Urteil des OLG Karlsruhe vom 07.11.2002
OLG Karlsruhe: therapie, vorzeitige entlassung, anhörung, prognostische beurteilung, behandlung, aussetzung, beendigung, bewährung, substitution, methadon
OLG Karlsruhe Beschluß vom 7.11.2002, 1 Ws 323/02
Betäubungsmittelabhängige Straftäter: Anhörung der behandelnden Personen vor der Entscheidung über eine Reststrafenaussetzung
Leitsätze
Bei einem Wechsel des Therapeuten nach Beendigung einer Therapie im Rahmen der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG
erstreckt sich die vor einer Entscheidung über die Reststrafenaussetzung nach § 36 Abs.1 Satz 3 BtMG bestehende Pflicht zur Anhörung der
behandelnden Personen und Einrichtungen auch auf denjenigen, welcher auf Wunsch des Verurteilten die Weiterbehandlung übernommen hat.
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts - Strafkammer 2 - ... vom 11. September 2002 aufgehoben.
2. Die Sache wird zur neuen Entscheidung - auch über die Kosten der Beschwerde - über den Antrag der Staatsanwaltschaft ..., die Aussetzung der
Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts ... vom 11. Dezember 2000 abzulehnen, an das Landgericht ... zurückgegeben.
Gründe
I.
1
Der seit 1975 drogenabhängige R. K wurde durch Urteil des Landgerichts ... vom 11.12.2000 wegen Beihilfe zum erpresserischen
Menschenraub und zur schweren räuberischen Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, weil er am 14.05.1999 dem U. Y.
bei der Durchführung eines Banküberfalls auf die Sparkasse ... durch Besorgung einer Gas- und Schreckschusspistole sowie durch
Schmierestehen Hilfe geleistet hatte, um sich hierdurch Geld für den Ankauf von Drogen zu beschaffen. Aufgrund (erneuter) Zurückstellung der
Strafvollstreckung durch die Staatsanwaltschaft ... befand er sich ab dem 30.01.2002 mit seiner Partnerin und dem gemeinsamen Kind zur
Durchführung einer Therapie in der Fachklinik L. in L. Nachdem diese Behandlung am 12.06.2002 im Einverständnis mit der Fachklinik vorzeitig
beendet wurde, übersandte die Staatsanwaltschaft ... am 11.07.2002 - über die Frage eines Widerruf der Zurückstellung bzw. deren Fortdauer
wurde nicht entschieden - die Akten an die Strafkammer des Landgerichts mit dem Antrag, von einer Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung
abzusehen. Bei seiner hierauf durchgeführten schriftlichen Anhörung gab der Verurteilte, welcher bereits zuvor die Durchführung einer
ambulanten Therapie angestrebt hatte, am 23.08.2002 an, unmittelbar nach Beendigung der Therapie Kontakte zu seiner Drogenberaterin in ...
aufgenommen zu haben und seither wöchentliche Beratungsgespräche durchzuführen.
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Mit Beschluss vom 11.09.2002 lehnte die Strafkammer die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG ab, weil
auch unter Anrechnung der Therapieaufenthalte 2/3 der Strafe noch nicht verbüßt seien und im übrigen unter Berücksichtigung des
Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit eine vorzeitige Entlassung nicht verantwortet werden könne.
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Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit dem Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde. Zur Begründung trägt er über seinen Rechtsanwalt unter
anderem vor, seit 19.07.2002 unter ärztlicher Aufsicht eine Methadon-Substitution in ... durchzuführen.
II.
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Die nach §§ 36 Abs. 5 Satz 4 BtMG i.V.m. § 462 Abs. 3, 311 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig, da form- und fristgerecht eingelegt.
5
Das Rechtsmittel hat auch Erfolg.
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Der Beschluss der Strafkammer leidet unter einem Aufklärungsmangel, der zur Aufhebung der Entscheidung und zur Zurückgabe der Sache an
das Landgericht nötigt. Nach § 36 Abs. 5 Satz 2 BtMG sind vor der Entscheidung über die Strafaussetzung die Vollstreckungsbehörde, der
Verurteilte und die behandelnden Personen oder Einrichtungen zu hören. Zwar sieht diese Vorschrift im Gegensatz zu § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO
keine obligatorische mündliche Anhörung des Verurteilten vor (OLG Frankfurt NStZ-RR 1998, 77; Weber, BtMG, 1999, § 36 R.107), so dass sich
der Verurteilte - wie hier erfolgt - auch schriftlich äußern kann. Die damit verbundenen Defizite in der Sachaufklärung sind jedoch dadurch
auszugleichen, dass gerade an die Pflicht zur Anhörung der behandelnden Personen oder Einrichtungen strenge Anforderungen zu stellen sind,
denn gerade diese können aufgrund ihrer Fachkenntnisse zu einer verlässlichen prognostischen Beurteilung des Verurteilten beitragen. Deren
Anhörung ist daher zwingend (OLG Hamm StV 2000, 40). Bei einem Wechsel des Therapeuten nach Beendigung einer Therapie erstreckt sich
diese Verpflichtung daher auch auf denjenigen, welcher auf Wunsch des Verurteilten die Weiterbehandlung übernommen hat.
