Urteil des HessVGH vom 22.05.1996

VGH Kassel: fraktion, wiedereinsetzung in den vorigen stand, beschwerdeschrift, rechtsmittelbelehrung, übereinstimmende willenserklärungen, mitgliedschaft, beschwerdefrist, brief, rechtspflege

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
6. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
6 TG 3665/95
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 58 VwGO, § 36a Abs 1
GemO HE
(Fehlender Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung auf die
gleichzeitig erfolgte Streitwertfestsetzung hat keine
Auswirkungen auf die Rechtsmittelbelehrung hinsichtlich
der Sachentscheidung; Fraktionsbildung nach einer
Kommunalwahl)
Gründe
Die Beschwerde hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang
Erfolg.
Die Beschwerde ist zulässig. Aufgrund der vom Antragsteller vorgelegten
eidesstattlichen Versicherungen geht der Senat davon aus, daß der Antragsteller
die zweiwöchige Beschwerdefrist gewahrt hat (§ 147 Abs. 1 Satz 1
Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -).
Die Beschwerdefrist begann mit der Zustellung des angefochtenen Beschlusses
am 6. Oktober 1995 zu laufen und endete am Freitag, dem 20. Oktober 1995,
wobei dieser Tag kein gesetzlicher Feiertag war. Dabei war der Lauf der
zweiwöchigen Beschwerdefrist nicht dadurch gehindert, daß das
Verwaltungsgericht in der in dem angefochtenen Beschluß erteilten
Rechtsmittelbelehrung lediglich auf das statthafte Rechtsmittel gegen die in dem
Beschluß getroffene Sachentscheidung hingewiesen hat und eine
Rechtsmittelbelehrung hinsichtlich der gleichzeitig auch erfolgten
Streitwertfestsetzung fehlt. Dieser Umstand wirkt sich auf die Ordnungsgemäßheit
der Rechtsmittelbelehrung betreffend die Sachentscheidung nicht aus; diese
Rechtsmittelbelehrung ist vollständig und richtig. Daß dem Antragsteller darüber
hinaus noch die Streitwertbeschwerde zustand und daß er über dieses
Rechtsmittel nicht zutreffend belehrt worden ist, berührt die Rechtmäßigkeit der
Rechtsmittelbelehrung gegen die Sachentscheidung nicht.
Zwar trägt die Beschwerdeschrift den Eingangsstempel des 21. Oktober 1995 und
wäre, wenn dieses Datum den Eingang der Beschwerdeschrift bei Gericht richtig
wiedergeben sollte, erst nach Fristablauf und damit verspätet bei Gericht
eingegangen. Der Antragsteller hat aber vorgetragen, die am 20. Oktober 1995
verfaßte Beschwerdeschrift sei noch am Spätnachmittag des 20. Oktober 1995 in
den Fristbriefkasten des Verwaltungsgerichts Wiesbaden von einem ihm
bekannten Rechtsanwalt eingeworfen worden. Der Senat ist aufgrund der
durchgeführten Sachverhaltsaufklärung von der Richtigkeit dieses Vortrages
überzeugt. Zum einen hat der Antragsteller selbst die Richtigkeit der von ihm
gegebenen Schilderung der Vorgänge im Zusammenhang mit dem Eingang der
Beschwerdeschrift bei Gericht an Eides Statt versichert. Darüber hinaus hat er
auch eine ausführliche eidesstattliche Versicherung des betroffenen Rechtsanwalts
vorgelegt. Dieser hat die Ereignisse im Zusammenhang mit der Abfassung und
dem Einwurf der Beschwerdeschrift in den Fristbriefkasten des Verwaltungsgerichts
auch plausibel dargestellt und darauf hingewiesen, an diesem Nachmittag sei der
Fristbriefkasten des Gerichts extrem voll gewesen. Zwar haben die Bediensteten
des Verwaltungsgerichts Wiesbaden ausgeführt, sie hätten die im Fristbriefkasten
befindlichen Schriftstücke - wie an jedem Wochenende - den jeweiligen
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befindlichen Schriftstücke - wie an jedem Wochenende - den jeweiligen
Eingangstagen zugeordnet und abgestempelt; es ist jedoch nicht ausgeschlossen,
daß der die Beschwerdeschrift enthaltende Brief des Antragstellers bei dieser
Zuordnung versehentlich auf einen falschen Stapel gelangt ist und deswegen den
Eingangsstempel vom 21. Oktober 1995 erhalten hat. Da der vom Antragsteller
mit dem Einwurf der Beschwerdeschrift in den Fristbriefkasten des Gerichts
betraute Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege an Eides Statt versichert hat,
das Schriftstück noch am späten Nachmittag bzw. frühen Abend des 20. Oktober
1995 in den Fristbriefkasten des Verwaltungsgerichts geworfen zu haben und für
den Senat keine Veranlassung besteht, an der Richtigkeit dieser Aussage zu
zweifeln, demgegenüber die Bediensteten des Verwaltungsgerichts Wiesbaden
nicht mit der erforderlichen Gewißheit bestätigen konnten, gerade die
Beschwerdeschrift dem Eingangsfach des 21. Oktober 1995 entnommen zu
haben, geht der Senat von dem fristgerechten Eingang der Beschwerdeschrift bei
Gericht aus. Ob dem Antragsteller wegen unverschuldeter Versäumung der
Beschwerdefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden muß,
bedarf daher keiner Entscheidung mehr.
