Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 22.03.2010

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VGH Baden-Württemberg Urteil vom 22.3.2010, 11 S 1626/08
Familienangehöriger i.S.v. § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU; drittstaatsangehöriger sorgeberechtigter Elternteil eines minderjährigen
Unionsbürgers; Umdeutung einer Ausweisung in eine Verlustfeststellung
Leitsätze
1. In entsprechender bzw. erweiternder Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ist Familienangehöriger auch ein drittstaatsangehöriger
sorgeberechtigter Elternteil eines minderjährigen Unionsbürger, der Freizügigkeit genießt. Dies gilt auch dann, wenn die wirtschaftliche Existenz des
Elternteils nicht gesichert ist.
2. Eine auf die §§ 53 ff. AufenthG gestützte Ausweisung kann nicht in eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU umgedeutet werden.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 31. Januar 2008 - 9 K 2257/06 - geändert.
Die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 3. August 2006 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.
2
Der am … März 1973 in Tunesien geborene Kläger ist tunesischer Staatangehöriger. Er reiste erstmals 1988 in die Bundesrepublik Deutschland
ein, wo er etwa fünf Monate bei einer Tante in ... lebte. Dort lernte er seine spätere Ehefrau kennen, eine deutsche Staatsangehörige, die er am
29. Juli 1991 in Tunesien heiratete. Am 1. Dezember 1991 kehrte er im Rahmen des Familiennachzugs in die Bundesrepublik Deutschland
zurück. Am 24. August 1992 wurde die gemeinsame Tochter ... geboren. Im Jahre 1993 trennte er sich von seiner Ehefrau. Mit Urteil vom 1. Juni
1995 wurde die Ehe geschieden und die elterliche Sorge für die gemeinsame Tochter zunächst der Mutter und im Februar 1996 auf ihn
übertragen.
3
Am 7. September 1995 wurde der aus einer nichtehelichen Beziehung stammende Sohn ... geboren, der in einer Pflegefamilie lebt.
4
Am 2. April 1998 erhielt er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
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Ende der 90er-Jahre begann er, gelegentlich Kokain zu konsumieren, weshalb er in der Folge nur noch unregelmäßig an seinem jeweiligen
Arbeitsplatz erschien. Im Jahre 2000 wurde er arbeitslos und lebte seitdem von Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe. Seine Leben war vor allem von
Diskotheken- und Partybesuchen geprägt. Bei diesen Gelegenheiten betrank er sich häufig und konsumierte gelegentlich Kokain. Mehrfach
musste er in alkoholisiertem Zustand in Polizeigewahrsam genommen werden. Das Jugendamt der Stadt ... wurde im Oktober 2002 auf die
familiäre Situation aufmerksam. Auf seine Veranlassung wurde ihm wegen Vernachlässigung der Kindesinteressen und erzieherischen
Versagens mit Beschluss des Familiengerichtes ... vom 12. März 2004 das Sorgerecht für die Tochter ... entzogen, die seit Mai 2003 bei der
Schwester seiner geschiedenen Ehefrau lebte.
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Von September 2003 bis 4. März 2004 hielt er sich in Tunesien auf. Nach seiner Rückkehr wurde er am gleichen Tag verhaftet und in
Untersuchungshaft genommen.
7
Mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts ... vom 16. November 2004 (4 KLs 800 Js 24295/02) wurde er wegen unerlaubten Handeltreibens mit
Betäubungsmitteln in 97 Fällen sowie unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Bereits vorher war er mehrfach im Bundesgebiet straffällig geworden.
8
Nach vorheriger Anhörung wies das Regierungspräsidium Karlsruhe den Kläger mit Verfügung vom 3. August 2006 unter Anordnung der
sofortigen Vollziehung aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm die Abschiebung nach Tunesien an. Zur Begründung führte das
Regierungspräsidium aus: Er erfülle den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 2 AufenthG. Da er besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs.
1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG genieße, könne er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden.
