Urteil des OLG Stuttgart vom 07.08.2008

OLG Stuttgart (schutz der persönlichkeit, antragsteller, land baden, mutter, jugendamt, kind, aug, baden, beratung, partei)

OLG Stuttgart Beschluß vom 7.8.2008, 16 WF 194/08
Prozesskostenhilfe für ein Umgangsverfahren: Verweigerung wegen Mutwilligkeit, da das Jugendamt im
Vorfeld nicht eingeschaltet wurde
Leitsätze
1. Der Antrag des Kindes auf Umgang mit einem unwilligen Elternteil ist auch nach der Entscheidung des BVerfG
vom 01.04.2008, Aktenzeichen: 1 BvR 1620/04, nicht mutwillig.
2. Prozesskostenhilfe für ein Umgangsverfahren kann wegen Mutwilligkeit verweigert werden, wenn der
Antragsteller sich nicht zuvor um Vermittlung durch das Jugendamt bemüht hat.
BVerfG, Beschluss vom 01.04.2008, Az: 1 BvR 1620/04, FamRZ 2008, 845-853, BGH FamRZ 2008, 1334 f.;
Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 04.10.2007, Az: 15 WF 261/07, OLGR Schleswig
2008, 107-108;
Brandenburgisches Oberlandesgericht, FamRZ 2003, 1760;
OLG Düsseldorf, FamRZ 1998, 758;
OLG Hamm, FamRZ 2007, 1337;
OLG Karlsruhe, FamRZ 2004, 1115-1116
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Amtsgerichts, Familiengericht, Biberach vom
13.02.2008
abgeändert.
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für den ersten Rechtszug ohne Anordnung einer Ratenzahlung
bewilligt.
Ihm wird Rechtsanwältin ..., ..., beigeordnet.
Eine Gerichtsgebühr für das Beschwerdeverfahren wird nicht erhoben; außergerichtliche Auslagen werden nicht
erstattet.
Gründe
I.
1
Der 15-jährige Antragsteller ist der Sohn der Antragsgegnerin und lebt bei seinem Vater, dem geschiedenen
Ehemann der Mutter, die wieder verheiratet ist. Der Antragsteller ist als Folge spastischer Lähmungen schwer
behindert (Behinderungsgrad 90 %). Er möchte regelmäßigen Wochenend- und Ferienumgang mit seiner
Mutter, die im 200 km entfernten ... lebt und vollschichtig erwerbstätig ist.
2
Ohne Einschaltung des Jugendamtes beantragte das Kind folgenden Umgang:
3
14-tägig ab Freitag 18 h bis Sonntag 18 h,
jeweils am 2. Feiertag von Weihnachten, Ostern, Pfingsten von 9 h bis 18 h
das erste Ferienwoche in den Weihnachts-, Oster- und Pfingstferien
2 Wochen in den Sommerferien
Ausfallsregelung für den Krankheitsfall.
4
Die Mutter sieht keine Notwendigkeit für eine gerichtliche Umgangsregelung. Sie besuche das Kind regelmäßig,
könne allerdings wegen der weiten Entfernung, der damit verbundenen Kosten und ihrer vollschichtigen
Erwerbstätigkeit keinen Wochenendumgang wahrnehmen. Außerdem müsse sie sich um ihre krebskranke
Mutter kümmern.
5
Durch Beschluss vom 13.2.2008 lehnte das Familiengericht den Antrag des Kindes auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe wegen Mutwilligkeit ab. Es liege kein Regelungsinteresse vor, da der Umgang regelmäßig
stattfinde. Zudem sei der Antragsteller verpflichtet gewesen, vor Einleitung des Umgangsverfahrens die
Vermittlung durch das Jugendamt in Anspruch zu nehmen.
6
Der Antragsteller legte hiergegen sofortige Beschwerde ein und zahlte 50 EUR als Vorschuss. Schon 2006
habe das Jugendamt vermittelt. Die damals erzielte Regelung sei von der Mutter nie eingehalten worden.
7
In der mündlichen Verhandlung vom 20. März 2008 einigten sich die Eltern auf die Regelung eines
Ferienumgangs für 2008.
II.
8
Die gemäß § 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde des
Antragstellers gegen den ihm die beantragte Prozesskostenhilfe versagenden Beschluss des Amtsgerichts
Biberach vom 13.02.08 hat Erfolg.
9
Der Umgang war bisher nicht verbindlich geregelt und hat in der Vergangenheit teilweise unregelmäßig
stattgefunden. Das Anliegen des Antragstellers ist daher gerechtfertigt.
