Urteil des OLG Koblenz vom 08.12.2003
OLG Koblenz: überholen, mitverschulden, mithaftung, betriebsgefahr, taxi, abbiegen, fahren, verkehrsunfall, kollision, vollstreckbarkeit
Verkehrsrecht
Versicherungsrecht
Zivilrecht
OLG
Koblenz
08.12.2003
12 U 1227/02
Kollidiert ein Linksabbieger,
Geschäftsnummer:
12 U 1227/02
7 O 111/01
LG Mainz
Verkündet
am 8. 12. 2003
M., Amtsinsepktor,
als Urkundsbeamter der
Geschäftsstelle
OBERLANDESGERICHT
KOBLENZ
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
in dem Rechtsstreit
1. H. K.,
2. S. GmbH,
3. K. Versicherungs-AG,
Beklagte und Berufungskläger,
- Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt
gegen
R. S.,
Klägerin und Berufungsbeklagte,
- Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte
wegen eines Schadensersatzanspruchs aus einem Verkehrsunfall.
Der 12. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz hat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dierkes,
die Richterin am Oberlandesgericht Frey und den Richter am Oberlandesgericht Dr. Eschelbach
auf die mündliche Verhandlung vom 17. November 2003
für R e c h t erkannt:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Einzelrichters der 7. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom
26. August 2002 abgeändert:
Die Klage wird abgewiesen.
Von den Gerichtskosten des Verfahrens in erster Instanz tragen die Beklagten zu 1) und 3) 10 % als Gesamtschuldner;
ferner tragen diese 10 % ihrer erstinstanzlichen außergerichtlichen Kosten jeweils selbst. 90 % der Gerichtskosten und
der außergerichtlichen Kosten trägt im Verhältnis zu den Beklagten zu 1) und 3) die Klägerin. Im Verhältnis zur Beklagten
zu 2) trägt die Klägerin die Gerichtskosten des Verfahrens erster Instanz ganz, ebenso die außergerichtlichen Kosten der
Beklagten zu 2).
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt Klägerin insgesamt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e :
I.
Die Parteien streiten um restliche Schadensersatzansprüche der Klägerin aus einem Verkehrsunfall, der sich am
24. Februar 2000 gegen 09.05 Uhr auf der zunächst stark abfallenden, am Unfallort aber nur noch ein Gefälle von 6,5 %
aufweisenden Straße A. M. in M. ereignet hat. Die Klägerin befuhr diese 6,45 m breite Straße mit ihrem Pkw in Richtung
R.-Straße. In Höhe des Parkhotels F. wollte sie nach links in eine Parkbucht einbiegen und verlangsamte ihre
Fahrgeschwindigkeit. Die Parkbuchten sind dort an beiden Fahrbahnen in einem Winkel von 45° in die jeweilige
Fahrtrichtung ausgerichtet, so dass die Klägerin nur in einem Bogen von etwa 135° nach links in eine Parkbucht neben
der Gegenfahrspur hätte einfahren können. Hinter ihr fuhr der grüne Pkw eines unbekannt gebliebenen Fahrzeugführers,
der infolge des Fahrmanövers der Klägerin auch seine Fahrt verlangsamen musste und die Lichthupe betätigte. Dahinter
fuhr der Erstbeklagte mit dem Taxi, dessen Halterin die Zweitbeklagte und das bei der Drittbeklagten gegen Haftpflicht
versichert ist. Der Erstbeklagte scherte mit dem Taxi aus und wollte die vor ihm befindlichen Fahrzeuge überholen, als
die Klägerin erst einen Schlenker nach rechts machte und dann nach links zum Abbiegen ansetzte. Der Überholer fuhr
mit mindestens 40 km/h. Er kollidierte mit der Linksabbiegerin, indem er in die linke Flanke des Fahrzeugs der Klägerin
stieß. Beide Fahrzeugführer wurden verletzt, ihre Fahrzeuge erheblich beschädigt. Die Drittbeklagte hat den
Sachschaden der Klägerin vorgerichtlich auf der Grundlage einer Haftungsquote von 75% reguliert, wozu sie 12.618,11
Euro gezahlt hat. Nach Klageerhebung hat sie auch eine Schmerzensgeldforderung von 766,94 Euro zu 75 % erfüllt,
also 575,20 Euro hierauf gezahlt; insoweit wurde von den Parteien in erster Instanz übereinstimmend die Hauptsache für
erledigt erklärt, was bei der Kostenentscheidung zu beachten ist. Mit der im Übrigen weiter verfolgten Klage hat die
Klägerin ihren restlichen Schaden ersetzt verlangt.
