Urteil des HessVGH vom 01.11.2010

VGH Kassel: verordnung, sanktion, euratom, fahrlässigkeit, rückforderung, gemeinschaftsrecht, ausschluss, rückzahlung, landwirtschaft, eugh

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
11. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
11 A 1872/10.Z
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 32 EGV 2419/2001, Art
9 Abs 2 EWGV 3887/92, Art
2 Abs 2 S 2 EGV 2988/95,
Art 11 EWGV 3887/92, § 48
Abs 1 VwVfG
Ausschluss von Gemeinschaftsbeihilfe wegen grob
fahrlässiger Falschangaben
Leitsatz
Art. 32 der Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 sieht eine im Verhältnis zu Art. 9 Abs. 2
Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 abgemilderte Sanktion für grob fahrlässig fehlerhafte
Flächenangaben vor; gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EG, Euratom) Nr.
2988/95 kommt diese Sanktion auch rückwirkend zur Anwendung.
Art. 11 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 berechtigt die Mitgliedstaaten nicht,
nationale Sanktionen vorzusehen, die aus Kürzungen oder dem Ausschluss des
Gesamtbetrags der Gemeinschaftsbeihilfe bestehen, da die vorgenannte Verordnung
derartige Sanktionen abschließend regelt (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Mai 2007 - C-45/05
-, juris).
Tenor
Auf Antrag des Klägers wird die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des
Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 2. August 2010 zugelassen.
Das Antragsverfahren wird als Berufungsverfahren unter dem Aktenzeichen 11 A
2298/10 fortgeführt.
Die Kostenentscheidung folgt der Entscheidung über die Hauptsache.
Gründe
I.
Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme eines Förderbescheides und die
Rückforderung einer Ausgleichszulage für die Förderung landwirtschaftlicher
Betriebe in benachteiligten Gebieten.
Mit Bewilligungsbescheid vom 23. Oktober 2000 gewährte das Amt für
Regionalentwicklung, Landschaftspflege und Landwirtschaft L. - im Folgenden: ARLL
- dem Kläger entsprechend seinem Antrag auf Gewährung einer Ausgleichszulage
laut „Gemeinsamer Antrag Flächen 2000 und „Mantelbogen 2000“ eine
Ausgleichszulage in Höhe von 12.000 DM. Grundlage für die Gewährung der
Ausgleichszulage waren die Hessischen Richtlinien für die Förderung
landwirtschaftlicher Betriebe in benachteiligten Gebieten - Förderrichtlinien -. Diese
Richtlinien dienen zur Umsetzung der Art. 13 Buchst. a, 14, 15, und 19 der
Verordnung (EG) Nr. 1257/1999 des Rates vom 17. Mai 1999 über die Förderung
der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Ausrichtungs- und
Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) und zur Aufhebung und Änderung
bestimmter Verordnungen (ABl. L 160, S. 80) - Verordnung (EG) Nr. 1275/1999 -
auf der Grundlage von § 9 Abs. 1 des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ vom 3. September
1969 (BGBl. I S. 1573), zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. August 1997 (BGBl. I
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1969 (BGBl. I S. 1573), zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. August 1997 (BGBl. I
S. 2027). Der Berechnung der Ausgleichszulage legte das ARLL die im Flächen-
und Nutzungsnachweis des Klägers angegebene Grünlandfläche von 48,3259 ha
zugrunde. Daraus ergab sich eine Grünlandförderung in Höhe von 13.821,21 DM,
die auf die maximale Förderung von 12.000 DM (Nr. 6.6 der Förderrichtlinien)
gekürzt wurde.
Während einer Verwaltungskontrolle vor Ort am 14. November 2000 konnte unter
anderem für vier im Antrag bezeichnete Katasterflurstücke (lfd. Nrn. 67 [Unland],
77 [Scheunengebäude], 80 [Hofgrundstück], 84 [Teich]) eine beihilfefähige
Nutzung als Mähweide (zumindest teilweise) nicht festgestellt werden. Hinsichtlich
weiterer Flächen (lfd. Nrn. 11, 74, 82, 136, 144, 153, 158 und 159) ergaben sich
Abweichungen zwischen den beantragten und ermittelten Flächengrößen.
Daraufhin „widerrief“ der Beklagte mit Bescheid vom 16. August 2001 den
Bewilligungsbescheid vom 23. Oktober 2000 und forderte den Kläger zur
Rückzahlung der gesamten Ausgleichszulage in Höhe von 12.000 DM sowie der
Zahlung von 592 DM Zinsen auf, da der Kläger grob fahrlässige Falschangaben in
Bezug auf die Flächen mit den laufenden Nummern 67, 77, 80 und 84 gemacht
habe. Den gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit
Bescheid vom 6. März 2002 zurück.
