Urteil des OLG Köln vom 26.02.1999
OLG Köln (einstellung des verfahrens, stgb, drohende gefahr, rauschgift, stpo, geldstrafe, sache, krankheit, einlassung, umfang)
Oberlandesgericht Köln, Ss 51/99 - 23 -
Datum:
26.02.1999
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
Ss 51/99 - 23 -
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben. Die
Sache wird
zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der
Revision an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Aachen
zurückverwiesen.
G r ü n d e :
1
Das Amtsgericht Aachen hat den Angeklagten der unerlaubten Einfuhr von
Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge für schuldig erklärt und ihn unter Auflösung
der Gesamtstrafe aus dem Beschluß des Amtsgerichts Karlsruhe vom 29.12.1997 - 6 Cs
17 Js 26550/97 - und Einbeziehung der Verurteilungen des Amtsgerichts Pforzheim vom
17.8.1996 - 4 Cs 487/96 - sowie des Amtsgerichts Karlsruhe vom 20.8.1997 - 6 Cs 17 Js
24809/97 und vom 25.8.1997 - 6 Cs 17 Js 26550/97 - zu einer Gesamtfrei-heitsstrafe
von sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden
ist.
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Nach den Feststellungen des Amtsgerichts wurde bei dem seit 1980 heroinabhängigen,
ab 1986 mit Codein und später mit Polamidon substituierten Angeklagten im Jahre 1984
eine HIV-Infektion erkannt. In den Entscheidungsgründen heißt es sodann:
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"Seit 1990 liegt das Vollbild der Krankheit im Stadium IV D vor. Ab dieser Zeit litt
der Angeklagte im Zusammenhang mit der Aids-Erkrankung unter schweren
Begleiterkrankungen und befand sich zweimal in einem Sterbehospiz. Zur Zeit
leidet der Angeklagte aufgrund der HIV-Infektion an einer Infektion des rechten
Auges, durch die 90 % der Netzhaut dieses Auges zerstört ist. Deswegen befindet
er sich in chemotherapeutischer Behandlung."
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Weiter ist ausgeführt, daß der Angeklagte vielfach strafrecht-lich in Erscheinung getreten
ist und zwischen 1977 und 1993 sechs Eintragungen wegen Fahrens ohne
Fahrerlaubnis, fortge-setzten unerlaubten Erwerbs und Besitzes von Betäubungs-
mitteln, Erschleichen von Leistungen, versuchten Diebstahls und Körperverletzung in
Tateinheit mit Nötigung erfolgten. Sodann heißt es:
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" Am 17.8.1996 erkannte das Amtsgericht Pforzheim - 4 Cs 487/96 - in einer seit
dem 18.4.1997 rechtskräftigen Entscheidung wegen Verstoßes gegen das
Betäubungsmittel-gesetz gegen den Angeklagten auf eine Geldstrafe von 80
Tagessätzen à 20,-DM; diese Geldstrafe wurde im Wege der Ersatzfreiheitsstrafe
zu 2/3 vollstreckt. Am 24.4. 1998 wurde die Reststrafe im Gnadenwege zur
Bewährung ausge-setzt bis zum 31.3.2000.
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Am 23.9.1996 erkannte das Amtsgericht Karlsruhe - 6 Cs 349/96 - gegen den
Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in einer seit dem
1.8.1997 rechts-kräftigen Entscheidung auf eine Geldstrafe von 15 Tages-sätzen à
30,-DM.
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Am 20.8.1997 erkannte wiederum das Amtsgericht Karlsruhe - 6 Cs 17 Js 24809/97
- in einer seit dem 31.10.1997 rechts-kräftigen Entscheidung gegen den
Angeklagten wegen Dieb-stahls auf eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen à 30,-DM.
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Am 25.8.1997 erkannte das Amtsgericht Karlsruhe - 6 Cs 17 Js 26550/97 - wegen
Diebstahls in einer seit dem 31.10. 1997 rechtskräftigen Entscheidung auf eine
Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 20,-DM.
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Am 29.12.1997 bildete das Amtsgericht Karlsruhe - 6 Cs 17 Js 26550/97 - aus den
letzgenannten 2 Entscheidungen vom 25.8. und 2.8.1997 eine Gesamtgeldstrafe
von 40 Tages-sätzen à 20,-DM. Der Beschluß ist rechtskräftig seit dem 19.2.1998."
