Urteil des OLG Koblenz vom 04.11.2009

OLG Koblenz: unterbringung, unter drogeneinfluss, bad, nötigung, drogenkonsum, ermessen, geschäft, markt, amphetamin, toilette

OLG
Koblenz
04.11.2009
2 Ss 122/09
1. Das nach Umgestaltung des § 64 StGB von einer Muss- in eine Sollvorschrift dem Tatrichter eingeräumte Ermessen
muss dieser tatsächlich ausüben und die Ermessensentscheidung für das Revisionsgericht nachprüfbar machen.
2. Das Gericht "soll" die Unterbringung anordnen, wenn die voraussetzungen des § 64 Satz 1 StGB vorliegen. Nur in
besonderen Ausnahmefällen darf es davon absehen.
3. Eine Erörterung des Ausnahmefalls ist erforderlich, wenn Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass keine konkrete
Erfolgsaussicht im Sinne des § 64 Satz 2 StGB besteht oder sonst ein Grund vorliegt, der dem Gericht Anlass geben
könnte, nach seinem Ermessen von der Unterbringung abzusehen.
4. Ergeben sich begründete Zweifel an der Aussicht auf einen Behandlungserfolg (z.B. verfestigter, langjähriger
Drogenkonsum, mehrere erfolglos durchlaufene Therapien), reicht allein die Feststellung, die Erfolgsaussicht könne
nicht verneint ewrden, nicht aus.
5. Die Möglichkeit einer Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG kann für sich genommen ein Absehen
von der Prüfung und gegebenenfalls Anordnung der Maßregel nicht rechtfertigen.
6. Erklärt der Angeklagte, nicht therapiebereit zu sein, ist das Bestehen einer konkreten Erfolgsaussicht aufgrund einer
Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller insoweit maßgeblicher Umstände zu beurteilen. Dabei ist zu
berücksichtigen, dass es gerade Ziel einer Behandlung im Maßregelvollzug sein kann, die Therapiebereitschaft des
Untergebrachten erst zu wecken.
Geschäftsnummer:
2 Ss 122/09
3 Ss 122/09 - GenStA Koblenz
1042 Js 10947/07 - Ns - StA Bad Kreuznach
In der Strafsache
g e g e n
I… B…,
geboren am … 1968 in …/Türkei,
wohnhaft:
- Verteidiger:Rechtsanwalt
w e g e n Nötigung u.a.
hier: Revision des Angeklagten
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz in der Sitzung
vom 4. November 2009, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Völpel ,
Richter am Oberlandesgericht Mille,
Richter am Oberlandesgericht Pott,
Staatsanwältin Fischer
als Vertreterin der Generalstaatsanwaltschaft,
Rechtsanwalt …
als Verteidiger des Angeklagten
Amtsinspektor Babilon
als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,
für R e c h t erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 7. kleinen Strafkammer des Landgerichts Bad Kreuznach vom 14.
April 2009 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsmittels, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Bad Kreuznach zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Bad Kreuznach verurteilte den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in
zwei Fällen, Nötigung und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten. Seine
Berufung hat das Landgericht Bad Kreuznach am 14. April 2009 als unbegründet verworfen mit der Maßgabe, dass
gegen den Angeklagten eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verhängt wird. Gegen dieses Urteil richtet sich die
Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
II.
Die zulässige Revision hat mit der Sachrüge nur im Rechtsfolgenausspruch - zumindest vorläufig - Erfolg. Die Rüge der
Verletzung formellen Rechts genügt nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO und ist deshalb unzulässig.
1.
Unbegründet ist die Sachrüge, soweit sie sich gegen den Schuldspruch richtet. Dies gilt auch für die Verurteilung wegen
Nötigung. Entgegen der von der Generalstaatsanwaltschaft vertretenen Auffassung stehen die Tatfeststellungen zum
Tatort der Nötigung nicht im Widerspruch zu dem in den Urteilsgründen dargestellten Ergebnis der Beweisaufnahme.
Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe lässt sich noch hinreichend deutlich entnehmen, dass sich diese Tat
nicht in den Toilettenräumen des Nachtlokals „V...“ in K…, sondern vor dem T…geschäft am …markt in K… ereignet hat.
Nach den Urteilsfeststellungen ist es im Nachtlokal „V...“ zu einem Streitgespräch zwischen dem Angeklagten und dem
Zeugen Z... gekommen. Der Angeklagte wollte, dass der Zeuge das Lokal nicht weiter besucht. Um dieses Ziel zu
erreichen, kam es in den frühen Morgenstunden des 23. Januar 2007 zu der Nötigungshandlung. Die Feststellungen,
die den Ort des Geschehens nicht ausdrücklich bestimmen, legen zwar den Schluss nahe, dass die Nötigung im
unmittelbaren Anschluss an das Streitgespräch in der Toilette der Nachtbar stattfand. Aus der mitgeteilten Einlassung
des Angeklagten, der eingeräumt hat, den Zeugen Z... in der besagten Nacht vor dem T…geschäft gesehen zu haben,
und der im Urteil wiedergegebenen, als glaubhaft bewerteten Aussage des Verletzten folgt jedoch, dass sich die Tat
nach Überzeugung des Gerichts nicht in der Toilette des Nachtlokals, sondern vor dem genannten Geschäft am …markt
abgespielt hat. Damit ist das Tatgeschehen ausreichend beschrieben.
Die Beweiswürdigung der Kammer ist nicht zu beanstanden. Soweit in der Beweisaufnahme Gesichtspunkte zu Tage
getreten sind, die gegen die Glaubwürdigkeit der Zeugin D… sprechen könnten, hat das Gericht sie umfassend erörtert.
Rechtsfehler sind darin nicht erkennen.
2.
Das Urteil kann jedoch keinen Bestand haben, soweit eine Entscheidung zur Frage der Unterbringung des Angeklagten
in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist.
a) Die von dem Landgericht getroffenen Feststellungen zum langjährigen Drogenmissbrauch des Angeklagten drängten
zu der Prüfung, ob die Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 64 StGB gegeben sind. Danach begann der 1968
geborene Angeklagte im Jahr 2005 mit dem Konsum von Kokain und Amphetamin, der sich bis 2008 zu einem täglichen
Verbrauch steigerte. In seiner Wohnung wurden am 29. Januar 2008 und am 3. März 2008 2,5 g bzw. 0,9 g Amphetamin
sichergestellt. Dazu konsumierte er Bier und Schnaps. Unter der Einwirkung von Betäubungsmitteln neigt er zu
aggressivem Verhalten. Bei den Taten zum Nachteil des Zeugen Z... und der Zeugin D… hat die Strafkammer dem
Angeklagten verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) zugebilligt, da eine erhebliche Drogenintoxikation aufgrund des
gezeigten aggressiven Verhaltens nicht ausgeschlossen werden könne.
Danach bestehen gewichtige Anhaltspunkte für eine Neigung des Angeklagten, Rauschmittel im Übermaß zu
konsumieren. Angesichts der Tatsache, dass ein Teil der Taten unter Drogeneinfluss begangen wurde, liegt es nach
den Urteilsfeststellungen nahe, dass dies auf einen Hang des Angeklagten zu übermäßigem Drogenkonsum
zurückzuführen ist. Da die Kammer davon ausgeht, dass sein langjähriger Drogenkonsum „eine stetige Rückfallgefahr“
beinhaltet, ist auch die Gefahr weiterer drogenbedingter Straftaten nicht von der Hand zu weisen.
