Urteil des OVG Niedersachsen vom 10.04.2013
OVG Lüneburg: bebauungsplan, abgrenzung, europäische kommission, schutz des lebens, wirkung ex tunc, ausweisung, eugh, niedersachsen, karte, umwelt
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Unzulässige Beeinträchtigung eines faktischen
Vogelschutzgebietes durch eine kommunale
Entlastungsstraße
OVG Lüneburg, Urteil vom 10.04.2013, 1 KN 33/10
Art 4 Abs 4 S 1 EGRL 147/2009
Tenor
Die vom Rat der Antragsgegnerin am 31. Januar 2011 als Satzung
beschlossene 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 72 "Kommunale
Entlastungsstraße B" und der vom Rat der Antragsgegnerin am 8. Februar
2010 als Satzung beschlossene Bebauungsplan Nr. 72 "Kommunale
Entlastungsstraße B" werden für unwirksam erklärt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Normenkontrollverfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110
% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Antragsteller wendet sich gegen die im Betreff genannten
Bebauungspläne, weil er seine landwirtschaftlichen Flächen durch die
Entlastungsstraße entwertet und den Vogelschutz beeinträchtigt sieht.
Der Antragsteller ist Eigentümer des ehemaligen landwirtschaftlichen Hofes E.
mit etwa 70 ha zusammenhängender Fläche, die er bislang verpachtet hat und
von denen etwa 2/3 durch die zwischenzeitlich fertiggestellte
Umgehungsstraße vom Hofgebäude abgetrennt werden. Die Hofgebäude sind
der Ortslage von B westlich vorgelagert.
Die Entlastungsstraße ist etwa 2.140 m lang und schließt mit einem Kreisel an
den bisherigen Verlauf der Landesstraße 5 an. Sie führt von dort in südöstliche
Richtung im Bogen im Abstand von 200 – 250 m um die Ortslage herum; die
Hofgebäude des Antragstellers liegen linksseitig der Straße. Der Teilplan I
endet vor der Querung des F. Weges im Teilplan II. Im Teilplan III befinden sich
Anschlüsse an die Landesstraßen 8 und 5; die dortige Anbindung des nach
Osten weiterführenden Teils der Landesstraße 5 an die Landesstraße 8 wird
auf die neue Trasse verlegt. Der Teilplan IV betrifft Kompensationsflächen
außerhalb des Trassenbereiches.
Die Entlastungsstraße war in Gestalt des Bebauungsplanes Nr. 67 bereits
Gegenstand des Normenkontrollurteils des Senats vom 22. Mai 2008 (– 1 KN
149/05 –, NuR 2008, 805), gegen welches das Bundesverwaltungsgericht die
Revision zur Klärung der Frage zugelassen hat, ob ein Bebauungsplan für
eine Umgehungsstraße, der beschlossen wurde, ohne zu klären, ob die
Trasse in einem faktischen Vogelschutzgebiet lag, allein deshalb als wirksam
betrachtet werden kann, weil das Land der Europäischen Kommission das
fragliche Gebiet nach der ortsüblichen Bekanntmachung des Bebauungsplans
als Europäisches Vogelschutzgebiet nachgemeldet hat, ohne das Plangebiet
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in die Meldung einzubeziehen (BVerwG, Beschl. v. 17.6.2009 – 4 BN 28.08 –,
juris; nunmehr unter dem Aktenzeichen 4 CN 2.09). Das
Bundesverwaltungsgericht hat das Revisionsverfahren mit Beschluss vom 1.
Juli 2010 – 4 CN 2.09 – bis zur Erledigung des hier anhängigen
Normkontrollantrags gegen den Bebauungsplan Nr. 72 ausgesetzt.
Zur Behebung etwaiger – nach Auffassung der Antragsgegnerin mit der
Zulassungsfrage aufgezeigter – verfahrensrechtlicher Bedenken gegen den
Plan Nr. 67 führte die Antragsgegnerin das Bauleitplanverfahren insgesamt
neu durch. Ihr Verwaltungsausschuss beschloss am 12. Oktober 2009 die
Aufstellung des Bebauungsplanes Nr. 72 sowie am 26. November 2009 die
öffentliche Auslegung. Am 28. November 2009 machte die Antragsgegnerin
den Aufstellungsbeschluss im Anzeiger H sowie öffentlich bekannt, dass der
Entwurf des Bebauungsplanes einschließlich Begründung, Umweltbericht,
Grünordnungsplan und die Avifaunistische Bestandserfassung vom 7.
Dezember 2009 bis zum 7. Januar 2010 öffentlich ausliege.
Der Bebauungsplan Nr. 72 ist im Wesentlichen inhaltsgleich mit seiner
Urfassung und dem Vorgängerplan Nr. 67. Er setzt allerdings erstmals fest,
dass die Umgehungsstraße mit so genanntem Flüsterasphalt ausgebaut und
mit einer 1,75 m hohen Lärm- und Sichtschutzwand zum Schutze der
Wohnbevölkerung und des Vogelschutzgebietes versehen wird. Sein etwa
47,5 ha großes Plangebiet berührt die zwischenzeitlich vom Land
Niedersachsen gemäß § 34 b Abs. 1 NNatG zum Europäischen
Vogelschutzgebiet erklärte "Ostfriesische Seemarsch zwischen Norden und
Esens" (V 63, Bekanntmachung vom 28. Juli 2009, Nds.MBl. S. 783).
Mit der Bekanntmachung dieses 8.043 ha großen Vogelschutzgebietes
reagierte das Land im Nachmeldeverfahren auf die Aufforderung der
Europäische Kommission im Vertragsverletzungsverfahren 2001/5117, die
Fläche "Important Bird Areas Norden-Esens" in einer Größe von etwa 10.000
ha als besonderes Schutzgebiet auszuweisen, weil es die Kriterien hierfür
nicht nur hinsichtlich der Rastbestände von Gänsen, Watvögeln, Möwen etc.,
sondern auch in Bezug auf das Blaukehlchen (150 Brutplätze) erfülle (unter
Bezugnahme auf G. 2002, 1998). Dabei nahm das Land das Plangebiet, das
nach Sudfeldt et al. ebenfalls unter der Nummer NI044 als bedeutende
Vogelschutzgebiete in Deutschland aufgeführt war (Ber. Vogelschutz 38
(2002), Eintrag "Norden-Esens, "Important Bird Areas Norden-Esens",
Binnendeichs, 10.485 ha", Stand vom 1. Juli 2002, 48), von der Meldung aus.
Das gemeldete Vogelschutzgebiet verläuft im Bereich B von Westen kommend
entlang des F. Tiefs bis zum landwirtschaftlichen Hof L, von dort entlang der
Parzellengrenze (Flurstück 34) nach Westen und weiter entlang der
streitgegenständlichen Kommunalen Entlastungsstraße und des
landwirtschaftlichen Hofes H. 6 an der L 5 und weiter östlich von B entlang der
L 5 bis etwa Höhe Meedhammer Weg und dann in nördlicher Richtung bis zum
Oldenburger Tief. Es erstreckt sich zwischen den Städten Norden und Esens
vom Deich aus bis maximal 4,5 km, meist jedoch auf einer Breite von etwa 2
km, ins Hinterland.
Nach der vom Land Niedersachsen in Auftrag gegebene Gastvogelerfassung
im EU-Vogelschutzgebiet V63 "Ostfriesische Seemarsch zwischen Norden
und Esens 2008/2009" ist die Landschaft geprägt durch intensive
landwirtschaftliche Nutzung. Überwiegend wird Raps und Wintergetreide sowie
– vor allem in den südlichen Bereichen – auch Mais angebaut. Grünland ist im
wesentlichen Teil des Gebietes nur vereinzelt in den dort südlich gelegenen
Bereichen zu finden. Westlich B nimmt der Grünlandanteil zu und überwiegt
dann zwischen B und N. Auch die Polder werden ackerbaulich genutzt. Die
landwirtschaftlichen Parzellen werden vielfach von schilfbestandenen Gräben
gesäumt. Das Gebiet hat eine besondere Bedeutung durch ökologische
Wechselbeziehungen mit dem Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer,
z. B. als Hochwasserrastplatz oder als Nahrungshabitat für Gastvögel. Die
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Gastvogelerfassung hat im Zeitraum von Oktober 2008 bis April 2009
insgesamt 73 Gastvogelarten festgestellt. Danach nutzt der Große Brachvogel
in einer Anzahl von bis zu 3.499 Vögeln den Planungsraum im östlichen
Bereich des Teilabschnittes III. Dem dortigen Bestand kommt eine nationale
Bedeutung zu (vgl. Karte 9). Die Karte zur Raumnutzung aller erfassten Arten
im gesamten Untersuchungsraum – V63 – zeigt eine Ballung von Trupps an
der östlichen Grenze des Vogelschutzgebietes im Bereich B. Direkt an der
westlichen Grenze der Entlastungsstraße sind zwei Trupps eingetragen, in der
unmittelbaren Umgebung südlich der Entlastungsstraße befinden sich weitere
5 Trupps (vgl. Karte 14). Nach der nachrichtlichen Übernahme der
Schutzgebietsgrenzen betrifft das Plangebiet festgesetzte Flächen für die
Landwirtschaft und öffentliche Grünflächen, aber auch Straßenverkehrsflächen
und Verkehrsflächen besonderer Zweckbestimmung (landwirtschaftlicher
Weg). Außerdem liegen die Ausgleichsflächen des Teilplanes IV im
Vogelschutzgebiet.
Zur Begründung des Bebauungsplans Nr. 72 stellt die Antragsgegnerin auf die
Ausführungen des Vorgängerplans ab. Danach will sie die Ziel- und
Quellverkehre der touristisch stark frequentierten Bereiche im Osten und
Westen von B, die in den Sommermonaten ca. zwei Drittel der
Gesamtverkehrsmenge ausmachten, um den Ortskern herumführen.
Zusätzlich solle die Möglichkeit der Erschließung zukünftiger Siedlungsflächen
geschaffen werden. Außerdem sollten weitere im Zuge der Baumaßnahme
benötigte Flächen gesichert sowie Flächen für Kompensationsmaßnahmen
vorgehalten werden. Die Begründung stellt die Bedeutung des
Fremdenverkehrs für B dar und erörtert die Verkehrsbelastung anhand einer
1998 in Auftrag gegebenen Verkehrsuntersuchung durch das Ingenieurbüro I..
