Urteil des HessVGH vom 25.11.1994
VGH Kassel: asylbewerber, wiedergabe, anschrift, form, asylverfahren, hessen, rückgriff, landessprache, zustellungsfiktion, einheit
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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 UZ 2834/94
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 10 Abs 2 AsylVfG 1992, §
78 Abs 3 Nr 2 AsylVfG
1992, § 32 Abs 2 Nr 2
AsylVfG
(Asylverfahren: Belehrung über die Zustellungsvorschriften
und Folgen einer Obliegenheitsverletzung in der jeweiligen
Landessprache; Berufungszulassung wegen Divergenz
unabhängig von der Übereinstimmung im Endergebnis)
Gründe
Der Antrag ist zulässig (§ 78 Abs. 4 Sätze 1 bis 4 AsylVfG), aber nicht begründet;
denn mit ihm ist ein Grund, der gemäß § 78 Abs. 3 AsylVfG die Zulassung der
Berufung rechtfertigen kann, nicht dargetan.
Es kann offen bleiben, ob die mit dem Zulassungsantrag geltend gemachte
Divergenz vorliegt; denn zumindest beruht das angegriffene Urteil nicht hierauf. In
Asylrechtsstreitigkeiten ist die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG
zuzulassen, wenn das verwaltungsgerichtliche Urteil von einer Entscheidung des
Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen
Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des
Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Die
Divergenzrüge kann im Hinblick auf die Funktion des Rechtsmittels der Berufung
und die Aufgaben der Berufungsinstanz gerade in Asylstreitigkeiten - ähnlich wie
die grundsätzliche Bedeutung bei der Grundsatzberufung im Sinne des § 78 Abs. 3
Nr. 1 AsylVfG (vgl. dazu: BVerwG, 31.07.1984 - 9 C 46.84 BVerwGE 70, 24 = EZAR
633 Nr. 9; Hess. VGH, 27.12.1982 - X TE 29/82 -, EZAR 633 Nr. 4 = NVwZ 1983,
237) - sowohl rechtliche als auch tatsächliche Fragenbereiche betreffen (BVerwG,
a.a.O.; Hess. VGH, 18.02.1985 - 10 TE 263/83 -). Dabei setzt eine die
Berufungszulassung rechtfertigende Divergenz im rechtlichen Bereich voraus, daß
das verwaltungsgerichtliche Urteil bei objektiver Betrachtung von einem
Rechtssatz abweicht, den z.B. das Bundesverwaltungsgericht aufgestellt hat.
Erforderlich ist hierfür nicht, daß die Abweichung bewußt oder gar vorsätzlich
erfolgt; es genügt vielmehr ein Abgehen von der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts in der Weise, daß das Verwaltungsgericht dem Urteil
erkennbar eine Rechtsauffassung zugrunde legt, die einem vom
Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Rechtssatz widerspricht (Hess. VGH,
10.07.1986 - 10 TE 641/86 -; Hess. VGH, 14.10.1987 - 12 TE 1770/84 -, EZAR 633
Nr. 13). Andererseits kann eine zur Berufungszulassung führende Abweichung
dann nicht festgestellt werden, wenn das Verwaltungsgericht gegen vom
Bundesverwaltungsgericht vertretene Grundsätze verstößt, indem es diese
stillschweigend übergeht oder sie übersieht (vgl. dazu BVerwG, 23.08.1976 - III B
2.76 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 147), den Sachverhalt nicht in dem
erforderlichen Umfang aufklärt oder den festgestellten Sachverhalt fehlerhaft
würdigt (vgl. dazu BVerwG, 17.01.1975 - VI CB 133.74 -, Buchholz 310 § 132 VwGO
Nr. 128) und damit Rechtsgrundsätze des Bundesverwaltungsgerichts
unzutreffend auslegt oder anwendet; denn nicht jeder Rechtsverstoß in der Form
einer unzutreffenden Auslegung oder Anwendung von Rechtsgrundsätzen
gefährdet die Einheit der Rechtsprechung, die durch die Vorschrift des § 78 Abs. 3
Nr. 2 AsylVfG (ähnlich wie durch die Vorschrift des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO über
die Divergenzrevision) gesichert werden soll (vgl. Hess. VGH, 14.10.1987 - 12 TE
1770/84 -, EZAR 633 Nr. 13, m.w.N.). Die Divergenzzulassung setzt voraus, daß
das erstinstanzliche Urteil auf der festgestellten Abweichung beruht. Sie kann aber
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das erstinstanzliche Urteil auf der festgestellten Abweichung beruht. Sie kann aber
nicht mit der Begründung versagt werden, das Urteil erweise sich aus anderen
Gründen als richtig (a.A. OVG Nordrhein-Westfalen, 05.11.1991 - 22 A 3120/91 A -,
EZAR 633 Nr. 18); für die Berufungszulassung fehlt nämlich eine dem § 144 Abs. 4
VwGO vergleichbare Vorschrift (Hess. VGH, 20.12.1993 - 12 UZ 1635/93 -; vgl.
