Urteil des HessVGH vom 17.05.1995
VGH Kassel: aufschiebende wirkung, erhaltung, initiativrecht, bevölkerung, magistrat, bauarbeiten, weltkrieg, arbeitsrecht, zerstörung, zahl
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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
6. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
6 TG 1554/95
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 8b GemO HE, § 123
VwGO
(Anspruch der Initiatoren eines Bürgerbegehrens auf Erlaß
einer einstweiligen Anordnung)
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Da die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren ihr Begehren ausschließlich gegen
die Antragsgegnerin zu 2. gerichtet hat, ist die Antragsgegnerin zu 1. am
Beschwerdeverfahren nicht mehr beteiligt. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens
ist - im Unterschied zu dem erstinstanzlichen Verfahren - nur noch das von der
Antragstellerin beabsichtigte (neue) Bürgerbegehren gegen den von der
Stadtverordnetenversammlung der Antragsgegnerin am Abend des 15. Mai 1995
gefaßten Beschluß. Das von der Antragstellerin zuvor initiierte Bürgerbegehren,
das ebenfalls ein grundsätzlich gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1
Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - sicherungsfähiges Initiativrecht ausgelöst
hat, auch wenn es sich nicht gegen einen Beschluß der
Stadtverordnetenversammlung richtete (dies ist nach § 8 b Abs. 1, 3 Satz 1 1. HS
Hess. Gemeindeordnung - HGO - ebenfalls zulässig), ist durch den Beschluß der
Stadtverordnetenversammlung überholt worden. Die Einbeziehung des neuen
Bürgerbegehrens in das rechtshängige Beschwerdeverfahren ist eine
Antragsänderung, die jedoch gemäß § 91 VwGO - ungeachtet des
Einverständnisses der übrigen Verfahrensbeteiligten - jedenfalls sachdienlich und
damit zulässig ist. Die Sachdienlichkeit folgt dabei aus der Überlegung, daß eine
Verweisung des Begehrens an das insoweit erstinstanzlich zuständige
Verwaltungsgericht gegen den Grundsatz der Gewährung wirksamen und
effektiven Rechtsschutzes verstoßen hätte und das Verfahren dadurch in
unnötiger Weise verzögert worden wäre.
Die mit dem geänderten Antrag gestellte Beschwerde hat auch in der Sache
Erfolg, weil die Antragstellerin gegen die Antragsgegnerin zu 2. einen Anspruch auf
Sicherung ihres Initiativrechtes mit dem Ziel der Einreichung eines
Bürgerbegehrens gegen den Beschluß der Stadtverordnetenversammlung der
Antragsgegnerin zu 2. vom 15. Mai 1995 glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 1
Satz 1 VwGO).
Der Antrag auf Erlaß der Sicherungsanordnung ist zulässig, insbesondere
statthaft, da weder Bürgerbegehren noch Bürgerentscheid gegenüber dem
Beschluß der Gemeindevertretung aufschiebende Wirkung entfalten (§ 123 Abs. 5
VwGO).
Die einstweilige Anordnung ist auch begründet. Die Antragstellerin hat sowohl den
erforderlichen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft
gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozeßordnung -
ZPO -).
Ein Anordnungsgrund liegt vor, weil im Falle der Versagung vorläufigen
Rechtsschutzes das Initiativrecht der Antragstellerin, ein gegen den Beschluß der
Stadtverordnetenversammlung der Antragsgegnerin vom 15. Mai 1995
gerichtetes Bürgerbegehren nach Maßgabe von § 8 b Abs. 3 HGO innerhalb von
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gerichtetes Bürgerbegehren nach Maßgabe von § 8 b Abs. 3 HGO innerhalb von
sechs Wochen nach Bekanntgabe des Beschlusses einreichen zu können, vereitelt
werden würde, da der Magistrat der Antragsgegnerin durch den Beschluß der
Stadtverordnetenversammlung, nur einen Teil der Festungsanlage unter
bestimmten, zeitlich befristet geltenden Bedingungen zu erhalten, nicht gehindert
wäre, sofort den von diesem Beschluß nicht erfaßten Teil der Festungsanlage
abzureißen und auf diese Weise vollendete Tatsachen zu schaffen. Der - auch nur
teilweise - Abriß der alten Festungsmauern wäre nicht wieder rückgängig zu
machen, für den Fall, daß es der Antragstellerin gelingen sollte, innerhalb der
gesetzlichen Sechs-Wochen-Frist ein Bürgerbegehren für die von ihr geforderte
Erhaltung der Mauerreste einzubringen. Der Antragstellerin kann in diesem
Zusammenhang nicht vorgehalten werden, sie verfolge ihr Anliegen nicht
ernsthaft, da sie in den vergangenen Wochen erhebliche Anstrengungen
unternommen hat, um durch Sammlung von Unterschriften für den Fortbestand
und Erhalt der alten Festungsmauern zu sorgen.