Der Antragsteller kann von der Antragsgegnerin verlangen, vorläufig bis zu einer
Entscheidung in der Hauptsache als Mitglied der Fraktion "Die R" behandelt zu
werden. Der Antragsteller ist mit der Kommunalwahl kraft Gesetzes Mitglied der
Antragsgegnerin geworden und von dieser in der Folgezeit auch nicht durch einen
wirksamen Beschluß aus der Fraktion ausgeschlossen worden.
Der Anordnungsanspruch rechtfertigt sich aus § 36 a Abs. 1 Satz 4 Hessische
Gemeindeordnung - HGO -. Danach erhalten Parteien oder Wählergruppen, die
durch Wahlen in der Gemeindevertretung vertreten sind, Fraktionsstatus. Diese
Vorschrift kann schon vom Wortlaut her nur dahin verstanden werden, daß
sämtliche Gemeindevertreter, die derselben Partei oder derselben Wählergruppe
angehören, automatisch mit Beendigung des Wahlverfahrens und Feststellung des
Wahlergebnisses eine Fraktion bilden. Der Umstand, daß § 36 a Abs. 1 Satz 4 HGO
darüber hinaus auch den Minderheitenschutz bezweckt und sicherstellen soll, daß
Parteien oder Wählergruppen, die in der Gemeindevertretung vertreten sind, auch
dann den Fraktionsstatus erhalten können, wenn sie von der Anzahl ihrer
Mitglieder her nicht das für die Fraktionsbildung erforderliche Quorum erfüllen,
ändert an dieser Auslegung nichts. Denn der Wortlaut der Regelung in § 36 a Abs.
1 Satz 4 HGO ist eindeutig und differenziert nicht nach Anzahl und Stärke der
Mitglieder der Partei oder Wählergruppe. Daß den Gemeindevertretern darüber
hinaus durch § 36 a Abs. 1 Satz 1 HGO die Möglichkeit eingeräumt wird, sich auf
freiwilliger Basis zu einer Fraktion zusammenzuschließen, steht der vom Senat
vorgenommenen Auslegung der Vorschrift ebenfalls nicht entgegen. Danach
können Gemeindevertreter auch partei- oder wählergruppenübergreifende
Fraktionen bilden, wobei sie aus der Fraktion, der sie von Gesetzes wegen
angehören, ausscheiden. Ebenfalls können sich mehrere parteilose
Gemeindevertreter, wenn sie die sonstigen nach der Geschäftsanordnung
aufgestellten Voraussetzungen für die Fraktionsbildung erfüllen, zu einer
gemeinsamen Fraktion zusammenschließen. Eine derartige - nachträgliche -
Fraktionsbildung kann beispielsweise dazu führen, daß die ursprünglich an die
Mitgliedschaft in einer Partei oder Wählergruppe geknüpfte und aufgrund dieser
Mitgliedschaft gebildete Fraktion unter Umständen in dieser Form nicht mehr
fortbesteht, sondern durch die infolge des freiwilligen Zusammenschlusses
gebildete neue Fraktion ersetzt wird oder eine weitere Fraktion entsteht.
Dieser dem Antragsteller durch die Wahl zum Gemeindevertreter als Mitglied der
Partei "Die R" kraft Gesetzes eingeräumte Status eines Mitgliedes in der Fraktion
ist ihm auch nicht nachträglich durch einen wirksamen Fraktionsausschluß
entzogen worden. Zwar ist anerkannt, daß die Fraktionen grundsätzlich befugt
sind, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu regeln und unter anderem auch über
den Ausschluß von Mitgliedern zu befinden (vgl. Hess. VGH, Beschluß vom 2.
August 1984, in: Hessische Städte- und Gemeindezeitung 1987, Seite 209). Der
Ausschluß aus der Fraktion ist allerdings nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes
möglich, wobei sich die Fraktion über die materiell-rechtlichen Voraussetzungen
eines Ausschlusses im klaren sein muß. Daran fehlt es hier, weil die
Antragsgegnerin bei ihrem Beschluß vom 7. März 1993 die für einen Ausschluß
maßgebenden rechtlichen Maßstäbe offensichtlich verkannt hat und davon
ausgegangen ist, frei über die Frage einer Mitgliedschaft des Antragstellers in der
Fraktion "Die R" entscheiden zu können. Dieser Beschluß der Antragsgegnerin, in
dem sie sich dafür ausgesprochen hat, den Antragsteller nicht in die Fraktion "Die
R" aufzunehmen, stellt faktisch einen Ausschluß des Antragstellers aus der
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R" aufzunehmen, stellt faktisch einen Ausschluß des Antragstellers aus der
Fraktion dar, da dem Antragsteller dadurch das ihm kraft gesetzlicher Regelung
eingeräumte Mitgliedsrecht nachträglich wieder entzogen werden sollte. Deshalb
hätte die Antragsgegnerin den Antragsteller nur aus wichtigem Grund "nicht
aufnehmen", also ausschließen können, wobei sie bei ihrer Entscheidung auf diese
Voraussetzung maßgeblich hätte abstellen und die Gründe im einzelnen darlegen
müssen. Dies ist nicht geschehen, da der Beschluß der Antragsgegnerin vom 7.