Danach seien in Teilabschnitten der Landesstraße 5 im Bereich des Ortskerns
in der Ferienzeit bis zu 11.450 Kfz/24 h gezählt worden. Durch diese enorme
Belastung, die einem erholsamen Kur- und Urlaubserlebnis durch die damit
verbundenen Lärm- und Abgasbelastung abträglich sei, werde die wesentliche
Lebensgrundlage der lokalen Wirtschaft gefährdet. Eine Aufschlüsselung nach
Verkehrsarten habe für den Durchgangsverkehr einen Anteil von 22,4 % und
für den Binnenverkehr einen Anteil von 10,9 % erbracht, für den Quell- und den
Zielverkehr jeweils von 33,3 %. Die so belastete Ortsdurchfahrt bilde eine
Barriere zwischen Strand- und Hafenbereich sowie den Wohn- und
Ferienquartieren. Die Lärm- und Abgasbelastung müsse nach der
Klimauntersuchung zum Anerkennungsverfahren für das Heilbad kurzfristig
zurückgeführt werden. Nach dem Gutachten seien untypischerweise die Quell-
und Zielverkehre das Problem, insbesondere die Verkehre zum Fährhafen und
zu den Inselparkplätzen im Osten bzw. zu den Strandarealen und den
Stellplätzen im Westen. Ein weiterer planerischer Aspekt sei die städtebauliche
Entwicklungsperspektive des westlichen Teilbereiches von B. Dieser Bereich
werde nur von Norden im Wesentlichen durch zwei Straßen erschlossen, die in
der Ferienzeit erheblich belastet seien. Eine zusätzliche Erschließung von
Süden her bzw. die Anbindung künftiger Siedlungserweiterungsflächen
vermeide diese Problematik.
Eine ursprüngliche Planung der Straße durch den Landkreis W sei wegen
Zuständigkeitsbedenken gestoppt worden; die bereits erarbeitete
verkehrstechnische Planung bilde aber die Grundlage für den jetzigen
Bebauungsplan. Das gleiche gelte für die von Dr. J. in den Jahren 1999/2000
erstellte avifaunistische Bestandserfassung (Brut- und Rastvögel) sowie eine
ergänzende Nachkartierung aus 2003, für die Biotopkartierung und für die
2002 durchgeführte Umweltverträglichkeitsstudie, die Grundlage für die
Auswahl der Trassenalternativen gewesen sei.
Als erhebliche nachteilige Umweltauswirkung, die zu kompensieren sei, führte
die Begründung u. a. die Zahl der durch den Straßenbau verloren gehenden
Brutplätze an, wobei diese abgesehen von Kibitzen (bis etwa 18 Brutpaare)
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maximal jeweils vier Brutpaare nicht übersteigen soll (bei Blaukehlchen bis zu
0,4 Brutpaare). Im Grünordnungsplan sind die sicheren und möglichen
Brutplätze im Umfeld der Trasse im Konflikt- und Bestandsplan verzeichnet.
Danach komme dem gesamten Plangebiet bis direkt an die Siedlungsfläche
von B hinsichtlich der Wiesenbrut- und Rastvögel eine zum Teil hohe
Bedeutung zu (S. 42 f. Grünordnungsplan von September 2004, BA C).
Ausschlaggebend – unter Bezugnahme auf die Beurteilung von K. und G. –
seien die Rastvogelzahlen in diesem Gebiet – insbesondere von Ringelgans,
Sturmmöwe, Lachmöwe, großer Brachvogel, Goldregenpfeifer und Kiebitz –
gewesen; im Planungsraum seien hiervon mit Rastvogelvorkommen lokaler
Bedeutung der Große Brachvogel vertreten, mit kleineren Vorkommen
Lachmöwe, Goldregenpfeifer und Kiebitz. Daneben spielten
Brutvogelvorkommen eine bestimmte Rolle, wobei aus dem Plangebiet vor
allem das Blaukehlchen und die Rohrweihe genannt werden müssten.
Die Antragsgegnerin führt zum zwischenzeitlich gemeldeten
Vogelschutzgebiet aus, aufgrund der Meldung des Gebietes an die EU-
Kommission stehe fest, dass die Straßentrasse nicht im Vogelschutzgebiet
liege und insofern auch nicht die Anforderungen für einen Eingriff in ein
faktisches Vogelschutzgebiet zur Anwendung kämen.
Nach der durch das Büro I. erstellten Avifaunistischen Bestandserfassung vom
Januar 2000 sind im Plangebiet etwa 430 Kiebitze und 155 Große Brachvögel
kartiert worden (Ausgewählte Beobachtungen, BA E). Im Plangebiet befinden
sich wahrscheinliche Brutplätze der Feldlerche, des Feldschwirl, des
Schilfrohrsängers, der Rohrammer und des Austernfischers. Die
Auswertungskarte "Rote-Liste-Arten" weist sichere und wahrscheinliche
Brutpaare des Kiebitz, des Schilfrohrsängers, der Rohrweihe und des
Braunkehlchens im Verlauf der Entlastungsstraße aus. In der Anschlussstelle
der Umgehungsstraße/L5 nordwestlich von B sind an zwei Stellen Kiebitze als
sicher brütend kartiert worden.
Der Antragsteller machte im Auslegungsverfahren mit Schreiben vom 7.
Januar 2010 Anregungen und Bedenken gegen den Planentwurf geltend. Er
trug vor, dass der Plan an diversen Mängeln leide. Die Abgrenzung des V63
im Bereich der Ortschaft B sei mit dem Ziel erfolgt, die Entlastungsstraße zu
ermöglichen. Es sei kein sachlicher Grund ersichtlich, weshalb das
Vogelschutzgebiet nicht weiter an den westlichen und südlichen
Siedlungsbereich heranrücken solle. Die Grenzziehung werde den
Anforderungen an eine europarechtlich gebotene Schutzgebietsausweisung
nach ausschließlich naturschutzfachlichen Kriterien nicht gerecht. Die
Rechtmäßigkeit der Schutzgebietsausweisung unterliege der gerichtlichen
Kontrolle.
Zudem sei die Planung nicht erforderlich. Der Begründung lasse sich nicht
entnehmen, wie die Ziel- und Quellverkehre im Osten und Westen von B in
den Sommermonaten um den Ortskern herum geführt werden könnten.
Ungeachtet dessen seien die im Verkehrsgutachten genannten Zahlen aus
dem Jahr 1998 veraltet und stellten die Belastung im Ortskern zu negativ dar.
Die Übernachtungszahlen seien entgegen der damaligen Prognosen in den
Jahren 2008 und 2009 gesunken. Außerdem sei die Antragsgegnerin von
ihrem Stadtentwicklungskonzept, südlich und westlich von B Siedlungsfläche
zu erschließen, abgerückt. Auch deshalb entfalle die Erforderlichkeit der
Planung.
Der Rat der Antragsgegnerin beschloss in seiner Sitzung vom 8. Februar 2010
über die Einwendungen sowie den Plan als Satzung. Dies wurde am 11.
Februar 2010 im Amtsblatt bekannt gemacht.
Mit Beschluss vom 19. April 2010 hat das Bundesverwaltungsgericht (– 4 VR
2.09 –) den Eilantrag des Antragstellers auf Außervollzugsetzung des
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Bebauungsplanes Nr. 67 abgelehnt, weil sich die Antragsgegnerin für den Bau
der Straße nunmehr allein noch auf den Bebauungsplan Nr. 72 stütze.
Am 29. Oktober 2010 machte der Landkreis W die
Landschaftsschutzverordnung "Ostfriesische Seemarsch zwischen Norden
und Esens im Bereich des Landkreises W" in seinem Amtsblatt bekannt. Sie
umfasst im Bereich des Landkreises W 2.555 ha und ist deckungsgleich mit
dem Vogelschutzgebiet V63.
Am 8. November 2010 beschloss der Rat der Antragsgegnerin die 1.
Änderung des Bebauungsplanes Nr. 72, mit der die zuvor festgesetzte Lärm-
und Sichtschutzwand entfällt. Am 8. Dezember 2010 machte die
Antragsgegnerin den Aufstellungsbeschluss im Anzeiger H und öffentlich
bekannt, dass die 1. Änderung des Bebauungsplanes Nr. 72 einschließlich
Begründung, Umweltbericht und der Bebauungsplan Nr. 72 einschließlich
Begründung und Umweltbericht sowie der Grünordnungsplan zum
Bebauungsplan Nr. 67 vom 16. Dezember 2010 bis zum 17. Januar 2011
öffentlich ausliege. Der Antragsteller erhob im Auslegungsverfahren mit
Schreiben vom 29. Dezember 2010 unter Bezugnahme auf seine gerichtlichen
Ausführungen, insbesondere in diesem Verfahren, Anregungen und Bedenken
gegen den Planentwurf. Der Rat der Antragsgegnerin beschloss in seiner
Sitzung vom 31. Januar 2011 über die Einwendungen sowie den Plan als
Satzung. Das wurde am 28. Februar 2011 im Amtsblatt bekannt gemacht.
Anlass für die 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 72 sei, dass mit der
Ausweisung des Landschaftsschutzgebietes das bisherige faktische
Vogelschutzgebiet mit seinen strengen Verbotstatbeständen in ein
ausgewiesenes Vogelschutzgebiet überführt worden sei. Das habe zur Folge,
dass eine Verträglichkeits- bzw. Abweichungsprüfung anhand der
Erhaltungsziele des Vogelschutzgebietes und der
Landesschutzgebietsverordnung erfolgen könne; diese habe ergeben, dass
unverträgliche Auswirkungen des Planvorhabens nicht bestünden und die
festgesetzte Lärm- und Sichtschutzeinrichtung entbehrlich sei. Darüber hinaus
würde der Verzicht auf diese Einrichtung das Landschaftsbild wahren und
Aufwände in Millionenhöhe einsparen. Die Antragsgegnerin hielt an ihrer
Auffassung, dass das Planvorhaben außerhalb des Vogelschutzgebietes
liege, fest. Eine direkte Flächeninanspruchnahme des ausgewiesenen
Vogelschutzgebietes finde nur in einem zu vernachlässigenden Umfang statt.
Bezogen auf die Brutvogelpopulation sei durch das gesamte
Straßenbauvorhaben mit einem Gesamtverlust von insbesondere 18
Kiebitzbrutpaaren zu rechnen. Zu den Planungsvorgaben führt sie aus, dass
die kommunale Entlastungsstraße auf der Grundlage des Bebauungsplanes
Nr. 72 errichtet werde.
Der Antragsteller hat am 17. Februar 2010 sowohl einen Normkontrollantrag
als auch einen Eilantrag gegen den Bebauungsplan Nr. 72 gestellt. Letzteren
hat der Senat mit Beschluss vom 30. April 2010 – 1 MN 34/10 –, auf dessen
Gründe Bezug genommen wird, abgelehnt. Zur Begründung des
Normkontrollantrags trägt der Antragsteller im Wesentlichen vor:
Der Senat habe sich auch im Beschluss vom 30. April 2010 nicht mit seinem
substantiierten Vortag zum mangelnden Entlastungseffekt der
Umgehungsstraße und dem Verkehrsgutachten aus dem Jahr 1998
auseinandergesetzt. Beispielsweise unterstelle das Gutachten auf
Grünlandflächen des Antragstellers ein Verkehrsaufkommen von 1.600
Fahrzeugen täglich. Diese Fehlerhaftigkeit stelle das Gutachten grundsätzlich
in Frage.