Die am 29. April 2002 erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht, nachdem
Vergleichsverhandlungen zwischen den Beteiligten gescheitert waren, mit
Gerichtsbescheid vom 2. August 2010 zurück.
Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht unter anderem aus,
Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 23. Oktober
2000 sei § 48 Abs. 1 HVwVfG. Danach dürfte ein rechtswidriger Verwaltungsakt,
der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründe (begünstigender
Verwaltungsakt) unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 mit Wirkung für
die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Der
Bewilligungsbescheid sei rechtswidrig, weil er auf fehlerhaften Flächenangaben
beruhe. Die Unkenntnis des Klägers, dass ihm der Förderungsbetrag nicht in voller
Höhe zustehe, beruhe - soweit die Flächen mit den Nrn. 67, 77, 80 und 84
betroffen seien - auch auf grober Fahrlässigkeit. Mit seinem Vortrag, er habe sich
hinsichtlich der Nutzung der besagten Flächen auf die Angaben seines
Verpächters verlassen können, könne er nicht durchdringen. Bei der
Antragstellung habe er die Angaben des Verpächters nicht ungeprüft übernehmen
dürfen, sondern hätte sich vergewissern müssen, dass seine Angaben im
Förderantrag den Tatsachen entsprechen. Besonderer Ermessenserwägungen
habe es nicht bedurft. Im Zusammenhang mit den Sanktionen, die den Kläger
wegen seiner grobfahrlässigen Falschangaben träfen, sei unerheblich, ob die
Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 der Kommission vom 11 Dezember 2001 mit
Durchführungsbestimmungen zum mit der Verordnung (EWG) Nr. 3508/92 des
Rates eingeführten Verwaltungs- und Kontrollsystem für bestimmte
gemeinschaftsrechtliche Beihilferegelungen (ABl. L 327, S. 11) - Verordnung (EG)
Nr. 2419/2001 - oder die Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 der Kommission vom 23
Dezember 1992 mit Durchführungsbestimmungen zum integrierten Verwaltungs-
und Kontrollsystem für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen (ABl. L.
391, S. 36) - Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 - Anwendung fänden. Denn das
Gemeinschaftsrecht überlasse die Bestimmung der Sanktionen den
Mitgliedstaaten. Nach Nr. II.8.2.1 der Förderrichtlinien werde der Begünstigte für
das betreffende Verpflichtungsjahr von jeglicher Förderung ausgeschlossen, wenn
grob fahrlässig falsche Angaben gemacht würden. Bei zu Unrecht gezahlten
Beträgen sei der Begünstigte auch verpflichtet, diese Beträge mit 6% zu
verzinsen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stehe der
Rückzahlungsverpflichtung nicht entgegen. Die Aufhebung des
Zuwendungsbescheides erfolge weder für einen lange zurückliegenden Zeitraum,
noch sei von einer lediglich unerheblichen Pflichtverletzung auszugehen. Die
Rückforderung führe auch nicht zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz des
Klägers
Gegen den vorgenannten Gerichtsbescheid, der am 9. August 2010 zugestellt
wurde, hat der Kläger am 3. September 2010 die Zulassung der Berufung
beantragt. Diesen Antrag begründete er am 11. Oktober 2010, einem Montag,
damit, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen
Entscheidung bestünden. Das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht die Sanktion
der vollständigen Rückzahlung der bewilligten Ausgleichszulage auf den Vorwurf
der groben Fahrlässigkeit gestützt. Dabei werde verkannt, dass die
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der groben Fahrlässigkeit gestützt. Dabei werde verkannt, dass die
Sanktionsregelung für grob fahrlässig unrichtige Flächenangaben in der
Verordnung (EWG) 3887/92 in Art. 32 der Verordnung (EG) 2419/2001 fallen
gelassen werde. Die günstigere Regelung der letztgenannten Verordnung sei
wegen des allgemeinen „Günstigkeitsprinzips“, das in der Verordnung (EG,
Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der
finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft (ABl. L 312, S. 4) -
Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 - seinen Niederschlag gefunden habe,
auch auf Antragstellungen anzuwenden, die vor dem Jahre 2001 erfolgt seien.
Letztgenannte Verordnung gehe auch den verwaltungsinternen Förderrichtlinien
vor. Weiterhin sei die Rückforderung des gesamten Förderbetrages wegen der
Falschdeklarierung einer Fläche, die lediglich 1,4 % ausmache, unverhältnismäßig.
Ergänzend wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses
Verfahrens sowie des Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden mit dem
Aktenzeichen 2 E 1298/07 und die beigezogenen Verwaltungsakten (2 Hefter).
II.
Der gemäß § 124a Abs. 4 VwGO statthafte Antrag des Klägers auf Zulassung der
Berufung hat auch in der Sache Erfolg, da der Senat die vom Kläger geltend
gemachten und dargelegten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der
angefochtenen Entscheidung (Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO)
teilt.