dazu Kopp, VwGO, 9. Aufl., 1992, Rdnr. 19 zu § 132).
Zu Recht machen die Kläger mit dem Zulassungsantrag geltend, das angegriffene
Urteil weiche von dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (Kammer) vom
10. März 1994 - 2 BvR 1371/93 u.a. - (EZAR 210 Nr. 7 = InfAuslR 1994, 324 =
NVwZ aktuell 1994, 25) rechtsgrundsätzlich ab. Das Verwaltungsgericht hat zwar
diese verfassungsgerichtliche Entscheidung in seinem Urteil berücksichtigt, es hat
deren Inhalt aber teilweise unzutreffend wiedergegeben und seinem Urteil hiervon
abweichende Grundsätze zugrunde gelegt.
Die Kammer des Bundesverfassungsgerichts hat unter Rückgriff auf
Senatsentscheidungen ausgeführt, die in § 17 Abs. 1 AsylVfG 1982 und § 10 Abs. 1
AsylVfG normierte Verpflichtung des Asylbewerbers zur Angabe jeder
Anschriftenänderung und deren Sanktionierung durch eine Zustellungsfiktion (§ 17
Abs. 2 AsylVfG 1982, § 10 Abs. 2 AsylVfG) seien verfassungsrechtlich
unbedenklich, der gesetzlich verlangte Hinweis hierauf müsse freilich den
Besonderheiten des Adressatenkreises Rechnung tragen und berücksichtigen, daß
sich der Asylbewerber in einer ihm fremden Umgebung befinde, mit dem Ablauf
des deutschen Asylverfahrens nicht vertraut und in aller Regel der deutschen
Sprache nicht mächtig sei. Deshalb müsse dem Asylbewerber durch eine
erläuternde Belehrung mit der gebotenen Deutlichkeit vor Augen geführt werden,
welche Obliegenheiten ihn im einzelnen träfen und welche Folgen bei deren
Nichtbeachtung entstehen könnten. Der Hinweis könne sich deshalb nicht auf die
gesetzlichen Vorschriften beschränken, sondern müsse sich auf die hieraus
folgenden Konsequenzen sowohl im behördlichen Verfahren als auch für die
fristgerechte Erlangung gerichtlichen Rechtsschutzes erstrecken; eine bloße
Wiedergabe des Gesetzeswortlauts reiche vor dem Hintergrund des
Verständnishorizonts des Asylbewerbers nicht aus, der Inhalt der gesetzlichen
Vorschriften müsse vielmehr verständlich umschrieben werden. Hieraus leitet das
Bundesverfassungsgericht vier Anforderungen an eine ordnungsgemäße
Belehrung ab. Erstens muß der Hinweis in der ganz überwiegenden Anzahl der
Fälle übersetzt werden; nach dem Gesamtzusammenhang der
Entscheidungsgründe kommt eine Ausnahme von dieser Regel wohl nur in
Betracht, wenn der Asylbewerber der deutschen Sprache hinreichend mächtig ist.