b) Einer Anordnung der Maßnahme steht nicht entgegen, dass § 64 StGB in der durch das Gesetz zur Sicherung der
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 (BGBI. I 1327)
geänderten Fassung von einer Muss- in eine Sollvorschrift umgestaltet worden ist und damit eine Unterbringung nicht
mehr zwingend vorsieht. Dies macht die Prüfung des § 64 StGB durch den Tatrichter nicht entbehrlich. Dieser muss
vielmehr das ihm durch die Gesetzesneufassung eingeräumte Ermessen tatsächlich ausüben und die
Ermessensentscheidung für das Revisionsgericht nachprüfbar machen (BGH NStZ-RR 2008, 392; NStZ-RR 2009, 170,
171; Beschluss 2 StR 586/08 vom 4.2.2009 bei juris). Auch wenn § 64 Satz 2 StGB bestimmt, dass die Anordnung nur
bei Bestehen einer konkreten Erfolgsaussicht ergeht, „soll“ das Gericht die Unterbringung anordnen, wenn die
Voraussetzungen des Satzes 1 der Vorschrift vorliegen. Nur in besonderen Ausnahmefällen darf es davon absehen
(BGH NStZ-RR 2008, 73/74; Fischer, StGB, § 64 Rdn. 23).
Eine Erörterung des Ausnahmefalls ist erforderlich, wenn Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass keine konkrete
Erfolgsaussicht im Sinne des § 64 Satz 2 StGB besteht (BGH, Beschluss 2 StR 586/08 vom 4.2.2009 Rdn. 6 bei juris;
NStZ-RR 2008, 392) oder sonst ein Grund vorliegt, der dem Gericht Anlass geben könnte, nach seinem Ermessen von
der Unterbringung abzusehen (BGH NStZ-RR 2009, 170, 171; vgl. die Beispiele bei Fischer a.a.O. Rdn. 23a). Ergeben
sich begründete Zweifel an der Aussicht auf einen Behandlungserfolg (z.B. verfestigter, langjähriger Drogenkonsum,
mehrere erfolglos durchlaufene Therapien), reicht allein die Feststellung, die Erfolgsaussicht könne nicht verneint
werden, nicht aus (BGH NStZ-RR 2009, 48, 49). Andererseits kann die Möglichkeit einer Zurückstellung der
Strafvollstreckung nach § 35 BtMG für sich genommen ein Absehen von der Prüfung und gegebenenfalls Anordnung
der Maßregel nicht rechtfertigen (BGH, Beschluss 2 StR 586/08 vom 4.2.2009 a.a.O. Rdn. 5 m.w.N.). Erklärt der
Angeklagte, nicht therapiebereit zu sein, ist das Bestehen einer konkreten Erfolgsaussicht aufgrund einer
Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller insoweit maßgeblicher Umstände zu beurteilen. Dabei ist zu
berücksichtigen, dass es gerade Ziel einer Behandlung im Maßregelvollzug sein kann, die Therapiebereitschaft des
Untergebrachten erst zu wecken (BGH NStZ-RR 2009, 277; Beschluss 4 StR 318/07 vom 6.9.2007 bei juris).
c) Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (BGHSt
37, 5). Der Beschwerdeführer hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht nicht von seinem
Rechtsmittelangriff ausgenommen. Das Schlechterstellungsverbot steht der Anordnung der Maßregel nicht entgegen
(§§ 358 Abs. 2 Satz 3, 331 Abs. 2 StPO).
3.
Dementsprechend ist das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit das Landgericht von einer Unterbringung gemäß §
64 StGB abgesehen hat. Da nicht auszuschließen ist, dass die zuerkannten – für sich genommen maßvollen – Strafen
noch niedriger ausgefallen wären, wenn zugleich die vom Gesetz vorgeschriebene Unterbringung angeordnet worden
wäre, kann auch der Strafausspruch nicht bestehen bleiben (vgl.
BGHSt 28, 327
, 330; 37, 1, 10: BGHR StGB § 64
Ablehnung 2,3,5; BGH NStZ 1992, 33).
Völpel Mille Pott