Die Klägerin hat geltend gemacht, sie habe der doppelten Rückschaupflicht Genüge getan und den Blinker gesetzt. Der
Unfall sei für sie ein unabwendbares Ereignis gewesen. Sie sei bereits nahezu in die Parkbucht eingebogen gewesen,
als der Erstbeklagte ihr Fahrzeug gerammt habe. Die Klägerin hat beantragt, die Beklagten zu 1) bis 3) als
Gesamtschuldner zu verurteilen, 4.359,45 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz an sie zu zahlen, ferner die
Beklagten zu 1) und zu 3) zu verurteilen, an sie ein restliches Schmerzensgeld in Höhe von 191,73 Euro nebst 5 %
Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 5. März 2001 zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen. Sie haben geltend gemacht, die Klägerin müsse sich eine
Mithaftung anrechnen lassen, welche mit 25 % zu bewerten sei. Die Parkbuchten am rechten Fahrbahnrand seien nicht
sämtlich belegt gewesen, sodass die Klägerin zum Parken auch nach rechts hätte fahren können. Stattdessen habe sie
verkehrsbehindernd mitten auf der Fahrbahn angehalten und dann nach links gezogen, um die dort befindlichen
Parkbuchten anzustreben. Der Unfall habe sich zu Beginn des Abbiegemanövers zugetragen. Dass die Klägerin den
Fahrtrichtungsanzeiger betätigt habe, werde ebenso bestritten, wie die Beachtung der doppelten Rückschaupflicht.
Das Landgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Es hat ausgeführt, den Erstbeklagten treffe ein
überwiegendes Verschulden, hinter das ein etwaiges Mitverschulden der Klägerin völlig zurücktrete. Das überwiegende
Verschulden des Erstbeklagten sei darin zu sehen, dass er in einer unklaren Situation zwei vorausfahrende Fahrzeuge
habe überholen wollen. Weil diese Pkws ihre Fahrt auffällig verlangsamt hätten, habe der Erstbeklagte damit rechnen
müssen, dass ein Abbiegemanöver bevorstehe. Ein Mitverschulden der Klägerin sei - nur - im Ansatz möglich, weil sie
bei doppelter Rückschau das Taxi hätte erkennen können. Daraus folge aber im Ergebnis keine Mithaftung der Klägerin;
denn miit einem so riskanten Überholmanöver habe sie nicht rechnen müssen. Ihr sei daher dem Grunde nach
Schadensersatz in vollem Umfang zuzubilligen. Hinsichtlich des Anspruchsumfangs seien ihr nur 300 DM anteilige
Abschleppkosten nicht zuzubilligen, weil nach dem Totalschaden ein Verbringen des schrottreifen Fahrzeugs von M.
nach H. nicht erforderlich gewesen sei. Auch die Zinsforderung sei übersetzt.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der diese unter Abänderung des angefochtenen Urteils
die Abweisung der Klage auf Ersatz der restlichen Schäden erstreben. Sie bemängeln, dass das Landgericht nicht nur
die Betriebsgefahr, sondern auch ein Mitverschulden der Klägerin als vom Verschulden des Erstbeklagten verdrängt
angesehen habe. Ein Vertrauenstatbestand darin, dass ein Überholer nicht auftauchen werde, habe im konkreten Fall
nicht bestanden. Das Landgericht habe zu Unrecht angenommen, das Fahrzeug des Erstbeklagten habe sich nur
"wahrscheinlich" bereits ganz auf der Gegenfahrbahn befunden, als die Klägerin abgebogen sei. Auch sei zu
berücksichtigen, dass die Klägerin zuerst einen Schlenker nach rechts gemacht habe, um eine der rückwärts geneigten
Parkbuchten jenseits der Gegenfahrspur zu erreichen.
Die Klägerin verteidigt das angegriffene Urteil.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die von den Parteien gewechselten Schriftsätze Bezug
genommen. Hinsichtlich der Feststellungen verweist der Senat auf das angefochtene Urteil (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
II.
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil ist dahin abzuändern, dass die Klage
abgewiesen wird. Der Klägerin steht jedenfalls kein Schadensersatzanspruch über die bereits von der Drittbeklagten
gezahlten Beträge hinaus zu. Sie trifft ein Mithaftungsanteil von mindestens 25%.
Es lag für die Klägerin kein unabwendbares Ereignis vor. Sie trifft auch ein Mitverschulden, weil sie bei dem erkennbaren
Überholvorgang des Erstbeklagten abgebogen ist; aus dem Ablauf ergibt sich zugleich, dass die doppelte
Rückschaupflicht verletzt wurde.
Die Klägerin hat vor Beginn des Abbiegens zunächst nach rechts ausgeholt; das geht aus der Aussage des Zeugen E.
hervor. Dadurch war die Erkennbarkeit ihres Vorhabens für einen weiteren nachfolgenden Kraftfahrer erschwert und
zugleich waren die Anforderungen an die Sorgfalt der Klägerin erhöht. Von der Verpflichtung zur zweiten Rückschau war
die Klägerin auch nicht etwa deshalb entbunden, weil sie sich für ihr weitausgreifendes Abbiegemanöver nicht zur
Straßenmitte hin hatte einordnen können (KG VersR 1982, 374).