Die Ausführungen des Senats zum Vogelschutz stünden nicht im Einklang mit
der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, des
Bundesverwaltungsgerichts und des 7. Senats des Niedersächsischen
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Oberverwaltungsgerichts. Danach habe die Abgrenzung europäischer
Vogelschutzgebiete gemäß Art. 4 Abs. 1 Satz 4 Vogelschutzrichtlinie
ausschließlich nach ornithologischen Kriterien und gerade nicht nach
Praktikabilitätserwägungen unter Berücksichtigung eines zukünftig geplanten
Vorhabens zu erfolgen. Das "Anschmiegen" eines Vogelschutzgebietes an
eine noch nicht realisierte Straßentrasse sei kein ornithologisches Kriterium,
sondern ein sachfremder Grund. Ob eine Ausweisung als Vogelschutzgebiet
aus sachfremden Erwägungen unterblieben sei, könne gerichtlich voll
überprüft werden.
Das Plangebiet liege in einem faktischen Vogelschutzgebiet, was die Karte
"Durchschneidung des Grabensystems durch die Trasse (18 x) und
straßenbaubedingte Auswirkungen in das (faktische) Vogelschutzgebiet" aus
dem Jahr 2004 (Anlage 4, GA III, Bl. 405), die Stellungnahme des Landkreises
W vom 10. Juni 2004 (BA A zu – 1 KN 149/05 –, Bl. 11) und der Vorschlag des
Niedersächsischen Umweltministeriums für das V63 im Jahr 2007 (GA – 1 KN
149/05 –, Bl. 162 bis 165) bestätige. Ferner habe sich das Plangebiet zum
Zeitpunkt der Planung und Aufstellung des Plans Nr. 67 in allen relevanten
IBA-Verzeichnissen befunden. Die Europäische Kommission habe im
Vertragsverletzungsverfahren 2001/5117 die Bundesrepublik Deutschland
aufgefordert, das (gesamte) Gebiet "IBA Norden-Esens" von etwa 10.000 ha
als Besonderes Vogelschutzgebiet auszuweisen. Dies sei der
Antragsgegnerin ausweislich der Begründungen der Pläne Nrn. 67 (GOP
September 2004, S. 42 f.) und 72 sowie der Änderung des 83.
Flächennutzungsplans, wonach der großräumige Vogelbrut- und Rastbereich
Norden-Esens bis an den Ortsrand von B reiche, bekannt. Das belege auch
der Gebietsvorschlag V63 des Niedersächsischen Umweltministeriums von
2006 (Anlage 3, GA III, Bl. 401).
Ferner bestehe – im Vergleich zur durchschnittlichen Bestandsdichte im
gesamten Vogelschutzgebiet V63 – aufgrund der Altschilfbestände, der
Gräben und Feuchtwiesen eine außergewöhnlich hohe Populationsdichte an
geschützten Vogelarten im Plangebiet. Das gelte insbesondere für den Kiebitz,
den Schilfrohrsänger und das Blaukehlchen.
Das Plangebiet stelle einen unverzichtbaren Korridor zu den Schutzgebieten
"Ostfriesische Seemarsch zwischen Norden und Esens" und dem
"Niedersächsischen Wattenmeer (V1)" dar, weil es zur Netzverknüpfung
("Kohärenz") beitrage.
Die Grenze des V63 sei nach sachfremden Kriterien gezogen worden. Der
erste Entwurf der Gebietsgrenze sei von einer Gebietsgrenze bis an die
Ortschaft B ausgegangen und habe damit der IBA-Abgrenzung aus K. & G.
(2000) entsprochen. Die Grenzziehung habe sich an im Gelände
nachvollziehbaren Strukturen wie etwa Straßen oder Ortsrändern orientiert.
Eine solche Grenze wäre auch vor dem Hintergrund der oben genannten
Bestandszahlen nicht zu beanstanden gewesen. Die spätere
Gebietsabgrenzung, die im Rahmen des Beteiligungsverfahrens im Herbst
2006 per CD verteilt worden sei, sei hiervon deutlich abgewichen und bereits
von der Ortschaft abgerückt, habe aber immerhin insoweit im streitigen Bereich
einen Schein von Fachlichkeit bewahrt, indem die Grenze wenigstens noch
anhand von im Gelände erkennbarer Strukturen gezogen worden seien. Die
gemeldete Gebietsgrenze verließe den Boden der Fachlichkeit vollends, denn
sie verlaufe ohne erkennbare Anbindung an vorhandene Geländestrukturen
um B herum. Eine fachlich begründete Abgrenzung hätte sich hingegen an der
Verbreitung der für die Abgrenzung maßgeblichen Brutvogelbestände
orientieren müssen. Die bewusste Heranziehung nichtfachlicher
Gesichtspunkte bei der Grenzziehung habe der Sachverständige Dr. G. in
seinem Gutachten "Zur Notwendigkeit eines Baustopps für die
Ortsentlastungsstraße zum Schutz der Vogelwelt" vom 23. Februar 2010 (G.
2010 b, S. 5 f.) bestätigt. Er berichte darin von einem Gespräch im
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Niedersächsischen Umweltministerium am 18. Dezember 2006, bei dem unter
den Fachleuten Einigkeit darüber herrschte, dass die Flächen des
Plangebietes die fachlichen Anforderungen an ein Vogelschutzgebiet erfüllten.
Der Antragsteller beantragt,
die vom Rat der Antragsgegnerin am 31. Januar 2011 als Satzung
beschlossenen 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 72 "Kommunale
Entlastungsstraße B"
und
den vom Rat der Antragsgegnerin am 8. Februar 2010 als Satzung
beschlossene Bebauungsplan Nr. 72 "Kommunale Entlastungsstraße B" für
unwirksam zu erklären,
hilfsweise, d. h. für den Fall, dass der Antrag gegen die 1. Änderung ohne
Erfolg bleibt,
festzustellen, dass der vom Rat der Antragsgegnerin am 8. Februar 2010
als Satzung beschlossene Bebauungsplan Nr. 72 "Kommunale
Entlastungsstraße B" unwirksam gewesen ist,
(weiter) hilfsweise,
die Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, sollte der Senat abweichend
von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs davon ausgehen,
dass das Plangebiet zum Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses nicht als
faktisches Vogelschutzgebiet zu behandeln und zu schützen und der
Bebauungsplan Nr. 72 vor der Unterschutzstellung und ohne FFH-
verträgliche Umweltprüfung zu vollziehen war,
(weiter) hilfsweise unter Beweis zu stellen,
dass die EU-Kommission nicht gewusst hat, dass bei der Abgrenzung des
Schutzgebietes V 63 "Ostfriesische Seemarsch zwischen Norden und
Esens" der Trassenverlauf der geplanten und sich in der gerichtlichen
Überprüfung befindlichen Umgehungsstraße B als leitende Richtschnur
berücksichtigt wurde und
dass die EU-Kommission die wirtschaftlich motivierte Ausgliederung des
Trassengebiets der Umgehungsstraße B aus dem faktischen
Vogelschutzgebiet nicht erkannt hat, weil ihr der beabsichtigte Straßenbau
und seine gerichtlich noch jetzt andauernde Überprüfung nicht mitgeteilt
worden ist,
(weiter) hilfsweise, das Revisionsverfahren beim Bundesverwaltungsgericht
zuzulassen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Anträge abzulehnen.
Sie hält die Abgrenzung des Vogelschutzgebietes V 63 im Bereich B für
fachlich vertretbar.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des
Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren sowie in den
Verfahren 1 KN 149/05, 1 MN 34/10, BVerwG 4 CN 2.09 und die
dazugehörigen Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe
Die (Haupt-)Anträge haben Erfolg.
1. Der Normenkontrollantrag gegen die 1. Änderung des Bebauungsplans Nr.
72 "Kommunale Entlastungsstraße B" hat Erfolg.
a) Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist die Antragsbefugnis des
Antragstellers gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO gegeben. Danach ist ein
Normenkontrollantrag zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, durch
die Rechtsnorm oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt zu sein
oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Antragsbefugt ist, wer geltend
machen kann, durch den Bebauungsplan in seinem Recht auf gerechte
Abwägung seiner privaten Belange verletzt zu sein (BVerwG, Urt. v. 24.9.1998
– 4 CN 2.98 –, BVerwGE 107, 215 BRS 60 Nr. 46). Der Antragsteller ist durch
die 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 72 in seinem Eigentum betroffen,
weil für die neue Straßentrasse Teile seines Grundeigentums benötigt und 2/3
seiner landwirtschaftlich genutzten Flächen durch die Planung durchschnitten
werden.
Der Einwand der Antragsgegnerin, der Antragsteller habe einen fristgerechten
Normkontrollantrag gegen die 1. Änderungsplanung nicht gestellt, trifft nicht zu.
Denn der Antragsteller hatte mit Schriftsatz vom 13. Februar 2013 gegen die
mit Satzung vom 28. Februar 2012 beschlossene 1. Änderung ausdrücklich
einen Normkontrollantrag gestellt.
b) Der Normenkontrollantrag ist auch begründet.
aa) Die 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 72 "Kommunale
Entlastungsstraße B" lässt sich städtebaulich rechtfertigen.
Der Bebauungsplan ist im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB erforderlich. Danach
haben die Gemeinden Bauleitpläne aufzustellen, sobald und soweit es für die
städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist. Die Bauleitplanung
bedarf danach der Rechtfertigung durch städtebauliche Gründe (BVerwG, Urt.
v. 12. Dezember 1969 – IV C 105.66 –, BVerwGE 34, 301). Welche
städtebaulichen Ziele die Gemeinde sich setzt, liegt in ihrem planerischen
Ermessen. Ein planerischer Missgriff liegt erst dann vor, wenn eine
Plankonzeption nicht existiert oder erkennbar nicht die vorgegebenen
städtebaulichen Planungsziele, sondern allein andere Ziele verfolgt und
verwirklicht werden sollen (BVerwG, Beschl. v. 16. Dezember 1988 – 4 NB
1.88 –, NVwZ 1989, 464).
Die Antragsgegnerin verfolgt mit der 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 72
ein städtebauliches Planungskonzept (Begründung des Plans Nr. 72, BA G, S.
10 ff.).
Aus der Planbegründung in der Fassung des Satzungsbeschlusses vom 31.
