadt E. . Das von ihr geplante Altenwohn- und -
pflegeheim ist hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung jedoch nicht nach § 34 Abs. 1
BauGB zulässig, da es sich insofern nicht in die Eigenart der näheren Umgebung
einfügt.
67
Die Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich diesbezüglich nicht nach § 34 Abs. 2
BauGB, da die nähere Umgebung des Baugrundstücks keinem der Baugebiete der
Baunutzungsverordnung entspricht. Vielmehr handelt es sich um eine Gemengelage.
68
Der gemäß § 34 Abs. 1 BauGB als "nähere Umgebung" den Beurteilungsmaßstab für
das Einfügen bildende Bereich reicht so weit, wie sich die Ausführung des zur
Genehmigung gestellten Vorhabens auswirken kann und wie die Umgebung ihrerseits
den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder beeinflusst.
69
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. August 1998 - 4 B 79.98 -, BRS 60 Nr. 176.
70
Nach dem Eindruck in der Örtlichkeit, den die Berichterstatterin des Senats vor Ort
gewonnen und dem Senat - auch anhand des vorliegenden Lichtbildmaterials vermittelt
hat - gehört gemessen an diesen Kriterien zur maßgeblichen näheren Umgebung
hinsichtlich des Merkmals der Art der baulichen Nutzung die Bebauung, die westlich
von der Straße S1. , nördlich von der P1. B. eingefasst wird, sich Richtung Osten bis zur
Eisenbahnstrecke E. - L1. erstreckt und im Süden mit den drei Sportplätzen endet. Die
genannten Straßen bzw. die Eisenbahnstrecke und die Sportanlagen stellen jeweils
eine städtebauliche Zäsur dar und grenzen diesen Bereich von der weiteren Bebauung
deutlich ab.
71
Die Eigenart der so eingegrenzten näheren Umgebung wird hinsichtlich der Art der
baulichen Nutzung grundsätzlich durch alle baulichen Nutzungen bestimmt, die
tatsächlich vorhanden sind. Maßgeblich ist in der Regel jede - optisch wahrnehmbare -
Bebauung, die für die angemessene Fortentwicklung des vorhandenen Bestands
maßstabsbildend ist.
72
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. Juni 2002 - 4 B 30.02 -, BRS 65 Nr. 80; OVG Urteil
vom 21. November 2005 - 10 A 1166/04 -, BauR 2006, 959.
73
Hiervon ausgehend entspricht die maßgebliche nähere Umgebung keinem der in der
Baunutzungsverordnung bezeichneten Baugebiete. Eine Einstufung als Mischgebiet im
Sinne von § 6 BauNVO kommt nicht in Betracht, weil die Umgebung des Grundstücks
nicht durch ein - für ein Mischgebiet im Sinne von § 6 BauNVO typisches -
74
Nebeneinander von Wohnnutzung und damit verträglicher gewerblicher Nutzung
geprägt ist, wobei keine der genannten Hauptnutzungsarten derart dominieren darf,
dass von einem qualitativen und quantitativen Gleichgewicht nicht mehr gesprochen
werden könnte.
Vgl. BVerwG, Urteile vom 25. November 1983 - 4 C 64.79 -, BRS 40 Nr. 45, vom 21.
Februar 1986 - 4 C 31.83 -, BRS 46 Nr. 51 und vom 4. Mai 1988 - 4 C 34.86 -, BRS 48
Nr. 37.
75
Zwar ist in dem oben beschriebenen Bereich sowohl Wohnnutzung als auch
gewerbliche Nutzung vorhanden. Der Annahme eines Mischgebiets steht aber
entgegen, dass sich in der näheren Umgebung mit dem Baumarkt eine bauliche
Nutzung findet, für die wegen seiner Größe der Verkaufs- und Geschossfläche nach der
Vermutungsregel des § 11 Abs. 3 Satz 3, Abs. 1 BauNVO von einer Sonder- bzw.