Solche seien hier als Regelfall im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gegeben. Atypische Umstände lägen nicht vor. Zwar werde die Ist-
Ausweisung gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zur Regel-Ausweisung herabgestuft. Es lägen jedoch keine Gründe für die Annahme eines
atypischen Ausnahmefalles vor. Insbesondere ergebe sich ein solcher nicht aus dem Umstand, dass der Kläger Vater eines Sohnes sei und auch
nicht aus dem Schutz der familiären Beziehung zu seiner deutschen Tochter, auch wenn er seine Bereitschaft zur Durchführung einer
Drogentherapie erklärt habe. Selbst wenn ein atypischer Sachverhalt vorläge, sei nach Abwägung seiner Interessen mit dem öffentlicher
Interesse an seiner Ausreise auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine Ausweisung aus Ermessensgründen
gerechtfertigt und geboten.
9
Die Verfügung wurde dem Kläger am 21. August 2006 zugestellt.
10 Am 8. September 2006 erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Karlsruhe und beantragte zugleich die Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes.
11 Der Beklagte trat der Klage aus den Gründen der angegriffenen Entscheidung entgegen.
12 Mit Beschluss vom 29. Januar 2007 (9 K 2258/06) lehnte das Verwaltungsgericht das vorläufige Rechtsschutzbegehren ab. Die hiergegen
erhobene Beschwerde wies der Senat mit Beschluss vom 15. März 2007 - 11 S 428/07 - zurück.
13 Am 16. März 2007 wurde der Kläger aus der Haft heraus abgeschoben, nachdem der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt worden war.
14 Im Laufe des Monats Dezember 2007 reiste der Kläger unerlaubt wieder in die Bundesrepublik Deutschland ein.
15 Aus einer nichtehelichen Beziehung zu der litauischen Staatsangehörigen ... ... ging der am 19. September 2008 in Frankreich geborene
gemeinsame Sohn ... hervor; beide Eltern üben gemeinsam das Sorgerecht aus. Frau ... lebte und lebt in ..., wo sie mittlerweile einer
Vollzeitbeschäftigung als Zimmermädchen nachgeht.
16 Durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts ... vom 7. Februar 2009 (5227 Js 2836/08.b Ds) wurde der Kläger wegen der illegalen Einreise zu
einer Freiheitsstrafe in Höhe von 6 Monaten ohne Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Der Kläger verbüßte in der Folgezeit diese Strafe
vollständig.
17 Unter dem 6. Juni 2008 widerrief das Landgericht ... die Aussetzung des Strafrestes aus dem Urteil vom 16. November 2004 zur Bewährung. Da
der Aufenthalt des Klägers in der Folgezeit seit 2. November 2008 nicht bekannt war, erging am 4. Dezember 2008 ein Vollstreckungshaftbefehl
der Staatsanwaltschaft .... Zuvor hatte er mit Frau ... und dem gemeinsamen Sohn zusammen in ... gelebt. Seit 7. Juli 2009 verbüßt der Kläger in
der Justizvollzugsanstalt ... den Strafrest.
18 Mit Urteil vom 31. Januar 2008 wies das Verwaltungsgericht Karlsruhe die Klage ab und führte zur Begründung aus: Die Klage sei schon wegen
nachträglichen Entfallens des Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Ein Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzbedürfnisses
komme im Einzelfall auch dann in Betracht, wenn das Verhalten eines Rechtsschutzsuchenden Anlass zu der Annahme biete, dass ihm an einer
Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen sei. Berechtigte Zweifel am Fortbestehen des Interesses an einer Sachentscheidung durch
das Gericht könne ein Kläger auch durch den Abbruch des Kontakts zu einem das Gerichtsverfahren betreibenden Bevollmächtigten begründen.
So lägen die Dinge hier. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers habe sowohl in einem Telefongespräch gegenüber dem Berichterstatter als
auch schriftlich mitgeteilt, dass sie keinen Kontakt zum Kläger mehr habe.
19 Das Urteil wurde dem Kläger am 27. März 2008 zugestellt.
20 Am 14. April 2008 beantragte der Kläger die Zulassung der Berufung und trug zur Begründung eine ladungsfähige Anschrift vor, weshalb wieder
das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis bestehe.
21 Durch Beschluss vom 20. Juni 2008 - dem Kläger am 26. Juni 2008 zugestellt - ließ der Senat die Berufung zu, die der Kläger am 17. Juli 2008
unter Stellung eines Antrags begründete.