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Das Amtsgericht hat zum Schuldspruch in der vorliegenden Sache folgendes
festgestellt:
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"Am 17.5.1994 überquerte der Angeklagte mit dem Nahver-kehrszug 3747 von
Heerlen/Niederlande kommend im Bereich Herzogenrath die
Niederländisch/bundesdeutsche Grenze und führte wissentlich 142 g Marihuana
und 19 g Haschisch mit einem Gesamtwirkstoff-gehalt von mindestens 7,7 g Tetra-
hydrocannabinol (THC) mit sich; das Rauschgift diente zum Eigenkonsum des
Angeklagten, der die Begleiterscheinungen seiner Aidsinfektion mit
Cannabisprodukten bekämpft; das THC zeigt für den Angeklagten ein positive
Wirkung; er erhält nunmehr erstmals ein in den USA hergestelltes künstliches
THC-Produkt vom behandelnden Arzt verschrie-ben. Über eine
betäubungsmittelrechtliche Erlaubnis verfügt der Angeklagte nicht."
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Zur Beweiswürdigung heißt es :
13
"Der Angeklagte ist in vollem Umfang geständig; er hält sich wegen seiner
Krankheit für berechtigt, Cannabis-produkte zu konsumieren und einzuführen."
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Bei der Strafzumessung für die als Verbrechen gemäß § 30 Abs.1 Nr.4 BtMG gewertete
Tat ist das Amtsgericht von dem Strafrahmen des § 30 Abs. 2 BtMG ausgegangen, weil
der Grenzwert zur sog. geringen Menge nur unerheblich überschritten worden sei, das
Rauschgift habe sichergestellt werden können, der Angeklagte in vollem Umfang
geständig sei und insbesondere zu berücksichtigen gewesen sei, daß - so das Urteil
wörtlich - "der Angeklagte aufgrund seiner speziellen gesundheitlichen Situation das
Rauschgift in erster Linie als "Heilmittel" einführte".
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Gegen dieses Urteil richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte (Sprung-)Revision
des Angeklagten, mit der die Verletzung materiellen Rechts gerügt und geltend gemacht
wird, die Tat sei wegen Notstandes nach § 34 StGB gerechtfertigt gewesen.
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Das gemäß § 335 Abs. 1 StPO zulässige Rechtsmittel hat in der Sache (vorläufigen)
Erfolg.
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Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben, weil die getroffenen
Feststellungen in entscheidungserheblichen Punkten unvollständig sind und das Urteil,
für dessen Nachprüfung auf sachlich-rechtliche Mängel dem Revisionsgericht allein die
Urteilsurkunde zur Verfügung steht (vgl. BGHSt 35, 238,241; NJW 1998, 3654, 3655;
SenE v.5.1.1999 -Ss 564/98 (B) - , nicht auf Rechtsfehlerfreiheit überprüfbar ist.
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Zwar handelt es sich entgegen der Bemerkung , daß die Gründe "abgekürzt gemäß §
267 Abs. 4 StPO" seien, nicht um ein nach dieser Vorschrift abgekürztes Urteil. Die
getroffenen Fest-stellungen sind aber insofern unvollständig, als sie den Schuldgehalt
der hier zu beurteilenden Tat vom 17.5.1994 nicht hinreichend deutlich erkennen lassen
(vgl. SenE vom 29.4.86 - Ss /86, 3.7.87 - Ss 580/86).
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Den Gründen des angefochtenen Urteils ist bereits der Verwendungszweck der
eingeführten Betäubungsmittel nicht eindeutig zu entnehmen. Zunächst heißt es in den
Feststellungen zum Tatge-schehen, das Rauschgift habe zum Eigenkonsum des
Angeklagten gedient, der die Begleiterscheinungen seiner Aidsinfektion mit
Cannabisprodukten bekämpfe. Nach den Strafzumessungserwägungen ist das
Amtsgericht aber davon ausgegangen, daß der Angeklagte aufgrund seiner speziellen
gesundheitlichen Situation das Rauschgift in erster Linie als "Heilmittel" einführte.
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Damit ist unklar, ob und in welchem Umfang das eingeführte Rauschgift vom
Angeklagten konsumiert werden sollte, ohne daß aufgrund seiner gesundheitlichen
Probleme hierzu Veranlassung bestand. Die Feststellungen des Amtsgerichts lassen
darüber hinaus nicht erkennen, welche konkreten Begleiterscheinungen der
Aidsinfektion mit dem eingeführten Rauschgift bekämpft werden sollten, unter welchen
Beschwerden der Angeklagte dabei litt und worin die vom Amtsgericht angenommene
positive Wirkung des THC bestanden hat. Offen bleibt auch, ob der Angeklagte durch
Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe mit zugelassenen Arzeimitteln wegen seiner
Beschwerden hätte angemessen und erfolgreich behandelt werden können und ob er
sich um eine solche Behandlung bemüht hat. Angesichts der Einlassung des
Angeklagten, er habe sich wegen seiner Krankheit für berechtigt gehalten,
Cannabisprodukte zu konsumieren und einzuführen, hätte es schließlich näherer
Feststellungen dazu bedurft, welche konkreten Vorstellungen der Angeklagte insoweit
hatte.
