Urteil des OLG Karlsruhe vom 05.02.2002

OLG Karlsruhe: strafvollstreckung, therapie, verhaftung, heimat, wohngemeinschaft, einwirkung, sucht, behandlung, unverzüglich, rechtsberatung

OLG Karlsruhe Beschluß vom 5.2.2002, 2 VAs 51/01
Betäubungsmittelabhängigkeit: Wiederholte Zurückstellung der Strafvollstreckung bei Therapieabbruch
Tenor
Auf den Antrag des werden die mit Beschluss vom 31. August 2001 (II VRJs 148/00) abgegebene Erklärung des Amtsgerichts S., der Beschluss
des Amtsgerichts P. vom 18. Oktober 2001 (VRJs 177/00) und der Beschwerdebescheid der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe vom 21.
November 2001 - Zs 1762/01 - aufgehoben.
Die Zustimmung zur Zurückstellung der Vollstreckung der restlichen Jugendstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts S. vom 26. September 2000 (1 Ls
41 Js 33388/99 Hw) wird erteilt. Die Zeit des Aufenthalts in der staatlich anerkannten Einrichtung N. ist bis zur Erledigung von zwei Drittel der Strafe
auf die erkannte Jugendstrafe anrechnungsfähig.
Das Amtsgericht P. wird verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.
Das Verfahren ist gebührenfrei. Die Staatskasse trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Der Geschäftswert wird auf 3.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1 Der heute 23 Jahre alte, in Deutschland geborene und aufgewachsene Antragsteller türkischer Staatsangehörigkeit ist seit mehreren Jahren
drogenabhängig. Am 26. September 2000 verurteilte ihn das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - S. wegen unerlaubten Erwerbs von in
Tateinheit mit gewerbsmäßigem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in 102 Fällen, wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge in Tateinheit mit gewerbsmäßigem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in 2 Fällen und wegen unerlaubter Einfuhr von
Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit gewerbsmäßigem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln unter Einbeziehung zweier
früherer Verurteilungen zu einer Jugendstrafe von drei Jahren. Das Urteil ist seit dem 5. Oktober 2000 rechtskräftig. Mit Beschluss vom 27.
Dezember 2000 stellte das Amtsgericht - Vollstreckungsleiter - P. mit Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszuges die weitere Vollstreckung
der Jugendstrafe zur Durchführung einer stationären Drogentherapie in der Rehabilitationseinrichtung B. gem. § 35 BtMG zurück. Nach
Entlassung aus der Jugendstrafhaft trat der Antragsteller die Therapie am 7. Februar 2001 an, musste aber bereits am 20. April 2001 aus der
Einrichtung disziplinarisch entlassen werden. Der Antragsteller bemühte sich sodann unverzüglich um einen neuen Therapieplatz und wurde am
12. Juni 2001 in der Rehabilitationseinrichtung J. aufgenommen, wo er allerdings schon am 25. Juli 2001 ebenfalls aus disziplinarischen Gründen
wieder entlassen wurde. Daraufhin widerrief das Amtsgericht P. mit Beschluss vom 26. Juli 2001 die Zurückstellung und ordnete die weitere
Vollstreckung der Jugendstrafe an. Inzwischen hatte sich der Antragsteller in die Türkei abgesetzt, von wo aus er sich mit Hilfe seiner in Berlin
lebenden Schwester erfolgreich um einen neuen Therapieplatz bei der dortigen Einrichtung N. bemühte.
2 Mit Beschluss vom 31. August 2001 versagte das Amtsgericht S. als Gericht des ersten Rechtszuges gleichwohl die Zustimmung zur erneuten
Zurückstellung der Strafvollstreckung, da es dem Antragsteller angesichts der beiden Therapieabbrüche und dem anschließenden Untertauchen
derzeit an Therapiebereitschaft und Therapiewillen fehle. Nachdem das Landgericht H. die hiergegen gerichtete Beschwerde des
Vollstreckungsleiters beim Amtsgericht P. mit Beschluss vom 2. Oktober 2001 als unzulässig (hilfsweise auch als unbegründet) zurückgewiesen
hatte, lehnte dieser mit Beschluss vom 18. Oktober 2001 die Zurückstellung der weiteren Strafvollstreckung wegen fehlender Zustimmung des
Gerichts des ersten Rechtszuges ab. Der vom Verurteilten hiergegen eingelegten Beschwerde gab die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe mit
Bescheid vom 21. November 2001 keine Folge.
II.
3 Dem hiergegen gerichteten zulässigen Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung gem. §§ 35 Abs. 2 BtMG, 23 ff. EGGVG ist der aus
der Beschlussformel ersichtliche Erfolg nicht zu versagen.