Zweitens ist es ausreichend, aber auch erforderlich, daß dem Asylbewerber die
erforderlichen Hinweise in schriftlicher Form zugänglich gemacht werden, falls er
des Lesens kundig ist; andernfalls, insbesondere bei Analphabeten, müssen die
erforderlichen Hinweise mündlich erfolgen. Drittens dürfen sich die Hinweise nicht
in einer bloßen Wiedergabe des Gesetzeswortlauts erschöpfen, dieser muß
vielmehr verständlich umschrieben werden; im Falle einer Übersetzung kann
diesem Erfordernis in aller Regel durch eine auch für juristische Laien verständlich
Übertragung in die fremde Sprache Rechnung getragen werden. Viertens ist
zumindest bei sich erst kurze Zeit in Deutschland aufhaltenden Asylbewerbern
ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß eine Adressenänderung auch dann an alle in
§ 17 Abs. 1 AsylVfG 1982 und § 10 Abs. 1 AsylVfG genannte Stellen zu erfolgen
hat, wenn eine dieser Stellen die Änderung der Anschrift veranlaßt oder - was
sicher gleichzustellen ist - auf anderem Wege erfahren hat.
Das Verwaltungsgericht hat demgegenüber ausgeführt, es müsse nicht allen
Asylbewerbern eine schriftliche Belehrung in einer ihnen verständlichen Sprache
zuteil werden, es genüge vielmehr, wenn ihnen die Verpflichtung zur Mitteilung von
Adressenänderungen in einer ihnen verständlichen Sprache von einem
anwesenden Dolmetscher erklärt werde. Die Aushändigung einer übersetzten
schriftlichen Belehrung stelle nicht die einzig und allein in Betracht kommende
Möglichkeit der qualifizierten Belehrung dar. Damit ist das Verwaltungsgericht
erkennbar von den oben genannten ersten beiden Grundsätzen des
Bundesverfassungsgerichts abgewichen, ohne daß die dort für zulässig gehaltenen
Ausnahmekonstellationen bei den Klägern erkennbar vorlagen. Außerdem hat das
Verwaltungsgericht die vom Bundesverfassungsgericht erforderliche qualifizierte
Belehrung bei Adressenänderungen allem Anschein nach allgemein nicht für
erforderlich gehalten, obwohl sich die Kläger bei der Asylantragstellung erst kurze
Zeit in Deutschland aufhielten; es hat nämlich nicht ausdrücklich aufgrund der
Beweisaufnahme festgestellt, daß die Kläger entsprechend ausdrücklich auf ihre
Verpflichtung hingewiesen worden sind, daß sie auch dann die Änderung ihrer
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Verpflichtung hingewiesen worden sind, daß sie auch dann die Änderung ihrer
Anschrift dem Bundesamt mitzuteilen haben, wenn sie wie im vorliegenden Fall
innerhalb des Landes Hessen in eine andere Unterkunft verteilt und zugewiesen
werden und dies den beiden betroffenen Ausländerbehörden bekannt gegeben
wird.
Wie sich aus dem angegriffenen Urteil entnehmen läßt, beruht dieses aber nicht
auf den festgestellten Abweichungen von dem oben genannten Kammerbeschluß
des Bundesverfassungsgerichts. Unter diesen Umständen kann hier dahinstehen,
ob das angegriffene Urteil lediglich von einer Entscheidung einer Kammer des
Bundesverfassungsgerichts abweicht, was für eine Berufungszulassung nach § 78
Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG nicht ausreichte (Hess. VGH, 28.02.1994 - 12 UZ 2554/93 -,
EZAR 633 Nr. 23), oder ob es gleichzeitig auch von den dort zitierten
Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts abweicht. Das
verwaltungsgerichtliche Urteil beruht deshalb nicht auf den festgestellten
Divergenzen, weil das Verwaltungsgericht aufgrund der Beweisaufnahme
festgestellt hat, den Klägern sei sehr wohl ihre Verpflichtung zur Mitteilung von
Adressenänderungen an die Behörden bewußt gewesen, sie hätten nämlich eine
für sie zuständige Sozialarbeiterin gebeten, die Änderung ihrer Adresse den
zuständigen Behörden mitzuteilen. Damit ist das Urteil auf die Feststellung
gestützt, die Kläger seien über die Einzelheiten ihrer Mitteilungsverpflichtung
unterrichtet gewesen, und hiergegen sind Zulassungsgründe nicht geltend
gemacht. Damit steht fest, daß sich die Abweichungen von der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts nach der insoweit maßgeblichen Rechtsauffassung
des Verwaltungsgerichts nicht zu Lasten der Kläger ausgewirkt haben.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.