Derartige Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts
ergeben sich daraus, dass die Vorinstanz eine Anwendung des Sanktionssystems
des Art. 32 der Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 zugunsten des Klägers abgelehnt
hat. Art. 32 Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 sieht in Bezug auf den konkreten Fall
eine im Verhältnis zu Art. 9 Abs. 2 Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 abgemilderte
Sanktion für auf grober Fahrlässigkeit beruhenden fehlerhaften Flächenangaben
vor. In der Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 wird der vollständige Ausschluss der
flächenbezogenen Beihilfe für die betreffende Kulturgruppe nicht mehr an grob
fahrlässige Falschangaben gekoppelt (so Art. 9 Abs. 2 Verordnung (EWG) Nr.
3887/92), sondern nur noch an die Differenz zwischen der angegebenen Fläche
einer Kulturgruppe und der im Rahmen der Vor-Ort-Kontrollen ermittelten Flächen
von über 20%. Nach den bisherigen Erkenntnissen liegt eine derartige
Flächenabweichung aber hier nicht vor.
Gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 hätte das
spätere Sanktionssystem hier zur Anwendung kommen müssen. Denn nach der
vorgenannten Regelung gelten bei späterer Änderung der in einer
Gemeinschaftsregelung enthaltenen Bestimmung über verwaltungsrechtliche
Sanktionen die weniger strengen Bestimmungen rückwirkend (vgl. dazu auch
EuGH, Urteil vom 1. Juli 2004 - C-295/02 -, juris). Der Anwendbarkeit des Art. 2 Abs.
2 Satz 2 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 kann auch nicht
entgegengehalten werden, die gegenüber dem Kläger ausgesprochene Sanktion
beruhe nicht auf Art. 9 Abs. 2 Verordnung (EWG 3887/92), sondern auf der der
nationalen Regelung des Nr. II.8.2.1 der Förderrichtlinien.
Nr. II.8.2.1 der Förderrichtlinien hat folgenden Wortlaut:
„Für Sanktionen gilt Artikel 9 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/82. Dies
bedeutet insbesondere:
...
Bei Vorliegen falscher Angaben, die aufgrund grober Fahrlässigkeit gemacht
wurden, wird der Begünstigte von der Gewährung jedweder Förderung nach diesen
Richtlinien für das betreffende Verpflichtungsjahr ausgeschlossen.
...“
Bereits aufgrund dieses Wortlauts stellt sich die Frage, ob die Richtlinie überhaupt
ein eigens Sanktionssystem - was nach Art. 11 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92
grundsätzlich möglich wäre - anordnen wollte oder ob es sich bei Nr. II.8.2.1 der
Förderrichtlinie nicht lediglich um einen nachrichtlichen Hinweis für die
Subventionsempfänger auf die nach dem Gemeinschaftsrecht auszusprechenden
Sanktionen handelt. Letzteres hätte zur Folge, dass die gegenüber dem Kläger
ausgesprochene Sanktion nur auf der Grundlage des Art. 9 Abs. 2 der Verordnung
(EWG) Nr. 3887/92 hätte ergehen können, der jedoch rückwirkend auf Grund des in
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 angeordneten
Günstigkeitsprinzips durch die Regelung in Art. 32 Verordnung (EG) Nr. 2419/2001
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Günstigkeitsprinzips durch die Regelung in Art. 32 Verordnung (EG) Nr. 2419/2001
verdrängt wird.
Selbst wenn mit dem Erlass der Förderungsrichtlinie die Anordnung einer
selbstständigen nationalen Sanktion beabsichtigt gewesen sein sollte, führte dies
zu keinem anderen Ergebnis. Denn eine derartige eigenständige nationale
Regelung wäre wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht unwirksam. Sie
könnte insbesondere nicht auf Art. 11 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 gestützt
werden. Insoweit wird auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 24.
Mai 2007 - C-45/05 -, juris, verwiesen. Aus dieser Entscheidung folgt, dass die
Mitgliedstaaten keine nationalen Sanktionen vorsehen dürfen, die aus Kürzungen
und Ausschlüssen des Gesamtbetrags der Gemeinschaftsbeihilfe bestehen, wenn
eine EG-Verordnung aus derartigen Kürzungen und Ausschlüssen des
Gesamtbetrags der Gemeinschaftsbeihilfe bestehende Sanktionen genau regelt.
Dies ist in Art 9 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 nach Auffassung des
Senats der Fall.
Das Antragsverfahren auf Zulassung der Berufung wird als Berufungsverfahren
fortgeführt, ohne dass es der Einlegung der Berufung bedarf (§ 124a Abs. 5 Satz 3
VwGO). Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses
Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist beim Hessischen
Verwaltungsgerichtshof - Kassel - einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf
einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats
verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten
sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe).
Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, ist die Berufung unzulässig (§ 124a Abs.
6 VwGO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.