22 Er führt aus: Mit Rücksicht auf das gemeinsame Sorgerecht für den Sohn ..., der auch wegen dem durch seine Mutter gesicherten
Lebensunterhalt freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger sei, sei er selbst nach den Grundsätzen des EuGH-Urteils in der Sache Chen
freizügigkeitsberechtigt. Er habe früher über viele Jahre selbst gearbeitet. Seit seiner Inhaftierung im März 2004 habe er keine Drogen mehr zu
sich genommen. Anfang des Jahres 2009 seien mehrere kontrollierte Drogentests mit negativem Ergebnis gemacht worden. Er sei bis zum
Haftantritt in regelmäßiger ambulanter ärztlicher und therapeutischer Betreuung gewesen, insbesondere habe er regelmäßig den Drogenverein
... aufgesucht, woraus sich auch ableiten lasse, dass er sich - entgegen den Vermutungen des Beklagten - ständig weiter in ... aufgehalten habe.
Beim ihm liege allerdings eine Polytoxikomanie vor und es sei eine schizoaffektive Psychose diagnostiziert worden. Er wolle seine Verlobte
heiraten, was aber erhebliche Schwierigkeiten mache und auch sehr viel Zeit koste, da die Ehescheidung noch in einem aufwändigen Verfahren
in Tunesien anerkannt werden müsse. Die Zweifel des Beklagten an der Beziehung des Klägers zu seiner Verlobten und seinem Kind und der
Intensität der Beziehung seien nicht berechtigt. Das Kind sei in ... geboren worden, weil sie an sich die Absicht gehabt hätten, nach Frankreich zu
gehen, was sich dann aber zerschlagen habe, weshalb sie wieder nach ... zurückgekehrt seien.
23 Der Kläger beantragt,
24
das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 31. Januar 2008 - 9 K 2257/06 - zu ändern und die Verfügung des
Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 3. August 2006 aufzuheben.
25 Die Beklagte tritt der Berufung entgegen und führt aus: Entgegen der Auffassung des Klägers sei er nicht freizügigkeitsberechtigt, weil sein Sohn
ihm keinen Unterhalt leiste und auch er ihm keinen leisten könne. Die vom EuGH in der Rechtssache Chen entwickelten Grundsätze beträfen
daher einen anderen Fall. Nachdem nunmehr Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK zugunsten des Klägers zu berücksichtigen seien, könne die
Ausweisung nur noch als Ermessensentscheidung ergehen. Dabei sei aber zu berücksichtigen, dass mit Rücksicht auf die beim Kläger gestellte
Diagnose und seinen früheren Drogenkonsum von diesem nach wie vor eine erhebliche Gefährdung ausgehe, weshalb an der Ausweisung
festgehalten werde. Gewisse Zweifel an der Beziehung zu Frau ... und dem Kind ... bestünden deshalb, weil das Kind nach der Geburtsurkunde
in Frankreich geboren sei und hiernach Frau ... auch dort gewohnt haben soll.
26 Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen. Dem Senat liegen die Ausländerakten der Stadt ..., die Akten des
Regierungspräsidiums Karlsruhe sowie die Strafakten des Landgerichts ... einschließlich der hierzu gehörenden Vollstreckungsakten der
Staatsanwaltschaft ... vor; weiter die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes angefallenen Akten des Verwaltungsgerichts Karlsruhe und
des Senats.
Entscheidungsgründe
27 Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO).
28 Die vom Senat zugelassene Berufung, die rechtzeitig und formgerecht unter Stellung eines Antrags begründet wurde, hat Erfolg.
29 Zu dem maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (vgl. BVerwG, Urteil v. 15. November 2007 – 1 C 45.06 – BVerwGE 130, 20 <22
ff.>) ist die angegriffene Ausweisung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
30 Nachdem mittlerweile eine ladungsfähige Anschrift des Klägers wieder bekannt geworden ist, sind die vom Verwaltungsgericht formulierten
Einwände gegen das Bestehen des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses behoben.
31 Die vom Beklagten ausgesprochene Ausweisungsverfügung wurde von ihm auf die §§ 53 ff. AufenthG gestützt. Diese Rechtsgrundlagen sind
indes nicht mehr geeignet, die Verfügung zu tragen, weil der Kläger mittlerweile Familienangehöriger eines freizügigkeitsberechtigten
Unionsbürger geworden ist (1.) und die streitgegenständliche Verfügung auch nicht nach § 47 LVwVfG in eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1
FreizügG/EU umgedeutet werden kann (2.).