Januar 2011 geht hervor, dass der Urlaubsort B in den Sommermonaten von
Verkehr in einem problematischen Umfang belastet ist. In den Jahren 2004 bis
2007 hätten jährlich etwa 120.000 bis 135.000 Gäste B aufgesucht; die Anzahl
der Übernachtungen habe zwischen 910.000 und 950.000 gelegen. Die
Verkehrsbelastung resultierte aus der Funktion des Ortes als Nordseebad mit
seiner ausgeprägten touristischen Infrastruktur. Dazu gehörten die
Strandbereiche mit einem neu errichteten Strandportal, Schwimmbäder,
Kureinrichtungen, Hotels, Campingplätzen, Pensionen, Ferienwohnungen und
gastronomischen Einrichtungen. Darüber hinaus verfüge der Ort über einen
zentral gelegenen Fährhafen für die Insel Langeoog, ein Frei- und Hallenbad
im Westen und ein Erlebnisbad im östlichen Bereich von B. Zur Bewältigung
des ruhenden Verkehrs habe die Antragsgegnerin bereits mehrere
großflächige Parkplätze im Randbereich des Ortes angelegt. Im Westen von B
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und unmittelbar südlich der L5 liegt ein Parkplatz mit etwa 1.000 Stellplätzen.
Ein weiterer befindet sich im nordöstlichen Bereich des Ortes mit etwa 2.750
Stellplätzen. Aufgrund der verkehrlichen Erschließung B durch die
küstenparallel verlaufende L5 (im Westen), die direkt durch den Ort führe, und
die L8 (im Süden) werde der Durchgangsverkehr durch den Ort geleitet. Des
Weiteren müsse der Ziel- und Quellverkehr, welcher den Fähranleger bzw. die
südlichen Parkplätze ansteuere, den Ort durchqueren.
Diese Einschätzung der Antragsgegnerin ist unter Berücksichtigung dessen,
dass der überörtliche Verkehr aus südlicher Richtung kommend über die L8
geleitet wird und westlich von B eine Parkfläche für etwa 1.000 Stellplätze
sowie der Strand mit Campingplätzen und Frei- und Hallenbad liegt, nicht von
der Hand zu weisen. Aus Westen über die L5 kommend ist die verbesserte
verkehrliche Erreichbarkeit der 2.750 südlichen Parkplätze durch die
Entlastungsstraße unter Umgehung des Ortskerns offenkundig gegeben. Die
der Planung zugrunde liegende Vorstellung der Antragsgegnerin, dass der
Umweg über die kommunale Entlastungsstraße die (z. B. zeitlichen) Nachteile
aufwiegt, welche in der Ferienzeit mit dem Durchfahren des Ortskerns
verbunden sind, ist plausibel. Laut der Verkehrsuntersuchung des
Ingenieurbüros I. aus dem Jahr 1998 bestehe in der Ferienzeit eine Belastung
des Ortskerns (Hauptstraße, L5) bei ca. 11.450 Kfz/24 h. Der Anteil der Ziel-
und Quellverkehre betrage 33,3 %, der des Durchgangsverkehrs 22,4 %.
Daran gemessen führt die Herausnahme des Ziel-, Quell- und
Durchgangsverkehrs (insbesondere unter Berücksichtigung etwaiger baulicher
Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung im Ortskern) für B zu einer spürbaren
Verringerung des Gesamtverkehrsaufkommens im Ortskern um etwa 6.378
KfZ/24 h. Das Ziel, den Ortskern in der Ferienzeit spürbar zu entlasten, kann
folglich durch diesen Plan erreicht werden (vgl. zur Erforderlichkeit der
Entlastungsstraße "Hintere Anbindung Duhnen (in Cuxhaven)", Senatsurteil
vom 28. April 2005 – 1 KN 58/03 –, juris). Das gilt allerdings nur dann, wenn
die Antragsgegnerin bauliche Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung in der
Ortsmitte – wie im Verkehrsgutachten auf Seite 16 vorausgesetzt – umgesetzt.
Nach den Planungen der Antragsgegnerin wird die Hauptverkehrsstraße im
Ortskern als "Promenade" ausgebaut und im Jahr 2017 aufgrund der über
Übernahme der Straßenbaulast hinsichtlich der Entlastungsstraße das Land
Niedersachsen für den Straßenverkehr vollständig gesperrt. Ungeachtet
dessen verfolgt die Antragsgegnerin mit der Planung weitere Ziele. Mit der
Verkehrsentlastung des Ortskerns will sie die mit der Anerkennung als
staatliches Nordseeheilbad verbundene Auflage erfüllen, den Verkehr in der
Ortdurchfahrt zu reduzieren. Nicht zuletzt soll die Planung der Entwicklung und
Erschließung zukünftiger Wohngebiete im Westen B dienen, die bislang
lediglich über die Straßen Taddingshörn, Am Kajedeich und Friesenstraße
erschlossen würden. Dies sind städtebaulich Gründe die eine Planung
rechtfertigen.
Die von dem Antragsteller erhobenen Bedenken gegen die
Verkehrsuntersuchung sind nicht geeignet, die Erforderlichkeit gerade der hier
geplanten Verkehrsführung in Frage zu stellen. Sein Einwand, das Gutachten
weise fehlerhaft auf seinen Grünlandflächen ein tägliches Verkehrsaufkommen
von 1.600 Fahrzeugen aus, stellt die Untersuchung nicht grundsätzlich in
Frage. Zwar trifft es zu, dass die Karte 11 auf der Friesenstraße eine grüne
Linie mit 1.620 Fahrzeugen pro Tag prognostiziert, die westlich abknickt und
auf einer Grünfläche endet. Doch besteht kein Zweifel daran, dass diese
Prognose allein die Friesenstraße meint und nicht Fahrzeuge auf einer
Grünfläche des Antragstellers. Das gilt auch für die in Karte 6 dargestellte
tägliche (Ist-)Verkehrsmenge von 1.470. Denn zum einen sind die Zahlen
jeweils direkt auf dem Verlauf der Friesenstraße eingetragen worden. Zum
anderen folgt dies aus dem Kontext zu den Karten 2, 7 und 8, wonach der
Friesenstraße als Gemeindestraße eine gewisse Verkehrsbedeutung
beigemessen wird. Der Grünfläche des Antragstellers hingegen, die westlich
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der Friesenstraße liegt, kommt diese Bedeutung nach der
Verkehrsuntersuchung gerade nicht zu.
Entgegen der Auffassung des Antragstellers bringt der Umstand allein, dass
die 1998 erhobene Verkehrsuntersuchung zum Zeitpunkt des maßgeblichen
Satzungsbeschlusses am 31. Januar 2011 bereits 13 Jahre alt war, die
Planungsabsichten der Antragsgegnerin nicht zu Fall. Die von der
Antragsgegnerin in der Planbegründung genannten Übernachtungszahlen
stammen aus den Jahren 2004 bis 2007 und belegen hinreichend, dass die
Annahmen und Prognosen der Verkehrsuntersuchung richtig waren.
Die Frage, ob die Antragsgegnerin eine Entscheidung zwischen den
verschiedenen Alternativen der Trassenführung für die kommunale
Entlastungsstraße aufgrund ordnungsgemäßer Abwägung getroffen hat, ist
nicht eine Frage der Erforderlichkeit des Plans, sondern im Rahmen der
Abwägungsentscheidung zu überprüfen.
bb) Die 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 72 "Kommunale
Entlastungsstraße B" führt zu einer unzulässigen Beeinträchtigung eines
faktischen Vogelschutzgebietes und verstößt damit gegen Art. 4 Abs. 4 Satz 1
der Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten –
Vogelschutzrichtlinie (VRL), die an die Stelle der Richtlinie 79/409/EWG des
Rates vom 2. April 1979 getreten ist. Damit hält der Senat an seiner im
Normkontrollverfahren gegen den Bebauungsplan Nr. 67 geäußerten
Feststellung, dass das Plangebiet wegen der Nachmeldung des Europäischen
Vogelschutzgebietes V 63 und seiner Lage im Vorfeld einer Siedlung nicht als
faktisches Vogelschutzgebiet unter unmittelbarem Schutz der Vogelschutz-
Richtlinie steht (Urteil vom 22. Mai 2008 – 1 KN 33/10 –), nicht mehr fest.
Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL verlangt von den Mitgliedstaaten, dass sie geeignete
Maßnahmen treffen, um die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der
Lebensräume sowie die Belästigung der Vögel, sofern sie sich auf die
Zielsetzungen von Art. 4 VRL auswirken, in den in der Vorschrift genannten
Vogelschutzgebieten vermeiden. Diesem vorläufigen Schutzregime
unterliegen diejenigen Gebiete, die nach den Kriterien der Vogelschutzrichtlinie
förmlich unter Vogelschutz hätten gestellt werden müssen, aber nicht als
Vogelschutzgebiet gemeldet und unter Schutz gestellt worden sind (stRspr.,
vgl. nur EuGH, Urt. v. 13. Dezember 2007 – C-418/04, Slg. 2007, I-10947; Urt.
v. 2. August 1993 – C-355/90, Slg. 1993, I-4221; BVerwG, B. v. 13. März 2008
– 9 VR 10.07 –, juris). Zu einem solchen Gebiet zählen sowohl die
Erweiterungsfläche als auch (zumindest) der Teil der bisherigen Abbau- und
Betriebsfläche, der von Änderungen der Rekultivierungsplanung betroffen ist.
Gemäß Art. 4 Abs. 1 Satz 4 VRL erklären die Mitgliedstaaten insbesondere die
für die Erhaltung der im Anhang I aufgeführten Vogelarten zahlen- und
flächenmäßig geeignetsten Gebiete zu Schutzgebieten, wobei die
Erfordernisse des Schutzes dieser Arten in dem geographischen Meeres- und
Landgebiet, in dem die Richtlinie Anwendung findet, zu berücksichtigen sind.
Art. 4 Abs. 2 VRL verlangt weiter, dass die Mitgliedstaaten unter
Berücksichtigung der Schutzerfordernisse die entsprechenden Maßnahmen
für die nicht in Anhang I aufgeführten, regelmäßig auftretenden Zugvogelarten
hinsichtlich ihrer Vermehrungs-, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie
der Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten treffen. Aus diesen Regelungen
folgt jedoch nicht, dass sämtliche Landschaftsräume unter Schutz gestellt
werden müssen, in denen vom Aussterben oder sonst bedrohte Vogelarten
vorkommen. Vielmehr haben die Mitgliedstaaten die Gebiete auszuwählen, die
im Verhältnis zu anderen Landschaftsteilen am besten die Gewähr für die
Verwirklichung der Richtlinienziele bieten. Schutzmaßnahmen sind danach zu
ergreifen, soweit sie erforderlich sind, um das Überleben und die Vermehrung
der in Anhang I aufgeführten Vogelarten und der in Art. 4 Abs. 2 VRL
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angesprochenen Zugvogelarten sicherzustellen. Die Auswahlentscheidung
hat sich ausschließlich an diesen ornithologischen Erhaltungszielen zu
orientieren. Eine Abwägung mit anderen Belangen findet nicht statt. In
Abweichung zu der Senatsauffassung in dem Normkontrolleilverfahren gegen
den Bebauungsplan Nr. 72 (Beschluss vom 30. April 2010 – 1 MN 34/10 –)
dürfen Praktikabilitätserwägungen wie städtebauliche
Entwicklungsmöglichkeiten bei der Grenzziehung nicht berücksichtigt werden.