Kerngebietspflichtigkeit auszugehen ist. Die Geschossfläche des Baumarkts, dessen
Räumlichkeiten sich über die Grundstücke P1. B. 51, 53 und 55 erstrecken, liegt mit
mindestens 5.000 qm Verkaufsfläche deutlich über 1.200 qm. Auch das Vorhandensein
der Sportanlage ist mit einem Mischgebiet unvereinbar. Allerdings sind nach § 6 Abs. 2
Nr. 5 BauNVO Anlagen für sportliche Zwecke in einem Mischgebiet zulässig. Aufgrund
der Größe dieser Anlage mit drei Sportplätzen und ihrer Ausstattung, insbesondere mit
Flutlichtmasten, die einen Spielbetrieb auch in den Abendstunden ermöglichen, handelt
es sich hierbei jedoch nicht um eine Anlage, die zulässiger Bestandteil gleichwertiger
möglicher Nutzungen in einem Mischgebiet ist und von § 6 BauNVO erfasst wird.
76
Die maßgebliche nähere Umgebung ist danach wegen des Nebeneinander der
vorbeschriebenen Nutzungen der baulichen Anlagen als eine Gemengelage
einzustufen, so dass die Zulässigkeit des Vorhabens nach § 34 Abs. 1 BauGB zu
beurteilen ist.
77
Das von der Klägerin geplante Altenwohn- und -pflegeheim fügt sich mit dem
vorgesehenen Standort der zur Genehmigung gestellten Baukörper - sie sollen das
Grundstück in seiner gesamten Tiefe ausnutzen - nach der Art der baulichen Nutzung
nicht in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Das Vorhaben hält sich insoweit nicht
innerhalb des Spektrums der bereits vorhandenen Nutzung der oben beschriebenen
näheren Umgebung.
78
Zwar ist die beabsichtigte Nutzung nach dem von der Klägerin vorgelegten
Einrichtungskonzept als eine Form des Wohnens zu qualifizieren (vgl. § 3 Abs. 4
BauNVO). Der Begriff des Wohnens umfasst auch den dauerhaften Aufenthalt alter
Menschen in Betreuungseinrichtungen, in denen neben der häuslichen Unterbringung
auch ein dem persönlichen Bedarf entsprechendes intensives Pflege- und
Betreuungsangebot vorhanden ist. Maßgebend ist, dass nach dem Nutzungskonzept
noch ein Mindestmaß an eigenständiger Gestaltung und Sicherung des Lebensbereichs
und des häuslichen Lebens der Einwohner gegeben ist. Eine unter Umständen
erforderliche Pflegeleistung kann zwar gegenüber der eigenständig gestalteten
häuslichen Lebensführung in den Vordergrund rücken. Dies schließt aber ein -
reduziertes - Wohnen in der durch die erforderlichen Pflegemaßnahmen geprägten
Umgebung begrifflich nicht aus.
79
Vgl. hierzu OVG Hamburg, Beschluss vom 27. April 2004 - 2 Bs 108/04 -, BauR 2004,
1571; BayVGH, Urteil vom 22. Mai 2006 - 1 B 04.3531 -, Juris- Dokumentation.
80
Die beabsichtigte Errichtung eines Altenwohn- und -pflegeheims ist bisher in der
näheren Umgebung des Grundstücks der Klägerin ohne Vorbild. Zwar werden die
unmittelbar an der Straße S1. bzw. an der P1. B. direkt gelegenen, bis zu
sechsgeschossigen Gebäude überwiegend zu Wohnzwecken genutzt. Die rückwärtig
gelegenen Grundstücke werden jedoch von intensiver gewerblicher Nutzung geprägt.
Insbesondere nimmt der Baumarkt den größten Teil der rückwärtigen Flächen ein.
Daneben wird die Nutzung dieses von den genannten Straßen zurückliegenden
Bereichs durch den Lebensmittel- und Getränkemarkt sowie den Sanitärhandel geprägt.
Demgegenüber hat das Vorhaben der Klägerin, das das Grundstück in voller Tiefe
ausnutzen soll und damit von dieser gewerblichen Nutzung umschlossen würde, kein
Vorbild.
81
Dies gilt auch mit Blick auf die tatsächlich vorhandene Wohnnutzung in dem zwei- bzw.
eingeschossigen Flachdachbau im rückwärtigen Bereich des Flurstücks 494. Der
Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung substantiiert dargelegt, dass diese
Wohnnutzung illegal erfolgt. Selbst wenn es sich hierbei jedoch um eine legale Nutzung
handeln sollte, kann diese nicht den entsprechenden Rahmen für eine zulässige
Wohnbebauung in dem rückwärtigen Bereich des Grundstücks der Klägerin vermitteln.