Die Klägerin hätte zudem den Überholvorgang des Erstbeklagten bereits erkennen und darauf reagieren können, als sie
zum langsamen Befahren der Gegenfahrspur ansetzte. Die Sichtmöglichkeit dazu war vorhanden; das hat der
Sachverständige Dipl. Ing. H. nachvollziehbar erläutert. Für die zeitliche Erkennbarkeit dieses Überholvorgangs spricht,
dass das Fahrzeug des Erstbeklagten zwei andere Fahrzeuge einschließlich des hinter der Klägerin fahrenden Pkw Audi
überholen wollte; es befand sich nach dem gesamten Ablauf zur sicheren Überzeugung des Senats bereits vollständig
auf der linken Fahrspur, als die Klägerin zum Abbiegen ansetzte. Die Klägerin hatte ihren Abbiegevorgang gerade erst
begonnen, als die Kollision erfolgte. Das ergibt sich aus der Aussage des Zeugen E. und der Bestimmung des - spitzen -
Kollisionswinkels anhand des Beschädigungsbildes an den Fahrzeugen durch den Sachverständigen Dipl. Ing. H. Der
Vortrag der Klägerin, dass sie das Abbiegemanöver bereits größtenteils durchgeführt hatte, als es zur Kollision kam, wird
hierdurch widerlegt.
Aus allem ist zu entnehmen, dass die Klägerin ihrer Rückschaupflicht nicht ausreichend Genüge getan hat. Dieses
Mitverschulden der Klägerin wird, wie die Berufung zu Recht geltend macht, im vorliegenden Fall nicht durch das
Gewicht des Verschuldens des Erstbeklagten konsumiert. Auch die Mithaftung der Klägerin aufgrund der Betriebsgefahr
ihres Fahrzeugs tritt nicht völlig hinter das Verschulden des Erstbeklagten zurück. Dafür spricht bereits, dass die Klägerin
unter Überqueren der Gegenfahrspur in eine aus ihrer Sicht um 45° nach rückwärts geneigte Parkbucht einfahren wollte.
Sie musste also einen Bogen von 135° fahren. Dazu hat sie zunächst nach rechts ausgeholt. Ihr gesamtes Fahrmanöver
hat eine erhöhte Betriebsgefahr begründet und verstärkte Sorgfaltspflichten ausgelöst.
Die Klägerin durfte bei dieser Sachlage nicht darauf vertrauen, dass kein anderes Fahrzeug überholen würde. Die zweite
Rückschau unmittelbar vor dem Abbiegen, zu der der Abbieger verpflichtet ist, ist nur dann entbehrlich, wenn jede
Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs und durch diesen Verkehr technisch ausgeschlossen ist (KGVersR 1982, 374;
Urteil vom 20. November 1995 - 12 U 5436/94). Das sind die Fälle absoluter Verkehrsstille sowie diejenigen, in denen
sich der Abbieger so weit links eingeordnet hat, dass er dort aus Gründen der Straßenführung nicht oder nur unter einem
besonders schweren Verkehrsverstoß, z. B. Linksumfahren eines Fahrbahnteilers oder einer besonders abgesicherten
Linksabbiegerspur, überholt werden kann. Das war hier aber nicht der Fall.
Nach allem ist eine Mithaftung der Klägerin gegeben, die auch unter Berücksichtigung des Verschuldens des
Erstbeklagten, der in unklarer Verkehrslage zwei vor ihm befindliche Fahrzeuge überholen wollte, mindestens 25 %
beträgt (vgl. für eine solche Haftungsquote OLG Bremen DAR 1965, 211; OLG Düsseldorf VersR 1970, 1161; KG
VerkMitt. 1995, 22; OLG Köln RuS 1985, 264; LG München I VersR 1983, 936; zu einer nach den Umständen des
Einzelfalls weiter gehenden Haftung des Linksabbiegers OLG Hamm VersR 1976, 1094 [Ls.] und VersR 1981, 340: 33,3 :
66,6; OLG Köln DAR 1977, 192: 40 : 60; OLG Düsseldorf VersR 1974, 864 [Ls.], OLG Hamm VersR 1987, 1225 [Ls.] und
KG VersR 1982, 374: 50 : 50; LG Hannover RuS 1983, 203 f.: 100 %; bei einem Rechtsausholen des Linksabbiegers
OLG Frankfurt VersR 1970, 1037: 80 : 20).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 92, 97 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708
Nr. 10, 713 ZPO.
Ein Grund zur Zulassung der Revision liegt nicht vor.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren beträgt
4.551,18 Euro hinsichtlich der Klage gegen die Beklagten zu 1) und 3),
4.359,45 Euro hinsichtlich der Klage gegen den Beklagten zu 2).
Dierkes Frey Dr. Eschelbach