1.
32 Der Kläger ist in entsprechender bzw. erweiternder unionsrechtskonformer Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU Familienangehöriger
seines am 19. September 2008 in Frankreich geborenen und nach der Geburt im Bundesgebiet lebenden Sohnes litauischer
Staatsangehörigkeit. Die Mutter des Sohnes, die ebenfalls die litauische Staatsangehörigkeit besitzt, lebte vor der Geburt und lebt auch weiterhin
mit ihrem Sohn im Bundesgebiet in häuslicher Gemeinschaft. Sie ist im Besitz einer Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU der Stadt ... und im
Übrigen seit 19. August 2009 (auf ein Jahr befristet) bei der Firma ... ... in Vollzeitarbeit beschäftigt und mit dem Sohn gesetzlich
krankenversichert.
33 Ausgehend hiervon hat der Sohn des Klägers die Stellung eines Freizügigkeit genießenden Unionsbürgers (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 5 und § 4
FreizügG/EU).
34 Der Kläger, der zusammen mit seiner Lebensgefährtin sorgeberechtigt ist, ist auch Familienangehöriger im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2
FreizügG/EU. Der Senat kann offen lassen, ob insoweit auch vorausgesetzt wird, dass weiterhin eine familiäre Lebensgemeinschaft besteht und
diese nicht endgültig aufgehoben sein darf (vgl. im Einzelnen Epe, in: GK-AufenthG § 3 FreizügG/EU Rdn. 35). Denn jedenfalls bestand - ohne
dass insoweit hieran durchgreifende Zweifel bestünden - eine solche zunächst bei der Geburt und im Anschluss daran. Auch wenn der Kläger
sich in der Folgezeit nach Erlass des Vollstreckungshaftbefehls vom 4. Dezember 2008 vorübergehend nicht in der gemeinsamen Wohnung
aufgehalten haben sollte, ist diese vorübergehende Trennung ebenso unschädlich wie die spätere am 7. Juli 2009 erfolgte Inhaftierung zur
Verbüßung der Reststrafe, jedenfalls wenn nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand und den Plänen der Beteiligten eine Fortsetzung der
familiären Lebensgemeinschaft nach der Haftentlassung zu erwarten ist.
35 Zwar sind nach dem Wortlaut der Vorschrift des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU nur solche Verwandten in aufsteigender Linie auch
freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige, denen der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger Unterhalt gewährt, was der Sohn des Klägers
offensichtlich nicht tut. Nach Auffassung des Senats ist die Bestimmung namentlich mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK sowie Art. 7 der
Charta der Grundrechte der Europäischen Union jedoch erweiternd dahingehend zu verstehen, dass die Einschränkung der
Unterhaltsgewährung nicht für minderjährige freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger gilt, wenn der Verwandte in aufsteigender Linie
sorgeberechtigt ist, es sich also insbesondere um einen sorgeberechtigten Elternteil handelt.
36 Unübersehbar hat der Gesetzgeber bei der Formulierung der später verabschiedeten Fassung des § 3 Abs. 2 AufenthG in erster Linie die Fälle
im Auge gehabt, in denen der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger volljährig und erwerbstätig ist und hat deshalb den Nachzug seiner
Verwandten in aufsteigender Linie restriktiv gefasst, um eine Belastung der öffentlichen Kassen zu vermeiden bzw. zu begrenzen. Andererseits
hat er aber durchaus in der gleichen Bestimmung die besondere Situation des nicht aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigten Elternteils, der
das Sorgerecht hinsichtlich eines minderjährigen Kindes ausübt, gesehen und gewürdigt. In § 3 Abs. 4 FreizügG/EU (vgl. auch Art. 12 Abs. 3
Richtlinie 2004/38/EG v. 29. April 2004) wird für den Fall des Todes oder Wegzugs des freizügigkeitsberechtigten anderen Elternteils den
Kindern und dem personensorgeberechtigten Elternteil bis zum Abschluss der Ausbildung der Kinder ein Aufenthaltsrecht eingeräumt, und zwar
völlig losgelöst von irgendwelchen Unterhaltszahlungen. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht nachzuvollziehen und nicht zu rechtfertigen, dass
gewissermaßen bis zum Zeitpunkt des Todes oder des Wegzugs bei bis dahin erfolgender gemeinsamer Ausübung der Personensorge der
drittstaatsangehörige sorgeberechtigte Elternteil zur Wahrung der Familieneinheit nicht an der Freizügigkeit teilnähme und lediglich den
allgemeinen Status eines Drittstaatsangehörigen hätte.