März 1993 nicht erkennen läßt, welcher wichtige Grund für die "Nichtaufnahme"
des Antragstellers in die Fraktion, d.h. seinen Ausschluß aus der Fraktion,
maßgeblich gewesen sein könnte.
Hinsichtlich des zuvor dargelegten Anordnungsanspruchs hat der Antragsteller
auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Da sich die Antragsgegnerin
weigert, dem Antragsteller die diesem zustehenden Rechte einzuräumen und eine
rechtskräftige Entscheidung nicht vor Ablauf der jetzigen Wahlperiode zu erwarten
ist, ist die einstweilige Anordnung nötig, um eine nachhaltige Verletzung der dem
Antragsteller zustehenden Rechte zu verhindern.
Im übrigen muß der Antrag aber abgelehnt werden.
Das Begehren, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu
verpflichten, ihn in die Fraktion aufzunehmen, läuft leer, denn der Antragsteller ist
Mitglied der Fraktion. Im übrigen kommt ein gerichtlicher Ausspruch auch deshalb
nicht in Betracht, weil sich für diesen Anspruch keine gesetzliche Grundlage findet.
Insbesondere kann ein derartiger Anspruch nicht aus § 36 a Abs. 1 HGO
hergeleitet werden. Soweit ein Gemeindevertreter nicht bereits aufgrund der
vorangegangenen Wahl kraft Gesetzes Mitglied einer Fraktion geworden ist, erfolgt
die Bildung von Fraktionen durch übereinstimmende Willenserklärungen der
beteiligten Gemeindevertreter. Nur zwischen den Gemeindevertretern, die
bezüglich der Bildung einer gemeinsamen Fraktion Übereinstimmung erzielt
haben, kann ein Fraktionsvertrag zustande kommen. Bei dieser Entscheidung sind
die Gemeindevertreter grundsätzlich frei; gesetzliche Vorschriften, die die
Entscheidungsfreiheit einschränken oder beeinflussen könnten, bestehen nicht.
Gleiches gilt für die spätere Aufnahme eines Gemeindevertreters in eine Fraktion;
auch hier steht die Entscheidung grundsätzlich im freien Belieben der
Fraktionsmitglieder. Einen Anspruch eines Gemeindevertreters auf Aufnahme in
eine bestehende Fraktion gibt es im Hessischen Gemeinderecht nicht.
Auch aus den gesetzlichen Regelungen anderer Bundesländer kann ein derartiger
Anspruch nicht hergeleitet werden; für die Bildung von Fraktionen in hessischen
Gemeindevertretungen sowie für den Aufnahmeanspruch eines hessischen
Gemeindevertreters in eine bestehende Fraktion gilt ausschließlich hessisches
Landesrecht; Regelungen in außerhessischen Vorschriften können einen
derartigen Anspruch nicht begründen.
Schließlich kann auch das mit dem Hilfsantrag verfolgte Begehren auf Aufhebung
der Beschlüsse vom 7. März 1993 (Bildung der Fraktion ohne den Antragsteller)
und vom 5. Dezember 1994 (Ablehnung des erneuten Aufnahmeantrages des
Antragstellers) nicht im Wege einer einstweiligen Anordnung verfolgt werden. Für
ein derartiges Aufhebungsbegehren fehlt das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis,
da im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 VwGO stets nur
diejenigen Maßnahmen getroffen werden dürfen, die nötig sind, um wesentliche
Beeinträchtigungen der vom Antragsteller als verletzt gerügten Rechte zu
verhindern. In diesem Zusammenhang reicht es aber aus, den Antragsteller
vorläufig so zu stellen, daß er als Mitglied der Antragsgegnerin zu behandeln ist;
eine Aufhebung von Beschlüssen, die sich mit Einzelfragen der Mitgliedschaft des
Antragstellers befassen, ist demgegenüber im gerichtlichen Eilverfahren nicht
erforderlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 2 VwGO; danach sind die Kosten des
Verfahrens verhältnismäßig zu teilen.
Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren folgt aus entsprechender
Anwendung des § 14 Abs. 1 Gerichtskostengesetz - GKG - in Verbindung mit §§ 20
Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 2 GKG; die Befugnis zur Abänderung der erstinstanzlichen
Streitwertfestsetzung beruht auf § 25 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.