Die Antragstellerin hat auch den sich aus § 8 b HGO ergebenden
Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. In dieser Vorschrift wird ein Initiativrecht
des Bürgers auf Einreichung und Durchführung des Bürgerbegehrens mit dem Ziel
des Antrags auf einen Bürgerentscheid vorausgesetzt (vgl. hierzu und zu der
Bedeutung des Bürgerbegehrens: Hess.VGH, Beschluß vom 26. Oktober 1993 - 6
TG 2221/93 -).
Die Antragstellerin ist als Bürgerin der Antragsgegnerin berechtigt, ein
Bürgerbegehren zu initiieren. Ihr Begehren ist weder rechtsmißbräuchlich noch -
bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Senats - offensichtlich
aussichtslos. Von der Antragstellerin kann knapp zwei Tage nach der
Beschlußfassung durch die Stadtverordnetenversammlung nämlich nicht verlangt
werden, ein den Anforderungen des § 8 b Abs. 3 Satz 2 HGO vollständig
genügendes Bürgerbegehren formuliert zu haben. Insbesondere ist es nicht
erforderlich, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits sämtliche formalen und
inhaltlichen Anforderungen, die § 8 b HGO an das Bürgerbegehren stellt, erfüllt
sind, d. h., daß die zu entscheidende Frage, eine Begründung, ein
Kostendeckungsvorschlag und bis zu drei Vertrauenspersonen schriftlich
aufgeführt sind; erst recht kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht
gefordert werden, daß ein derartiges Begehren von der vorgeschriebenen Zahl von
Unterzeichnern unterschrieben ist. Diese Voraussetzungen müssen erst im
Zeitpunkt des Ablaufs der Sechs-Wochen-Frist, d. h. mit der Einreichung des
Begehrens, erfüllt sein; genügt das Begehren in diesem Zeitpunkt den
Anforderungen nicht, ist es unzulässig. Angesichts der Tatsache, daß es der
Antragstellerin in den vergangenen Wochen gelungen ist, nach ihrem Vortrag
bereits mehr als 5.000 Unterschriften für den Erhalt der Festungsmauern zu
sammeln, kann derzeit nicht ausgeschlossen werden, daß es ihr auch gelingt,
innerhalb der in § 8 b Abs. 3 Satz 1 HGO normierten Sechs-Wochen-Frist ein
wirksames und zulässiges Bürgerbegehren einzureichen. In diesem
Zusammenhang ist allerdings festzustellen, daß die von der Antragstellerin bislang
gesammelten Unterschriften für das gegen den Beschluß der
Stadtverordnetenversammlung vom 15. Mai 1995 zu richtende Bürgerbegehren
wohl nicht verwertbar sind, zumal die seinerzeit von der Antragstellerin initiierte
Bürgerbefragung in keiner Weise den inhaltlichen Anforderungen des § 8 b Abs. 3
Satz 2 HGO entsprach.