Unter Schutz zu stellen sind die Landschaftsräume, die sich nach ihrer Anzahl
und Fläche am ehesten zur Arterhaltung eignen. Entscheidend ist die
ornithologische Wertigkeit, die nach quantitativen und nach qualitativen
Kriterien zu bestimmen ist. Je mehr der im Anhang I aufgeführten oder in Art. 4
Abs. 2 VRL genannten Vogelarten in einem Gebiet in einer erheblichen Anzahl
von Exemplaren vorkommen, desto höher ist der Wert als Lebensraum
einzuschätzen. Je bedrohter, seltener oder empfindlicher die Arten sind, desto
größere Bedeutung ist dem Gebiet beizumessen, das die für ihr Leben und
ihre Fortpflanzung ausschlaggebenden physischen und biologischen
Elemente aufweist. Nur Lebensräume und Habitate, die unter
Berücksichtigung dieser Maßstäbe für sich betrachtet in signifikanter Weise zur
Arterhaltung beitragen, gehören zum Kreis der im Sinne des Art. 4 VRL
geeignetsten Gebiete (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. März 2008 – 9 VR
10.07, juris; Urteil vom 21. Juni 2006 – 9 A 28.05, BVerwGE 126, 166). Ist ein
Gebiet – wie hier das mehr als 8.000 ha große Europäische Vogelschutzgebiet
V 63 – als geeignetstes Gebiet identifiziert, sind im Rahmen der konkreten
Gebietsabgrenzung diejenigen Flächen als integrale Bestandteile
einzubeziehen, die von den wertbestimmenden Vogelarten in einem
zumindest durchschnittlichen Umfang genutzt werden (vgl. EuGH, Urteil vom
13. Dezember 2007 – C-418/04, Slg. 2007, I-10947). Ferner hat das
Bundesverwaltungsgericht zu den "maßgeblichen" Bestandteilen eines FFH-
Gebietes ausgeführt, dass ökologische Beziehungsgefüge im Einzelfall dazu
Anlass geben können, auch sonstige Gebietsbestandteile als maßgeblich für
den günstigen Erhaltungszustand einzustufen. Als Beispiel zu nennen sind in
das Gebiet eingeschlossene Rand- und Pufferzonen zu angrenzenden
landwirtschaftlichen Flächen oder Pflanzen- oder Tierarten, die eine
unentbehrliche Nahrungsgrundlage der dem Gebietsschutz unterfallenden
Arten sind (Urteil vom 17. Januar 2007 – 9 A 20/05 –, juris Rn. 77).
Bei der Bestimmung der Gebiete, die nach ornithologischen Kriterien als
zahlen- und flächenmäßig geeignetste Gebiete anzusehen sind, verfügen die
Mitgliedstaaten über einen vom Europäischen Gerichtshof als
"Ermessensspielraum" bezeichneten Beurteilungsspielraum (vgl. EuGH, Urteil
vom 23. März 2006 – C-209/04, Slg. 2006, I-2755; Urteil vom 2. August 1993 –
C-355/90, Slg. 1993, I-4221; Urteil vom 28. Februar 1991 – C-57/89, Slg. 1991,
I-883). Dabei sind die Eignungsfaktoren mehrerer Gebiete vergleichend zu
bewerten. Gehört ein Gebiet nach dem naturschutzfachlichen Vergleich zu den
für den Vogelschutz geeignetsten Gebieten, ist es zum Vogelschutzgebiet zu
erklären. Unterschiedliche fachliche Wertungen sind möglich. Die
Nichtmeldung eines Gebiets ist nicht zu beanstanden, wenn sie
fachwissenschaftlich vertretbar ist. Die Vertretbarkeitskontrolle umfasst auch
die Netzbildung in den einzelnen Bundesländern, hat aber auch insoweit den
Beurteilungsrahmen der Länder zu beachten. In dem Maße, in dem sich die
Gebietsvorschläge eines Landes zu einem kohärenten Netz verdichten,
verringert sich die richterliche Kontrolldichte. Mit dem Fortschreiten des
mitgliedstaatlichen Auswahl- und Meldeverfahrens steigen die prozessualen
Darlegungsanforderungen für die Behauptung, es gebe ein (nicht erklärtes)
"faktisches" Vogelschutzgebiet, das eine "Lücke im Netz" schließen solle (vgl.
BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2006 – 9 A 28.05, – BVerwGE 126, 166; Urteil
vom 14. November 2002 – 4 A 15.02 –, BVerwGE 117, 149). Diese
gesteigerten Anforderungen gelten auch dann, wenn die fehlerhafte
Abgrenzung eines als solches identifizierten Vogelschutzgebietes geltend
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gemacht wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. März 2008 – 9 VR 10.07 –,
juris).
Gemessen daran ist die vom Niedersächsischen Ministerium für Umwelt und
Klimaschutz vorgenommene Grenzziehung des der Europäischen
Kommission gemeldeten Vogelschutzgebietes V 63 insofern fehlerhaft, als sie
das Plangebiet "Kommunale Entlastungsstraße B" von der
Unterschutzstellung ausnimmt.
Die Ausweisung des Europäischen Vogelschutzgebiets V 63 "Ostfriesische
Seemarsch zwischen Norden und Esens" beruht ausweislich der im
Stammdatenbogen zusammengefassten Meldedaten darauf, dass es sich um
ein binnendeichs gelegenes, offenes Marschland, geprägt durch überwiegend
intensive Acker- und Grünlandflächen handele, die von schilfbestandenen
Gräben gesäumt würden. Die Schutzwürdigkeit des Gebietes ergibt sich
daraus, dass es eine besondere Bedeutung durch ökologische
Wechselbeziehungen mit dem Nationalpark Wattenmeer
(Hochwasserrastplatz, Nahrungshabitat für Gastvögel) habe. Es bestehe eine
sehr hohe Bedeutung für Röhricht-Arten. Eine Gefährdung stelle die
Intensivierung der Grabenunterhaltung dar. Ausweislich der
Gastvogelerfassung im EU-Vogelschutzgebiet V 63 sind im Rahmen der (von
Herbst 2008 bis Frühjahr 2009) erfassten Wasser- und Wattvogelarten als
wertbestimmende Vogelbestände zur Auswahl des Vogelschutzgebietes nach
Art. 4 Abs. 1 der EU-Vogelschutzrichtlinie die Wiesenweihe, das Blaukehlchen,
die Weißwangengans und den Goldregenpfeifer aufgeführt. Hochgerechnet
auf der Basis von Teilflächenerfassungen in den Jahren 1995 bis 2006 sind
etwa 240 Brutpaare des Blaukehlchens ansässig. Nach Roter Liste
Deutschland und Niedersachsen steht die Art auf der Vorwarnliste. Dem
Bestand an Blaukehlchen komme als wertbestimmende im V63 eine
besondere Bedeutung zu. Rein quantitativ ist der Bestand von 240 Revieren
der höchste, der für ein zusammenhängendes Vorkommensgebiet in
Niedersachsen aufgeführt wird (Vorschlag V63 des Umweltministeriums,
Fassung Februar 2007, GA 1 KN 149/05 B. 162 ff.). Dem Bestand der
Weißwangengans komme sogar eine internationale Bedeutung zu, dem der
Goldregenpfeifer eine nationale. Zu den wertbestimmenden Vogelbeständen
nach Art. 4 Abs. 2 der EU-Vogelschutzrichtlinie (Zugvögel) gehörten der
Schilfrohrsänger, der Große Brachvogel, die Lachmöwe, die Sturmmöwe, die
Rohrweihe und der Kiebitz. Es existierten hochgerechnet auf der Basis von
Teilflächenerfassungen in den Jahren 1995 bis 2006 etwa 240 Brutpaare des
Schilfrohrsängers. Diese Art werde nach Roter Liste Deutschland und
Niedersachsen als stak gefährdet bewertet. Sie nutze die im Gebiet zahlreich
vorhandenen Schilfgräben als Bruthabitat und könne zusammen mit dem
Blaukehlchen als Charakterart der Seemarsch zwischen Norden und Esens
bezeichnet werden, beide würden der Landschaft im Frühjahr eine "Stimme"
geben. Schilfrohrsänger kämen im Gebiet im landesweiten Vergleich in
herausragender Dichte vor (Vorschlag V63 des Umweltministeriums, Fassung
Februar 2007, GA 1 KN 149/05 B. 162 ff.). Der Bestand des Großen
Brachvogels habe eine internationale Bedeutung mit einer maximalen
Individuenzahl von 4.850 Vögeln erreicht. Dementsprechend seien
insbesondere die genannten wertbestimmenden Vogelbestände nach Art. 4
Abs. 1 und Abs. 2 der EU-Vogelschutzrichtlinie für die Ausweisung des
Vogelschutzgebiets maßgebend gewesen.
Die Entscheidung des Niedersächsischen Ministeriums für Umwelt und
Klimaschutz, das Plangebiet vom Vogelschutzgebiet 63 auszunehmen, lässt
sich mit diesen Zielsetzungen nicht vereinbaren. Die tatsächlich
vorgenommene Gebietsabgrenzung im Bereich B weicht von dieser eigenen
Zielsetzung erkennbar ab, weil sie eine von schilfbestandenen Gräben
durchzogene Grünlandfläche ausgrenzt, die als Nahrungs- und Bruthabitat für
das Blaukehlchen, den Goldregenpfeifer, die Rohrweihe, den Schilfrohrsänger
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und den Großen Brachvogel dient. Der Antragsteller hat substantiiert
dargelegt, dass die Abgrenzung des V 63 entlang der Kommunalen
Entlastungsstraße B fachwissenschaftlich unvertretbar ist.
Nach der Brutvogelerfassung des Büros für Biologie und Umweltplanung,
Diplombiologe Dr. J., vom Juni 1999 sind im Planungsgebiet drei Brutpaare
des Blaukehlchens (Anhang I der VRL) wahrscheinlich, sechs möglich. Ferner
ist ein Brutpaar der Rohrreiher (Anhang II der VRL) wahrscheinlich. Hinsichtlich
des Schilfrohrsängers (Anhang II der VRL) sind 28 Brutpaare wahrscheinlich
und 32 möglich. Nach der abschließenden Bewertung kommt der Biologe zu
dem Ergebnis, dass sich für das Plangebiet die Bewertung
"Brutvogellebensraum von nationaler Bedeutung" ergebe. Diese Einstufung
ergebe sich sowohl aus der Rote-Liste-Region als auch für Niedersachsen.