37 Zwar entspricht die Definition des Familienangehörigen nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU einschließlich des Unterhaltserfordernisses den
gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben des Art. 2 Nr. 2 lit. d) der Richtlinie 2004/38/EG v. 29. April 2004. Auch in diesem Zusammenhang bestimmt,
wie bereits oben angesprochen, Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie, dass weder infolge des Wegzugs des Unionsbürgers aus dem
Aufnahmemitgliedstaat oder dessen Todes für den anderen Elternteil, der die elterliche Sorge ausübt, oder das Kind das Recht auf Aufenthalt
verloren geht, solange das Kind in einer Bildungseinrichtung eingeschrieben ist. Weiter muss in diesem Zusammenhang zum sachgerechten
Verständnis Art. 3 Abs. 2 a dieser Richtlinie einbezogen werden. Hiernach soll der Aufenthalt auch solcher Personen begünstigt werden, die
gerade nicht der engeren Begrifflichkeit des Art. 2 Nr. 2 lit. d) der Richtlinie 2004/38/EG entsprechen, die jedoch früher im Heimatstaat mit dem
freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen zusammen in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben. Auch hier wäre es nur schwer
verständlich, wenn der sorgeberechtigte Elternteil im Falle der Geburt in einem Mitgliedstaat, der von diesem Zeitpunkt zusammen in familiärer
Gemeinschaft lebte, anders und wesentlich ungünstiger behandelt würde mit der Folge, dass jedenfalls im Unionsrecht auf sekundärrechtlicher
Ebene eine Gewährleistung der Familieneinheit nicht effektiv gesichert wäre. Denn die Richtlinie 2003/86/EG v. 22. September 2003 betrifft nur
den Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen zu Drittstaatszugehörigen und würde auch bei einer entsprechenden Anwendung von deren
Art. 4 Abs. 2 lit. b) nicht weiter helfen, ganz abgesehen davon, dass insoweit gemeinschaftsrechtlich nur eine Öffnungsklausel für die jeweilige
nationale Gesetzgebung der Mitgliedstaaten besteht. Denn auch hier besteht die Verknüpfung mit der Leistung von Unterhalt. Sekundärrechtlich
bestünden damit keine wirksamen Vorkehrungen gegen eine Trennung der gemeinsam sorgeberechtigten Elternteile voneinander bzw. eines
Elternteils von den minderjährigen Kindern. Es ist nicht ersichtlich, dass nach der Konzeption des FreizügG/EU wie auch der des Unionsrechts
solches beabsichtigt gewesen sein könnte.