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Angesichts der aufgezeigten Lücken in den Feststellungen des Amtsgerichts kann nicht
völlig ausgeschlossen werden, daß dem Angeklagten bei Begehung der Tat
Rechtfertigungs- oder Schuld-ausschließungsgründe zur Seite standen, die gemäß §
263 StPO zur Schuldfrage gehören würden. Die Unvollständigkeit der Feststellungen
betrifft auch die Strafzumessungserwägungen, welche rechtsfehlerhaft sind, wenn sie
nicht auf einem ein-deutig geklärten Sachverhalt beruhen (vgl. SenE v. 17.2.1998 -Ss
760/97-).
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Die Feststellungen des Amtsgerichts sind schließlich deshalb lückenhaft, weil sie nicht
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alle für die nachträgliche Gesamt-strafenbildung erforderlichen Angaben enthalten.
Nach § 55 Abs. 1 StGB können nur solche in früheren rechtskräf-tigen Verurteilungen
erkannte Strafen bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung im letzten Urteil
einbezogen werden, die noch nicht vollstreckt, verjährt oder erlassen sind.
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Bezüglich der Verurteilungen vom 20.8.1997 und 25.8.1997 wird nicht hinreichend
deutlich, ob die verhängten Geldstrafen noch zu vollstrecken waren. Bei den
Feststellungen unter Ziff. I des Urteils ist dazu nichts vermerkt. Bei der Strafzumessung
unter Ziff. V heißt es zwar, daß bezüglich der weiteren grundsätzlich
gesamtstrafenfähigen Entscheidungen von einer Gesamtstrafen-bildung zunächst
abgesehen werde, da aufgrund der Einlassung des Angeklagten zumindest eine
Zahlung auf einen Strafbefehl im Raum stand, von der nicht geklärt werden konnte, auf
welche Strafe und zu welchem Zeitpunkt diese erfolgte. Dies besagt aber nicht
unbedingt, daß die am 20.8.1997 und 25.8.1997 verhängten Geldstrafen noch nicht
erledigt waren.
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Die Gesamtstrafenbildung ist im übrigen rechtsfehlerhaft, weil das Amtsgericht die
Zäsurwirkung der nach den Festsellungen des Amtsgericht noch nicht vollständig
erledigten Vorverurteilung vom 17.8.1996 durch das Amtsgericht Pforzheim nicht
berücksich-tigt hat. Bei einer solchen Zäsur ist für die danach begangenen Taten auf
eine selbständige Einzel- oder Gesamtstrafe zu erkennen.
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Nach dem Gesagten ist das angefochtene Urteil gemäß § 353 StPO mit seinen
Feststellungen aufzuheben und die Sache gemäß § 354 Abs. 2 StPO zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
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Für das weitere Verfahren wird auf folgendes hingewiesen:
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Der von dem Angeklagten geltend gemachte Rechtfertigungsgrund des Notstandes
nach § 34 StGB setzt zunächst voraus, daß eine nicht anders abwendbare Gefahr für
das schutzbedürftige Rechtsgut besteht, anderweitige Hilfe also nicht möglich ist, was
der Täter gewissenhaft zu prüfen hat (vgl. Tröndle, StGB 48. Aufl., § 34 Rn5 m.w.N.;
BGHSt 39, 133, 137). Außerdem muß die gebotene Interessenabwägung ergeben, daß
das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse wesentlich überwiegt.
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Bei dieser Abwägung sind die Wertungen zu berücksichtigen, die sich in gesetzlichen
Regelungen außerhalb des § 34 StGB - hier also den Bestimmungen des BtMG über die
Verkehrsfähigkeit von Betäubungsmitteln - niedergeschlagen haben. Nur wenn die
drohende Gefahr so exorbitant und atypisch ist, daß sie in die Abwägung der
gesetzlichen Spezialregelung nicht eingegangen ist, kann § 34 StGB eingreifen ( vgl.
Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Band I [1992] § 16 Rn 45,46).
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Angesichts der Einlassung des Angeklagten er habe sich wegen seiner Krankheit für
berechtigt gehalten, Cannabisprodukte zu konsumieren und einzuführen, wird die Frage
eines Verbotsirrtum nach § 17 StGB und gegebenfalls einer Strafmilderung nach § 49
Abs. 1 StGB zu prüfen sein.
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Im Hinblick auf den Gesundheitszustand des Angeklagten wird auch eine Einstellung
des Verfahrens nach § 153 Abs. 2 StPO zu erwägen sein.
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