Die extrem hohe Bewertung des Plangebiets beruhe fast ausschließlich auf
dem individuenreichen Auftreten des Schilfrohrsängers. Ohne diese vom
Aussterben bedrohte Art käme dem Plangebiet nur die Bewertung
"Brutvogellebensraum von lokaler Bedeutung" zu. Die landwirtschaftlichen
Brachen zwischen F. Weg und B tief trügen aufgrund ihrer strukturellen Vielfalt
zur Wertsteigerung des Gebietes bei.
Die avifaunistische Bestandserfassung (Brut- und Rastvögel) der I. vom
Januar 2000 bestätigt die Ergebnisse der Brutvogelerfassung aus dem
Vorjahr. Danach sind im Planungsgebiet drei Brutpaare des Blaukehlchens
wahrscheinlich und sechs möglich. 28 Brutpaaren des Schilfrohrsängers sind
dort wahrscheinlich und weitere 32 möglich. Überdies ist die Brut zweier
Braunkehlchenpaare (Anhang II der VRL) im Plangebiet wahrscheinlich.
Hinsichtlich des Kiebitz (Anhang II der VRL) ist die Brut zweier Paare sicher,
die Brut von 29 Paaren wahrscheinlich und von neun weiteren Paaren
möglich. Der Goldregenpfeifer ist im Planungsgebiet ebenso Nahrungsgast wie
der Kiebitz, der Große Brachvogel und die Lachmöwe (Anhang II der VRL).
Ausweislich der Tabelle 3 (Bewertung ausgewählter Arten) kommt dem
Bestand des Großen Brachvogels im Plangebiet eine lokale Bedeutung zu.
Der Grünordnungsplan der Antragsgegnerin zum Bebauungsplan Nr. 67 und
der 83. Flächennutzungsplanänderung "Kommunale Entlastungsstraße B"
vom September 2004 kommt zu der zusammenfassenden Bewertung, dass
fast der gesamte küstennahe Marschbereich zwischen Neuharlingersiel und
Norden von K. und G. (2000) – aufgrund der hohen Bedeutung des gesamten
Küstenraums als Gebiet auf dem Vogelzug der Westpaläarktischen
Vogelpopulation als auch der hier lebenden Brutvögel – als wichtiges Brut- und
Rastvogelgebiet in Niedersachsen abgegrenzt werde. Dieses Gebiet umfasse
den gesamten Planungsraum bis an die direkte Siedlungsfläche von B.
Ausschlaggebend für diese Beurteilung seien die Rastvogelzahlen in diesem
Gebiet, insbesondere von der Ringelgans, der Sturmmöwe, der Lachmöwe,
des Großer Brachvogel, des Goldregenpfeifers und des Kiebitz gewesen. Im
Planungsraum sei der Große Brachvogel mit lokaler Bedeutung vertreten,
sowie mit kleinerem Vorkommen die Lachmöwe, der Goldregenpfeifer und der
Kiebitz. Daneben spielten Brutvogelvorkommen eine bestimmende Rolle,
wobei aus dem Plangebiet vor allem das Blaukehlchen und die Rohrweihe
genannt werden müssen. Als Rote-Liste-Art hätten im Planungsbereich
folgende Vogelarten in den Grabenröhrichten kartiert werden können: Das
Blaukehlchen mit zwei wahrscheinlichen und drei möglichen Brutpaaren und
der Schilfrohrsänger mit sieben wahrscheinlichen und 18 möglichen
Brutpaaren. Der Grünordnungsplan hebt die hohe Bedeutung der
röhrichtbestandenen Gewässer für die Tierwelt und die Röhrichtvögel hervor.
Ausweislich des Konflikt- und Bestandplanes für die einzelnen Teilabschnitte
des Bauvorhabens wird der Große Brachvogel als erheblich beeinträchtigte
Tierart kartiert. Das gilt insbesondere auch für das Blaukehlchen im
Teilabschnitt 2 des Planbereichs. Im 3. Teilabschnitt ist südlich der Trasse als
erheblich beeinträchtigte Tierart zweimal der Große Brachvogel verzeichnet.
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Auch das Braunkehlchen ist unmittelbar westlich des Gewässers Oldenburger
Tief und unmittelbar nördlich der Trassenführung verzeichnet. Darüber hinaus
ist die Rohrweihe im 2. Teilabschnitt als erheblich beeinträchtigte Tierart
verzeichnet.
Die Karte "Durchschneidung des Grabensystems durch die Trasse
(achtzehnmal) und straßenbaubedingte Auswirkungen in das (faktische)
Vogelschutzgebiet" weist insbesondere im 2. Teilabschnitt des Planvorhabens
auf ein hohes Risiko durch die Querung von Flächen mit hoher Bedeutung für
den Wiesenbrutvogel und Bedeutung für Rastvögel hin. Danach quert das
Vorhaben Gewässer mit Röhrichtbestand mindestens siebzehnmal.
Unmittelbar nördlich und südlich des Trassenverlaufs im 2. Planabschnitt
besteht ein hohes Risiko der Entwertung und Isolierung von Flächen mit hoher
Bedeutung für Wiesenbrutvögel und Rastvögel.
Das durch den Antragsteller im Jahr 2010 in Auftrag gegebene Gutachten zur
"Notwendigkeit eines Baustopps für die Ortsentlastungsstraße zum Schutz der
Vogelwelt" von Herrn Dr. G. bestätigt, dass die Vogelbestände im
Planungsbereich zwingend eine Einbeziehung dieser Flächen zum
Vogelschutzgebiet V 63 erfordert hätten. Es hebt beispielhaft das Vorkommen
des Kiebitzes als wandernde Vogelart gemäß Art. 4 Abs. 2 der
Vogelschutzrichtlinie und des Schilfrohrsängers hervor. Durch die
Aufschüttung des Straßendammes würden zweifellos Brutreviere europäischer
Vogelarten wie des Schilfrohrsängers, Teichrohrsängers, Sumpfrohrsängers,
Feldlerche, Wiesenpieper, Stockente und Blaukehlchen, sowie Braunkehlchen
durch Verfüllung von Schilfgräben ganz oder teilweise vernichtet. Diese
Feststellungen decken sich mit den Aussagen des Herrn Dr. G. zum Bestand
von schutzwürdigen Vogelarten im Planungsbereich aus den Jahren 2005 und
2010. Er wies bereits 2005 darauf hin, dass diesem Bereich eine hohe Dichte
des Blaukehlchens zukomme.
Ausweislich der Gastvogelerfassung im EU-Vogelschutzgebiet V 63 aus den
Jahren 2008 und 2009 wird der Raum im östlichen Planbereich des 3.
Teilabschnittes vom Großen Brachvogel genutzt (Karte 9). Seiner Anzahl im
dortigen Bereich kommt eine nationale Bedeutung zu, der Große Brachvogel
ist dort mit einer Anzahl von bis zu 3.499 Tieren angetroffen worden. Eine
höhere, beziehungsweise vergleichbare Anzahl und Bewertung dieser Art lässt
sich im gesamten Vogelschutzgebiet V 63 nicht verzeichnen. Nach der
Gastvogelerfassung ist unmittelbar westlich des Plangebiets ein Bestand an
Kiebitzen von bis zu 689 Tieren angetroffen worden.
Ferner räumt die Antragsgegnerin in der Begründung des Bebauungsplans Nr.
72 im Rahmen der Erörterung der Trassenvarianten selbst ein, dass dem
Planvorhaben eine hohe Bedeutung für Wiesen- und Wasservögel zukomme.
Nach alledem erfüllt das Plangebiet aufgrund seines Ausstattungspotentials
die Anforderungen nach Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL. Diese Einschätzung des
Senats wird durch die Verzeichnisse über die IBA noch bekräftigt. Danach wird
das Plangebiet unter der Nummer NI044 als bedeutendes Vogelschutzgebiet
in Deutschland aufgeführt (Sudfeldt et al., Ber. Vogelschutz 38 (2002), Eintrag
"Norden-Esens, "IBA Norden-Esens", Binnendeichs, 10.485 ha", Stand vom 1.
Juli 2002, 17-109, 48). Diese IBA-Verzeichnisse, die durch Behörden,
wissenschaftliche Einrichtungen und ornithologische Verbände erstellt und in
Abständen aktualisiert werden, sind nach dem EuGH und dem BVerwG die
bedeutsamste Erkenntnismittel bei der Gebietsauswahl (vgl. BVerwG, Urteile
vom 22. Januar 2004 – 4 A 32/02 –, BVerwGE 120, 87 = BauR 2004, 957; vom
19. Mai 1998 – 4 A 9.97 –, BVerwGE 107, 1, vom 31. Januar 2002 – 4 A 15.01
–, DVBl. 2002, 990, Buchholz 407.4, § 17 FStrG Nr. 168 und vom 14.
November 2002 – 4 A 15.02 –, BVerwGE 117, 149; Schlacke,
Großkommentar-Bundesnaturschutzgesetz, 2012, § 32 Rn. 22). Sie haben
zwar keinen Rechtsnormcharakter; ihre Indizwirkung kann aber eine
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Vertragsverletzung begründen, wenn der Mitgliedstaat darin aufgelistete
Gebiete ohne überzeugenden Gegenbeweis nicht ausgewiesen hat (EuGH,
Urteil vom 13. Dezember 2007 – C-418/04 –, juris Leitsatz Nr. 2). Folglich liegt
ein faktisches Vogelschutzgebiet vor.
Selbstständig tragend stellt der Senat zur Begründung seiner Entscheidung,
dass das Plangebiet als faktisches Vogelschutzgebiet zu bewerten ist, darauf
ab, dass es unter Berücksichtigung der vorliegenden ornithologischen
Feststellungen jedenfalls deshalb als integraler Bestandteil des V 63 hätte
einbezogen werden müssen, weil es von den wertbestimmenden Vogelarten
(Blaukehlchen, Schilfrohrsänger und Großen Brachvogel) in einem zumindest
durchschnittlichen Umfang genutzt wird (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Dezember
2007 – C-418/04, Slg. 2007, I-10947).
Ungeachtet dessen steht das Plangebiet als Rand- und Pufferzone (vgl.
BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 – 9 A 20/05 –, juris Rn. 77) zum
ausgewiesenen V 63 in einem engen räumlichen und ökologischen
Beziehungsgefüge zu dem Nationalpark V 1 "Niedersächsisches Wattenmeer"
und dient Vögeln als Nahrungs-, Brut- und Rasthabitat. Davon geht auch das
Niedersächsische Ministerium für Umwelt, Energie und Klimaschutz
ausweislich der Hinweise zur Gebietsabgrenzung (Vorschlag V 63, Stand
Februar 2007, Anlage 8 zur Stellungnahme des Ministeriums vom 27. März
2013) aus. Danach umfasst das Schutzgebiet nach den Vorkommensdaten
der relevanten Vogelarten eine Kernzone vom Hauptdeich aus bis zu einer
Tiefe von 2,2 km landwärts sowie – der Forderung der EU-Kommission
entsprechend – (Binnendeich-)Bereiche, die an den Nationalpark
"Niedersächsisches Wattenmeer" angrenzen und zu diesem in einem
funktionalen Zusammenhang stehen. Im Übrigen hebt der Stammdatenbogen
des V 63 die Wechselbeziehung zum Nationalpark V 1 als Hochwasserplatz
und Nahrungshabitat für Gastvögel sowie die Schutzwürdigkeit des
Binnendeichs gelegenen, offenen Marschenlandes – geprägt durch
überwiegend intensive Acker- und Grünlandflächen, die von Schilf
bestandenen Gräben gesäumt werden – ausdrücklich hervor. Daher hätte das
Ministerium das Plangebiet in das Gebiet V 63 einbeziehen müssen. Diese
weitere Begründung trägt die Feststellung des Senats, dass es sich beim
Plangebiet um ein faktisches Vogelschutzgebiet handelt, ebenfalls
selbstständig.
Ornithologische Gründe, die geeignet wären zu belegen, dass das Plangebiet
im Hinblick auf die Populationsdichte oder die räumliche Schwerpunkte der
wertbestimmenden Arten im Gesamtgebiet nicht erheblich ins Gewicht fällt,
liegen nicht vor (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. April 2004 – 4 C 2/03 –). Weder die
Antragsgegnerin noch das Niedersächsischen Ministeriums für Umwelt,
Energie und Klimaschutz haben den Ausschluss des Plangebiets fachlich
begründet bzw. die zahlreichen Indizien, welche für ein faktisches
Vogelschutzgebiet sprechen, widerlegt.
Vielmehr hat die Antragsgegnerin laut Begründung des Bebauungsplans Nr.
72 im Rahmen der Erörterung der Trassenvarianten eingestanden, dass dem
Planvorhaben zwar eine hohe Bedeutung für Wiesen- und Wasservögel
zukomme. Um die Trasse allerdings vollständig außerhalb des Kernbereichs
für Wiesen- und Wasservögel zu verschieben, müsste sie um 80 bis 90 m in
Richtung Ortsrand verschoben werden. Davon sei aber Abstand genommen
worden, weil dadurch verursachte Verschiebungen der Zonen unter
erheblichen Lärmimmissionen den Spielraum für künftige
Siedlungsentwicklungen erheblich reduziert hätte. Damit bliebe bloß ein
schmaler Bereich, in dem allgemeine Wohngebiete ohne besondere
Schallschutzmaßnahmen errichtet werden könnten. Städtebaulich sinnvolle
Erschließungsmöglichkeiten (insbesondere eine Anbindung an die kommunale
Entlastungsstraße im Süden) seien unter diesen Voraussetzungen vor allem in
finanzieller Hinsicht nicht möglich. Diese Erwägungen der Antragsgegnerin
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zeigen auf, dass bei der Planung vornehmlich die wirtschaftlichen und
entwicklungspolitischen Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben. Trotz
Kenntnis, dass die Trasse in einem für Wiesen- und Brutvögel sehr
bedeutsamen Bereich liegen würde, ist von den Trassenvarianten aus den
genannten Gründen Abstand genommen worden.
Des Weiteren hat das Ministerium mit der Stellungnahme zur Abgrenzung des
EU-Vogelschutzgebietes V 63 "Ostfriesische Seemarsch zwischen Norden
und Esens" vom 27. März 2013 ausgeführt, dass es die Abgrenzung des
Vogelschutzgebietes im Bereich B nach fachlicher Auswertung der
Stellungnahme des Dr. G. durch die Staatliche Vogelschutzwarte (NLWKN)
unter Berücksichtigung des Bebauungsplans Nr. 67 "Kommunale
Entlastungsstraße B" vorgenommen habe. Dabei weist das Umweltministerium
mit Fußnote 1 darauf hin, dass die Aussparung von Bereichen bei der Meldung
von Natura-2000-Gebieten, für die ein rechtsgültiger Bebauungsplan, ein
Planfeststellungsbeschluss oder eine Bodenabbaugenehmigung vorliege, der
ständigen Praxis für die Gebietsauswahl entspreche und von der EU-
Kommission nicht zu Beanstandungen geführt habe. Diese Vorgehensweise
ist bereits deshalb fehlerhaft, weil die Abgrenzung des V 63 im Bereich B unter
Berücksichtigung des Bebauungsplans Nr. 67 nicht ausschließlich
ornithologisch begründet ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. Juni 2003 – 4 B
37.03 –, NVwZ 2004, 98 = juris Rn. 4 m. w. N.).
Denn bei der Ausweisung der geeignetsten Gebiete als besondere
Schutzgebiete nach Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 79/409 über die
Erhaltung der wild lebenden Vogelarten in der durch die Richtlinie 97/49
geänderten Fassung verfügen die Mitgliedsstaaten zwar über einen gewissen
Ermessensspielraum. Doch ist dieser dadurch begrenzt, dass die Ausweisung
dieser Gebiete ausschließlich den in dieser Richtlinie festgelegten
ornithologischen Kriterien gehorcht. Denn Art. 4 Abs. 1 Satz 4 VRL ist das
Ergebnis einer bereits vom Gemeinschaftsgesetzgeber getroffenen
Abwägungsentscheidung, die keiner weiteren Relativierung zugänglich ist (vgl.
BVerwG, Beschluss vom 12. Juni 2003 – 4 B 37/03 –, a. a. O.; Urteile vom 19.
Mai 1998 – 4 A 9.97 –, BVerwGE 107, 1, vom 31. Januar 2002 – 4 A 15.01 –,
DVBl. 2002, 990 und vom 14. November 2002 – 4 A 15.02 –, NVwZ 2003,
485). Mit dieser Rechtsprechung befindet sich das Bundesverwaltungsgericht
in Übereinstimmung mit der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs (vgl.
Urteile vom 2. August 1993 – C 355/90 –, Slg. 1993, I – 4221 Rn. 26, vom 11.
Juli 1996 – C 44/95 –, Slg. 1996, I – 3805 Rn. 26, vom 19. Mai 1998 – C 3/96
–, Slg. 1998, I – 3031 Rn. 59, vom 18. März 1999 – C 166/97 –, Slg. 1999, I –
1719 Rn. 21, vom 25. November 1999 – C 96/98 –, Slg. 1999, I – 8531 Rn. 22,
vom 7. Dezember 2000 – C 374/98 –, Slg. 2000, I – 10799 Rn. 55 und vom 13.
Februar 2003 – C 378/01 – n. v. Rn. 15). Die in Art. 2 dieser Richtlinie
genannten wirtschaftlichen Erfordernisse dürfen daher bei der Auswahl und
Abgrenzung eines besonderen Schutzgebietes nicht berücksichtigt werden.
Demzufolge kann beispielsweise die Ausweisung eines besonderen
Schutzgebietes nicht das Ergebnis einer isolierten Prüfung des
ornithologischen Werts jeder einzelnen der in Rede stehenden Flächen sein,
sondern muss unter Berücksichtigung der natürlichen Grenzen des
Feuchtgebiets erfolgen, und die ornithologischen Kriterien, auf denen die
Ausweisung ausschließlich zu beruhen hat, müssen wissenschaftlich
begründet sein. Denn die Verwendung fehlerhafter, angeblich ornithologischer
Kriterien könnte auf eine falsche Festlegung der Grenzen von besonderen
Schutzgebieten hinauslaufen (EuGH, 2. Kammer, Urt. v. 13.12.2007 – C-
418/04 –, aaO).
Die Abgrenzung des Vogelschutzgebietes V 63 im Bereich B entlang der
kommunalen Entlastungsstraße B stellt einen wirtschaftlichen Belang im Sinne
des Art. 2 der genannten Richtlinie dar. Da darüber hinausgehende
ornithologische Gründe für die Abgrenzung des Vogelschutzgebietes V 63 in
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diesem Bereich vom Ministerium nicht angeführt werden können, erfolgte die
Gebietsabgrenzung nicht aufgrund ausschließlich fachlicher Erwägungen.
Ebenso wenig folgt die Abgrenzung entlang der kommunalen
Entlastungsstraße B natürlichen Grenzen. Sie verläuft vielmehr exakt entlang
des Plangebiets der Entlastungsstraße und wird auch insoweit den
europarechtlichen Anforderungen an eine Gebietsabgrenzung von EU-
Vogelschutzgebieten nicht gerecht.
In diesem Zusammenhang passen die Ausführungen des Herrn Dr. G. in
seinem Gutachten von 2010 in das Bild. Er weist darin darauf hin, dass die
Gebietsabgrenzung des Vogelschutzgebietes V 63 im Bereich B bewusst und
nachweisbar fachfremde Kriterien berücksichtigt hätte. Bei einem Gespräch
am 18. Dezember 2006 im Niedersächsischen Ministeriums für Umwelt,
Energie und Klimaschutz, in dem der Verfasser zusammen mit Mitarbeitern der
Staatlichen Vogelschutzwarte und dem Ministerium die abschließende Grenze
des EU-Vogelschutzgebietes anhand der vogelkundlichen Daten erarbeitet
hätte, sei die Frage offen geblieben, wie mit den ausgelassenen Freiflächen
um B und O zu verfahren sei. Herr M vom Niedersächsischen Ministerium für
Umwelt, Energie und Klimaschutz habe darauf hingewiesen, dass diese Frage
durch die Juristen des Hauses bisher noch nicht beantwortet sei. Unter den
Teilnehmern der Gesprächsrunde habe jedoch keinerlei Dissens darüber
bestanden, dass die strittigen Flächen aus fachlicher Sicht eindeutig in die
Gebietskulisse einzubeziehen seien. Zu keinem anderen Ergebnis müsse man
kommen, wenn man die gebietsspezifischen Kriterien anwendet, die seinerzeit
von der Staatlichen Vogelschutzwarte zur Abgrenzung des Gebietes V 63
entwickelt worden seien. Danach sollte, von der Küste beginnend, ein ca. 2,2
km breiter Streifen als Vogelschutzgebiet abgegrenzt werden, und im
Deichhinterland von Fall zu Fall modifiziert werden, sofern wichtige Bereiche
für Rastvögel durch entsprechende Daten dokumentiert seien. Für den Bereich
Bensersiel hätte sich danach die Grenzziehung nach dem IBA nach K. und G.
(2000) ergeben, wonach das Vogelschutzgebiet bis zur Siedlungsgrenze B
gezogen worden wäre. Diese Grenzziehung habe sich an im Gelände
nachvollziehbaren Strukturen wie etwa Straßen und Ortsrändern orientiert.