Die dortige Wohnnutzung hat keinen prägenden Einfluss. Ihr fehlt das für einen Rahmen
erforderliche hinreichende Gewicht. Zum einen erstreckt sich die Wohnnutzung nicht
über den gesamten Grundstücksbereich und nutzt das Grundstück nicht in einer derart
umfassenden Weise aus, wie die Klägerin es für ihr Vorhaben vorgesehen hat. Zum
anderen erreicht auch das Flurstück 494 nicht die Tiefe des Vorhabengrundstücks und
hat an der hier maßgebenden näheren Umgebung nur einen entsprechend kleinen
Anteil.
82
Zwar führt der Umstand, dass ein Vorhaben den aus der Umgebung hervorgehenden
Rahmen überschreitet, indem es dort kein "Vorbild" oder keine "Entsprechung" findet,
für sich allein noch nicht dazu, dass es sich nicht einfügt. Letzteres hängt vielmehr -
zusätzlich - davon ab, ob das Vorhaben geeignet ist, bodenrechtlich beachtliche und
erst noch ausgleichsbedürftige Spannungen zu begründen oder vorhandene
Spannungen zu erhöhen, ob es - anders ausgedrückt - die ihm vorgegebene Situation
gleichsam in Bewegung bringt und damit eine "Unruhe" stiftet, die potenziell ein
Planungsbedürfnis nach sich zieht.
83
Vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Mai 1978 - 4 C 9.77 -, BRS 33 Nr. 36, vom 27. Mai 1983 -
4 C 67.78 -, BRS 40 Nr. 56, vom 15. Dezember 1994 - 4 C 13.93 -, BRS 56 Nr. 61 und
vom 17. Juni 1993 - 4 C 17.91 -, BRS 55 Nr. 72.
84
Die von der Klägerin beabsichtigte Errichtung eines Altenwohn- und -pflegeheims
würde jedoch die vorgegebene bodenrechtliche Situation in diesem Sinne in Bewegung
bringen und ausgleichsbedürftige Spannungen begründen. Das insoweit insbesondere
in den Blick zu nehmende Interesse der Bewohner des geplanten Altenheims, vor
unzumutbaren Lärmimmissionen geschützt zu werden, wäre erheblich betroffen. Dies
gilt schon wegen des Lärms, der von den in ca. 80 m Entfernung liegenden drei
Sportplätzen sowie von der ca. 100 m entfernten Hauptstrecke der Eisenbahn zwischen
E. und L1. und dem S-Bahnbahnhof E. -W. auf die Bewohner des Altenwohn- und -
pflegeheims einwirkt. An die vorgesehene Bebauung schließen sich weiter mit dem
Bau-, Getränke- und Lebensmittelmarkt in direktem Anschluss gewerbliche Nutzungen
mit beachtlichen Lärmimmissionen an. So befindet sich insbesondere die
85
Stellplatzanlage des Lebensmittelmarkts neben der geplanten baulichen Anlage. Auch
sein Anlieferverkehr wird unmittelbar neben dem vorgesehenen Baukörper abgewickelt.
Angesichts dessen wird das Vorhaben bzw. werden seine Bewohner Belästigungen
ausgesetzt sein, so dass die Anforderungen an gesunde Wohnverhältnisse entgegen
den Anforderungen des § 34 Abs. 1 Satz 2 BauGB aller Voraussicht nach nicht mehr
gewahrt wären. Bei einer Erfüllung dieser Vorgaben hätten die bestehenden
gewerblichen Betriebe und die Sportanlagen ihrerseits Einschränkungen der
Nutzbarkeit zu befürchten. Die Entstehung eines städtebaulichen Missstandes wäre zu
gewärtigen, da die bisher mit der unterschiedlichen Blockrand- und
Blockinnenbebauung gewährleistete und erforderliche Trennung von gewerblicher
Nutzung und Wohnnutzung aufgehoben würde und die unterschiedlichen Nutzungen
unmittelbar aufeinander träfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 155 Abs. 2 VwGO.
86
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO in
Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 und 713 ZPO.
87
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.
88
89