4 Aufgrund der gesetzlichen Ausgestaltung des Zurückstellungsverfahrens gem. §§ 35 Abs. 1 und Abs. 2 BtMG, 28 Abs. 3 EGGVG hat der Senat die
Entschließung der Vollstreckungsbehörde und die eine Zustimmung versagende Erklärung des erkennenden Gerichts lediglich auf
Ermessensfehler und dahin zu überprüfen, ob ihnen ein zutreffend und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrundegelegt worden ist und die
Grenzen eines zustehenden Beurteilungsspielraums eingehalten worden sind (vgl. nur Senat NStZ 1999, 253; OLG Saarbrücken NStZ-RR 1996,
50; Körner, BtMG 5. Aufl. § 35 Rdnrn. 216 ff.). Hiervon ausgehend kann die Zurückstellung der Vollstreckung der Jugendstrafe nicht wegen der
vom Amtsgericht S. verweigerten Zustimmung abgelehnt werden, da dessen Einschätzung, der Antragsteller sei nicht therapiebereit bzw. nicht
therapiewillig, einer tragfähigen Grundlage entbehrt. Zwar kann die Ablehnung der Zurückstellung grundsätzlich auch auf den fehlenden
Therapiewillen eines Verurteilten gestützt werden. Allerdings genügen hierzu bloße Zweifel an einer ernsthaften und freiwilligen
Therapiebereitschaft nicht, da das Fehlen einer Behandlungsmotivation für Drogenabhängige geradezu typisch ist. Der Weg aus der Sucht stellt
ein langes, prozesshaftes Geschehen dar, so dass zu einem Behandlungserfolg in der Regel zahlreiche Therapieversuche gehören. Selbst
mehrfache Therapieabbrüche vermögen daher nicht ohne weiteres zwangsläufig eine Therapiebereitschaft in Zweifel zu ziehen (vgl.
Senatsbeschlüsse StV 1983, 112; NStZ 1999, 253; Körner a.a.O. Rdnrn. 123 ff. und NStZ 1998, 232). Dementsprechend sieht § 35 Abs. 5 Satz 3
BtMG die Möglichkeit einer erneuten Zurückstellung der Strafvollstreckung trotz vorangegangenen Widerrufs einer Zurückstellung ausdrücklich
vor. Vor diesem Hintergrund kann aus dem zweimaligen Therapieabbruch des bisher unbehandelten Antragstellers innerhalb kurzer Zeit noch
nicht auf das Fehlen seiner Therapiebereitschaft geschlossen werden. Der Umstand, dass er sich nach dem zweitem Therapieabbruch zunächst in
seine türkische Heimat absetzte, rechtfertigt letztlich keine andere Beurteilung. Zwar wollte der Antragsteller dadurch ersichtlich erst einmal der
ihm drohenden Verhaftung entgehen, was durchaus Zweifel an seinem ernsthaften Therapiewillen wecken kann. Andererseits bemühte er sich
auch von der Türkei aus erfolgreich um einen aus seiner Sicht für eine sinnvolle Behandlung besser geeigneten Therapieplatz in einer gem. §§ 35
ff. BtMG staatlich anerkannten interkulturell-sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft und hielt weiterhin Kontakt mit der Vollstreckungsbehörde,
um diese Therapie antreten zu können. Durchgreifende, die Ablehnung der Zustimmung nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BtMG rechtfertigende Zweifel an
einer ernsthaften Therapiebereitschaft des Antragstellers bestanden daher nicht, so dass es entgegen der Annahme des Amtsgerichts S. einer
neuerlichen Überprüfung und gegebenenfalls Festigung der Therapiebereitschaft des Antragstellers durch die entsprechende Einwirkung im
Rahmen des Vollzugs nicht bedarf. Ob im Falle eines abermaligen Therapieabbruchs des Antragstellers aus disziplinarischen Gründen etwas
anderes gelten könnte, hat der Senat jedenfalls derzeit nicht zu entscheiden.
5 Die Entschließung der Vollstreckungsbehörde sowie die gerichtliche Erklärung sind nach alledem aufzuheben. Nachdem auch die übrigen
Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 BtMG ersichtlich gegeben sind, macht der Senat von der Möglichkeit des § 35 Abs. 2 Satz 3
(Halbsatz 2) BtMG Gebrauch, die Zustimmung zur Zurückstellung der Strafvollstreckung selbst zu erteilen. Die Feststellung der
Anrechnungsfähigkeit folgt aus § 36 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BtMG. Da bei neuer Prüfung eine Versagung der Zurückstellung aus anderen Gründen
nicht völlig ausgeschlossen erscheint (vgl. die Beispiele bei Körner a.a.O. Rdnr. 218 a.E.), wird die Vollstreckungsbehörde im Rahmen ihres
Ermessens über den Antrag auf Zurückstellung der Vollstreckung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden haben.
III.
6 Da der Antrag zur Aufhebung der angefochtenen Verfügungen und der gerichtlichen Erklärungen führte, sind Gebühren nicht zu erheben. Die
Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers beruht auf § 30 Abs. 2 EGGVG und trägt dem jedenfalls weitgehend
erreichten Ziel des Antrags Rechnung.
7 Der Geschäftswert wurde nach §§ 30 Abs. 3 EGGVG, 30 Abs. 2 KostO festgesetzt.