10 Ein Regelungsbedürfnis entfällt auch nicht als Folge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, nach
der ein Umgang mit dem Kind, der nur mit Zwangsmitteln gegen seinen umgangsunwilligen Elternteil
durchgesetzt werden kann, in der Regel nicht dem Kindeswohl dient und daher der durch die
Zwangsmittelandrohung bewirkte Eingriff in das Grundrecht des Elternteils auf Schutz der Persönlichkeit nicht
gerechtfertigt ist, sofern nicht hinreichende Anhaltspunkte vorhanden sind, die darauf schließen lassen, dass
ein erzwungener Umgang dem Kindeswohl dienen wird (vgl. BVerfG FamRZ 2008, 845-853). Die Einleitung
eines Umgangsverfahrens durch das Kind wegen der Umgangspflicht der Mutter greift als solche noch nicht in
deren Grundrecht auf Schutz der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein. Erst eine
zwangsweise Durchsetzung der Umgangspflicht oder deren Androhung ist - so der Bundesgerichtshof -
geeignet, in unzulässiger Weise in die verfassungsrechtlich geschützte allgemeine Handlungsfreiheit der
Antragsgegnerin einzugreifen (vgl. BGH FamRZ 2008, 1334 f.)
11 Die weitere Frage, ob die Verweigerung der Prozesskostenhilfe auf eine unterbliebene Beratung durch das
Jugendamt gestützt werden kann, ist umstritten. Nach einer Auffassung kann ein Prozesskostenhilfegesuch
für ein gerichtliches Umgangsrechtsverfahren mutwillig sein, wenn der Antragsteller nicht zuvor versucht hat,
das erstrebte Umgangsrecht ohne Inanspruchnahme des Gerichtes mit Hilfe des Jugendamtes zu regeln. Es
sei nicht hinzunehmen, dass Einigungsversuche über die Prozesskostenhilfe als besondere Form der
Sozialhilfe auf Kosten der Allgemeinheit auf das Familiengericht verlagert werden (vgl. Schleswig-
Holsteinisches Oberlandesgericht Beschluss vom 4.10.07. Az. 15 WF 261/07, OLGR Schleswig 2008, 107-
108; Brandenburgisches Oberlandesgericht FamRZ 2003, 1760; OLG Düsseldorf, FamRZ 1998, 758).
12 Nach einer anderen Ansicht ist es nicht mutwillig im Sinne des § 114 ZPO, wenn ein Elternteil zur Regelung
des Umgangs gem. § 1684 BGB das Familiengericht anruft, ohne vorher Beratung und Hilfe des Jugendamtes
in Anspruch genommen zu haben. Es gebe keinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass eine bemittelte Partei
regelmäßig die außergerichtliche Streitschlichtung suchen werde (vgl. OLG Hamm FamRZ 2007, 1337; OLG
Karlsruhe, FamRZ 2004, 1115-1116).
13 Der Senat vertritt die erstgenannte Ansicht. Es ist auf das Verhalten einer vernünftigen Partei abzustellen, die
ihren Prozess selbst finanzieren muss.
14 Ein solche Partei wird normalerweise zuerst die ihr eröffneten Möglichkeiten einer kostenlosen Streitbeilegung
nutzen, bevor sie das Gericht anruft mit der Gefahr, die Kosten aus einem Streitwert von 3.000 EUR selbst
tragen zu müssen.
15 Dass die Nutzung außergerichtlicher Vermittlungsmöglichkeiten auch dem Willen des Gesetzgebers entspricht,
zeigt die Einführung des obligatorischen Schlichtungsverfahrens durch § 15a EGZPO iVm. den
Schlichtungsgesetzen der Länder. Zudem kann von den Parteien, die mit Mitteln der Sozialhilfe prozessieren
wollen, eine Mitwirkung dahingehend erwartet werden, die entstehenden Kosten niedrig zu halten, sofern diese
Mitwirkung nur mit Unbequemlichkeiten verbunden ist. Das Land Baden-Württemberg hat 2003 einen
Nettoaufwand von fast 57 Mio. EUR für die Prozesskostenhilfe tragen müssen, von denen allein 70 % auf
Familiensachen vor den Amtsgerichten entfielen.
16 Der vorliegende Fall bietet nach dem inzwischen präzisierten Vortrag des Antragstellers die Besonderheit, dass
sich die Eltern 2006 mit Unterstützung des Jugendamts auf eine Umgangsregelung geeinigt haben, die in der
Folgezeit von der Mutter nicht eingehalten wurde. Vor diesem Hintergrund darf der Antragsteller ohne erneute
Beratung durch das Jugendamt direkt eine gerichtliche Regelung beantragen, weshalb ihm - die Bedürftigkeit
liegt vor - Prozesskostenhilfe zu bewilligen ist.