Solche Grenzziehungen seien nach den Bestandszahlen nicht zu
beanstanden gewesen. Sie ist aber nicht vollzogen worden.
Bei Gesamtschau der vorliegenden Erkenntnisquellen gelangt der Senat zu
der Überzeugung, dass die Grenzziehung des V 63 im Bereich der
kommunalen Entlastungsstraße B nicht ausschließlich nach ornithologischen
Gründen erfolgte.
Dieses Ergebnis steht auch nicht im Widerspruch zu der Entscheidung des 12.
Senats des Nds. OVG vom 22. November 2012 – (12 LB 64/11 –, ZfBR 2013,
162 = NuR 2013, 196; juris Rn 75) wonach "es vor diesem Hintergrund
angesichts der unterschiedlichen Ausgangslage nicht zu beanstanden (ist),
dass der Beklagte nicht alle bebauten Grundstücke dem Geltungsbereich der
LSG-VO entzogen hat, sondern nur Ortslagen, Geltungsbereiche von
Bebauungsplänen, Abgrenzungssatzungen gemäß § 34 Abs. 4 BauGB sowie
Hofstellen und Hausgrundstücke". In dem bereits angesprochenen Erlass des
Ministeriums für Umwelt und Klimaschutz vom 25. Januar 2010 ist – wie
ausgeführt – in nicht zu beanstandender Weise die Herausnahme von
Hofstellen beziehungsweise Hausgrundstücken aus dem Geltungsbereich der
Landschaftsschutzgebietsverordnung mit der Begründung für gerechtfertigt
erachtet worden, diese Bereiche seien für die für das Vogelschutzgebiet
wertbestimmenden Vogelarten als Lebensraum nicht geeignet und außerdem
könne ausgeschlossen werden, dass sich die auf den Hofstellen und
Hausgrundstücken üblichen menschlichen Aktivitäten erheblich auf den
Schutzzweck auswirken". Diese Gesichtspunkte für einen gerechtfertigten
Ausschluss einzelner Bereiche aus einem Vogelschutzgebiet können für den
Planungsbereich des Bebauungsplans Nr. 67, dessen Entlastungsstraße zum
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Zeitpunkt seiner Beschlussfassung im Jahr 2004 noch nicht nennenswert
umgesetzt worden ist, nicht angeführt werden. Denn der Planungsbereich
dient ausweislich der vorliegenden Planunterlagen und Bestandserfassungen
als Lebensraum für wertbestimmende Vogelarten. Ferner konnte nicht von
vornherein ausgeschlossen werden, dass die kommunale Entlastungsstraße B
mit den üblichen verkehrlichen Aktivitäten den Schutzzweck des V 63
erheblich stören kann.
Ungeachtet dessen lag der vom Ministerium genannte Grund für die
Aussparung von Bereichen bei der Meldung von Natura-2000-Gebieten,
nämlich das Vorliegen eines "rechtsgültigen Bebauungsplans", im Zeitpunkt
der fachlichen Auswertung durch das Ministerium Ende 2006/Anfang 2007 im
Hinblick auf den Bebauungsplan Nr. 67 gerade nicht vor. Der am 20.
September 2004 vom Rat der Antragsgegnerin beschlossene Bebauungsplan
Nr. 67 ist vom Antragsteller mit Normenkontrollantrag vom 27. Juli 2005
angegriffen worden. Das vom Senat im Jahr 2008 entschiedene
Normenkontrollverfahren 1 KN 149/05 ist derzeit beim
Bundesverwaltungsgericht anhängig und bis zu einer Entscheidung in dem
hier vorliegenden Verfahren ausgesetzt worden. Folglich ist der
Bebauungsplan in seiner Urfassung Nr. 67 noch nicht rechtsverbindlich und
kann durch gerichtliche Entscheidung mit Wirkung ex tunc, d. h. von Anfang
an, für unwirksam erklärt werden. Folglich hätte das Plangebiet selbst nach der
ständigen Verwaltungspraxis des Ministeriums in das Vogelschutzgebiet V 63
einbezogen werden müssen.
Der Umstand allein, dass die EU-Kommission das
Vertragsverletzungsverfahren Nr. 2001/5117 gegen die Bundesrepublik
Deutschland aufgrund der Nachmeldung des Europäischen
Vogelschutzgebietes V 63 im Oktober 2009 eingestellt hat, rechtfertigt keine
andere Entscheidung. Ein Rückschluss dahingehend, dass die Kommission
mit der Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens die Richtigkeit der
Grenzziehung des Vogelschutzgebietes im Bereich B bestätigt bzw.
anerkennt, kann dem "Dialogverfahren" zwischen der Bunderepublik
Deutschland und der Kommission nicht entnommen werden (vgl. Anlagen 1
und 12 zur Stellungnahme des Niedersächsischen Ministerium für Umwelt,
Energie und Klimaschutz vom 27. März 2013). Vielmehr nimmt die Kommission
Beanstandungen bei der Ausweisung von Vogelschutzgebieten lediglich bei
offenkundigen Abweichungen von den IBA-Gebieten vor. Beispielsweise hat
die völlige Unterlassung einer Ausweisung eines Vogelschutzgebietes bzw.
die im Vergleich zur IBA-Fläche evident flächenmäßig geringere Ausweisung
eines Schutzgebietes durch ein Mitgliedstaat (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Mai
1998 – C – 3/96 –) oder die abrupte Begrenzung eines Schutzgebietes an
einer Landesgrenze Grund zur Beanstandung gegeben. Somit überprüft die
Kommission die Grenzziehung der Vogelschutzgebietsausweisung eines
Mitgliedstaates nicht in jedem Einzelfall parzellenscharf, sondern nimmt eher
eine globale Vergleichsprüfung mit den IBA-Gebieten vor. Es liegt auch nahe,
dass die Kommission eine regelmäßig parzellenscharfe Überprüfung vom
Verwaltungsaufwand praktisch nicht leisten kann. Ein derartiges mit Händen
zu greifendes Defizit bei der Unterschutzstellung liegt hier nicht vor, so dass
der Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens nicht eine so gewichtige
Indizwirkung für die Richtigkeit der Grenzziehung des Vogelschutzgebietes im
Bereich B zukommt, welche die vorangegangenen Ausführungen ernsthaft in
Frage stellen könnte.
Damit unterliegt das Plangebiet der 1. Änderung des Plans Nr. 72 als
faktisches Schutzgebiet dem Schutzregime des Art. 4 Abs. 4 VRL (vgl.
BVerwG, Urteil vom 1. April 2004 – 4 C 2.03 –, BVerwGE 120, 276 = BRS 67
Nr. 215 = juris 38). Das Vorhaben beeinträchtigt den Lebensraum der
geschützten Populationen im Sinne dieser Vorschrift erheblich. Eine erhebliche
Beeinträchtigung liegt nämlich nicht erst vor, wenn die Verwirklichung der
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Erhaltungsziele der VRL (Art. 1 Abs. 1, 3 Abs. 1 VRL) im Gebiet unmöglich
oder unwahrscheinlich werden würden. Der Europäische Gerichtshof hat
vielmehr eine Verletzung schon bei einer Gebietsverkleinerung zugunsten
einer Straße angenommen, ohne dabei explizit zu prüfen, ob das Vorhaben
geeignet wäre, die Erhaltungsziele im gesamten Vogelschutzgebiet zu
vereiteln oder Kernbestandteile des Gebiets unwiederbringlich zu zerstören
(Schlacke, a. a. O., § 32 Rdn. 39). Hier ist der baubedingte Verlust eines
immerhin etwa 47 ha großen Brut- und Nahrungsreviers für die
wertbestimmenden Arten des Blaukehlchens, des Schilfrohrsängers (Anhang I
der VRL) und des Großen Brachvogels (Anhang II des VRL) zu verzeichnen.
Dieser Verlust kann nicht als so geringfügig eingeschätzt werden, dass er im
Rahmen von Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL außer Betracht bleiben könnte.
Ausnahmen von diesem Schutzgebot sieht die VRL nicht vor. Der EuGH und
ihm folgend das Bundesverwaltungsgericht haben Ausnahmen von Art. 4 Abs.
4 VRL nur unter engen Voraussetzungen und zugunsten überragenden
Gemeinwohlbelangen, wie etwa Schutz des Lebens und der Gesundheit von
Menschen oder Schutz der völligen Sicherheit anerkannt (EuGH, Urteil vom
28. Februar 1991 – Rs. C-57/89 –, Slg. 1991, I-883 Rn. 22 = NuR 1991, 249 –
Leybucht; BVerwG, Urteil vom 1. April 2004 – 4 C 2/03 –, BVerwGE 120, 276 =
BRS 67 Nr. 215 = juris 40; Schlacke, a. a. O., § 32 Rdn. 40). Ausnahmen aus
rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten sind hingegen unzulässig (BVerwG,
Urteil vom 1. April 2004 – 4 C 2/03 –, a. a. O. m. w. N.). Derartige
Ausnahmegründe hat die Antragsgegnerin für das Planvorhaben, welches das
faktische Vogelschutzgebiet um eine nicht unerhebliche Flächengröße von
etwa 47 ha verkleinert, weder im gerichtlichen Verfahren angeführt noch bei
der Planung eingestellt. Die durch die Entlastungsstraße beabsichtigte
Abgasreduzierung im Ortskern von B stellt jedenfalls keinen überragenden
Gemeinwohlbelang dar.
2. Der weitere Normenkontrollantrag des Antragstellers gegen den
Bebauungsplan Nr. 72 "Kommunale Entlastungsstraße B", den der
Antragsteller als Stufenklage in Form einer kumulativen objektiven
Klagehäufung nach § 44 VwGO und entsprechend § 254 ZPO
zulässigerweise stellen durfte (vgl. BayVGH, Urteil vom 14. Juli 2006 – 1 N
05.300 –, BauR 2006, 1941 = juris Rn. 20 sowie Urteil vom 14. August 2008 –
1 N 07.2753 –, juris Rn. 35), hat ebenfalls Erfolg.
Der Antrag ist aus den voranstehenden Gründen zum Bebauungsplan Nr. 72 –
1. Änderung – begründet.
3. Nach dem Gesagten bedarf es keiner Entscheidung über die von dem
Antragsteller in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten vier weiteren
(Beweis-)Anträge.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.
V. m. § 709 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht
vor.
Beschluss
Der Streitwert für das Normenkontrollverfahren wird gemäß § 52 Abs. 1 GKG i.
V. m. Nr. 9 lit. a der regelmäßigen Streitwertannahmen des Senats für
Verfahren, die nach dem 1. 2002 anhängig geworden sind (NdsVBl. 2002, 192
= NordÖR 2002, 197), auf 40.000,-- € festgesetzt.