Die von der Antragstellerin erstrebte Erhaltung der anläßlich der Tiefbauarbeiten
zum Bau der Tiefgarage gefundenen Mauerreste der Festung Zwehrenberg stellt
sich auch als eine wichtige Angelegenheit der Gemeinde dar, die von dem
Ausschlußkatalog des § 8 b Abs. 2 HGO nicht erfaßt wird. Daß es sich hierbei um
eine wichtige Angelegenheit handelt, zeigt schon die Tatsache, daß sich die
Stadtverordnetenversammlung der Antragsgegnerin zu 2. auf eine entsprechende
Vorlage des Magistrats der Antragsgegnerin hin mit der Frage der Erhaltung der
Mauerreste befaßt und einen Beschluß mit dem Ziel des zumindest teilweisen
Erhalts dieser Mauerreste gefaßt hat. Bei der Beurteilung der Frage, ob es sich um
eine wichtige Angelegenheit der Gemeinde handelt, ist im übrigen darauf
abzustellen, ob die Angelegenheit den örtlichen Wirkungskreis der Gemeinde
betrifft. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß sich angesichts der
starken Zerstörung, die Kassel im Zweiten Weltkrieg erfahren hat, kaum noch alte
und erhaltenswerte Bausubstanz findet.
Das beabsichtigte Bürgerbegehren mit dem Ziel, die Mauerreste der
Festungsanlage zu erhalten, hat auch keine Weisungsaufgaben zum Gegenstand;
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Festungsanlage zu erhalten, hat auch keine Weisungsaufgaben zum Gegenstand;
die Entscheidung über die Durchführung der Bauarbeiten nach Maßgabe der
erteilten Genehmigungen und Erlaubnisse obliegt vielmehr der Antragsgegnerin
als Maßnahme der kommunalen Selbstverwaltung. Es geht nämlich nicht um die
Befolgung oder Nichtbefolgung von Anweisungen der Denkmalschutz- oder
Bauaufsichtsbehörden.
Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Vorfeld der Einreichung eines
Bürgerbegehrens stellt sich schließlich nicht als unzumutbare Behinderung der
Tätigkeit der Organe der Antragsgegnerin dar. Zum einen verhindert die
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die Schaffung vollendeter Tatsachen
seitens der Gemeindeorgane, wodurch einem Bürgerentscheid die Grundlage
entzogen würde; zum anderen haben sowohl die Stadtverordnetenversammlung
als auch der Magistrat die Möglichkeit, auf eine bestimmte Willensbildung in der
Bevölkerung hinzuwirken und das mit dem Bürgerentscheid erstrebte Plebiszit in
ihrem Sinne durch entsprechende Überzeugungsarbeit zu beeinflussen. In diesem
Zusammenhang verkennt der Senat nicht, daß eine Verzögerung bei der
Durchführung der Bauarbeiten an der Tiefgarage für die Antragsgegnerin zu 2.
erhebliche finanzielle Konsequenzen hat; dabei darf aber nicht übersehen werden,
daß im Falle des Abbruchs der Mauerreste diese unwiederbringlich verloren wären
und - gesetzt den Fall, eine Mehrheit der Bevölkerung der Antragsgegnerin zu 2.
würde sich für den Erhalt der Mauerreste aussprechen - der frühere Zustand auf
keinen Fall wiederhergestellt werden könnte. Im übrigen ist durch die auf sechs
Wochen begrenzte Untersagung des Abbruchs nicht jedwede Bautätigkeit an der
Baustelle ausgeschlossen; Arbeiten in Bereichen, die von den gefundenen
Mauerresten nicht tangiert werden, können selbstverständlich weitergeführt
werden. Schließlich hat der Senat im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung
auch berücksichtigt, daß die Antragsgegnerin zu 2., deren Gremien sich in den
vergangenen Wochen ebenfalls mit der Frage der Erhaltung der gefundenen
Mauerreste befaßt haben, durch den insoweit notwendigen Entscheidungsprozeß
ebenfalls Mehrkosten verursacht hat; angesichts dieser Sachlage muß es auch der
Antragstellerin zugestanden werden, von den im Gesetz vorgesehenen Rechten
Gebrauch zu machen, selbst wenn hierdurch Kosten verursacht werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 155 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 2 und dem
entsprechend anzuwendenden § 14 Gerichtskostengesetz - GKG -.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 25 Abs. 2 Satz 3 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.