38 Der Europäische Gerichtshof hat zum inhaltlich im Wesentlichen gleich lautenden Art. 1 Abs. 2 lit. b) der – aufgehobenen - Richtlinie 90/364/EWG
v. 28. Juni 1990 in Fällen, in denen nur ein Elternteil für ein freizügigkeitsberechtigtes Kleinkind tatsächlich gesorgt hat, sich vom strikten Wortlaut
der Norm gelöst und dem betreffenden Elternteil ein Freizügigkeitsrecht als Familienangehöriger zuerkannt, obwohl er von dem Kind keinen
Unterhalt erhielt, und dies damit begründet, dass andernfalls dem freizügigkeitsbedingten Aufenthaltsrecht des Kindes nach Art. 21 AEUV „jede
praktische Wirksamkeit genommen würde“ (vgl. EuGH; Urt. v. 19. Oktober 2004 – C-200/99, Zhu und Chen - InfAuslR 2004, 413 Rn. 45 f. auch
unter Hinweis auf das Urteil v. 17. September 2002 – C-413/99, Baumbast - InfAuslR 2002, 463 Rn. 71 ff.). Allerdings unterschied sich die
Rechtssache Zhu und Chen von der hier zu beurteilenden Fallgestaltung dadurch, dass bei Frau Zhu eine wirtschaftliche Existenzsicherung
gegeben war (in diesem Sinne auch Ziff. 3.2.2.2 AVwV-FreizügG/EU), während hier die wirtschaftliche Lage des Klägers - im Gegensatz zu der
seines Sohnes - jedenfalls gegenwärtig und solange er noch seine Reststrafe verbüßt und keine Perspektive einer eigenen Erwerbstätigkeit von
einigem Gewicht besteht, ungesichert erscheint (vgl. auch § 3 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 4 FreizügG/EU). Wie aber bereits ausgeführt, wäre es im
Hinblick auf den durch Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gerade auch unionsrechtlich zu
gewährleistenden effektiven Schutz der familiären Gemeinschaft mit einem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger nicht gerechtfertigt, eine
hiervon abweichende Behandlung der vorliegenden Fallkonstellation zu befürworten (vgl. zur Bedeutung des Art. 8 EMRK in diesem
Zusammenhang EuGH, Urteil v. v. 17. September 2002 – C-413/99, a.a.O. Rdn. 72). Der sorgeberechtigte Vater ist mithin auch ohne
Unterhaltsgewährung durch das Kind gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU „Familienangehöriger“ seines leiblichen Kindes.
2.
39 Eine Umdeutung der Ausweisungsverfügung in eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU scheidet aus. Nach § 47 LVwVfG kann ein
fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden
Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen
Erlass erfüllt sind. Das gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt, in den der fehlerhafte Verwaltungsakt umzudeuten wäre, der erkennbaren Absicht der
erlassenden Behörde widerspräche oder seine Rechtsfolgen für den Betroffenen ungünstiger wären als die des fehlerhaften Verwaltungsaktes.
40 Ein Verwaltungsakt ist u.a. dann nicht auf das gleiche Ziel gerichtet, wenn der Verwaltungsakt, in den umgedeutet würde, gegenüber dem
ursprünglichen Verwaltungsakt wesensverschieden wäre (vgl. Sachs, in: Stelkens/ Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., 2008, § 47 Rdn. 34 ff.;
Schwemmer, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, § 47 Rdn. 21 ff.). Davon ist hier auszugehen. Denn die Verlustfeststellung beträfe eine
völlig andere – wesentlich privilegiertere – Rechtsstellung, die darüber hinaus einem grundlegend anders strukturierten rechtlichen Regime
unterliegt.
41 Ob eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU getroffen werden kann und auch soll, hat der Beklagte daher zunächst in eigener
Zuständigkeit und Verantwortung zu klären und zu entscheiden.
42 Der Senat kann deshalb offen lassen, ob - als unabdingbare Voraussetzung einer Umdeutung - das Regierungspräsidium Karlsruhe hier
abweichend von der allgemeinen Zuständigkeit der unteren Ausländerbehörde gleichfalls zuständig wäre. Zwar wird ihm in § 6 Abs. 3 der
Aufenthalts- und Asyl-Zuständigkeitsverordnung (AAZuVO) v. 2. Dezember 2008 eine solche Zuständigkeit ausdrücklich eingeräumt. In der
Eingangsformel der Verordnung wird allerdings insoweit keine einschlägige Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der Rechtsverordnung
genannt (vgl. Art. 61 Abs. 1 LV BW). Eine solche ist auch nicht ersichtlich. Insbesondere ist § 71 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nach § 11 Abs. 1
FreizügG/EU gerade nicht anzuwenden und auch § 12 Abs. 1 Satz 2 LVG a.F. betrifft bei einer an sich bestehenden Zuständigkeit der
Regierungspräsidien nur den Fall der Konzentration auf ein einziges Regierungspräsidium. § 12 Abs. 1 Satz 1 LVG a.F. wird in der
Eingangsformel nicht in Bezug genommen und enthielte im Übrigen keine eigenständige und originäre Ermächtigungsgrundlage für den Erlass
einer Rechtsverordnung. § 6 Abs. 3 AAZuVO könnte mithin nichtig sein.
43 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
44 Die Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (vgl. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
45
Beschluss vom 22. März 2010
46 Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird gem. den §§ 47 Abs. 1 und 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,- EUR festgesetzt.
47 Dieser Beschluss ist unanfechtbar.