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Nachdem der Verurteilte bei seiner schriftlichen Anhörung am 23.08.2002 die Aufnahme von Kontakten zu seiner Drogenberaterin mitgeteilt
hatte und sein Wunsch nach Weiterbehandlung seiner Drogensucht auch durch ein Substitutionsprogramm - der Wille zur Durchführung einer
ambulanten Therapie war bereits aufgrund einer Vorsprache bei der Staatsanwaltschaft ... am 09.04.2002 aktenkundig - aus seiner schriftlichen
Stellungnahme ersichtlich war, wären weitere Nachforschungen der Strafkammer veranlasst gewesen, um ein zuverlässigen Bild über den
derzeitigen Behandlungsstand und den weiteren Lebensweg des Verurteilten zu gewinnen. Bei der gebotenen weiteren Aufklärung des
Vorbringens des Verurteilten und der Anhörung der Drogenberaterin wäre auch ersichtlich gewesen, dass sich der Verurteilte seit 19.07.2002
einer ärztlich begleiteten Methadon-Substitution unterzieht, was erhebliche Bedeutung für die prognostische Beurteilung haben kann.
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Der Aufklärungsmangel hat ein solches Gewicht, dass der Senat es für geboten hält, von § 309 Abs. 2 StPO abweichend nicht selbst in der Sache
zu befinden, sondern diese zur Durchführung der notwendigen Sachaufklärung und erneuter Entscheidung - auch über die Kosten der
Beschwerde - an das Landgericht zurückzuverweisen (vgl. hierzu OLG Frankfurt NStZ-RR 1998, 77; KG, Beschluss vom 15.03.2001, 5 Ws
832/00).
9
Da dem Verurteilten vorliegend ein Widerruf der Zurückstellung nach § 35 Abs. 5 BtMG drohen könnte, steht eine Entscheidung der Strafkammer
auch an.
III.
10 Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin:
11 Nach § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG ist ein Strafrest schon dann zur Bewährung auszusetzen, wenn durch die Anrechnung bereits zwei Drittel der
Strafe erledigt sind oder die Behandlung in der Einrichtung zu einem früheren Zeitpunkt nicht mehr erforderlich ist und dies unter
Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Darüber hinaus ist nach § 36 Abs. 2 BtMG eine
Aussetzung auch dann möglich, wenn sich der Verurteilte nach erfolgter Zurückstellung einer anderen als der in § 36 Abs. 1 BtMG bezeichneten
Behandlung unterzogen hat, sobald dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Dabei
steht der Umstand, dass zwei Drittel der erkannten Strafe selbst unter Anrechnung der in stationären wie in der ambulanten Therapie verbrachten
Zeiten noch nicht verbüßt sind, einer Strafaussetzung grundsätzlich nicht entgegen, da hierfür - das gilt gleichermaßen für § 36 Abs. 1 BtMG wie
für § 36 Abs. 2 BtMG - kein Mindestverbüßungszeitraum erforderlich ist (Senat, Beschluss vom 28.06.2001, 1 Ws 127/01; Körner, BtMG, 5. Aufl.
2001, § 36 Rn. 51 ff.).
12 Bei der zu treffenden Kriminalprognose stellt das Gesetz zunächst maßgeblich auf den Erfolg einer Behandlung ab, wobei die positive
Zukunftserwartung auch davon abhängt, ob der Verurteilte durch die erfolgte Therapie im Rahmen der Zurückstellung dazu bewegt werden
konnte, seine Abhängigkeit weiter behandeln zu lassen (OLG Düsseldorf StV 1990, 214 f.). Besteht danach eine berechtigte Erwartung, ein
Verurteilter sei ausreichend auf ein zukünftiges Leben in Freiheit ohne Drogen vorbereitet, so spricht dies bereits für eine günstige Prognose
(Körner, a.a.O., § 36 Rn. 62 f.). Auch kann eine professionelle Substitutionsbehandlung hierfür ein Indiz sein, weil ein Verurteilter nicht mehr
einem ständigen Beschaffungsdruck ausgesetzt ist.
13 Erhöhte Anforderungen an das Vorliegen einer günstigen Prognose sind aber vor allem dann zu stellen, wenn die Gefahr der (erneuten)
Begehung schwerer Straftaten aus dem Bereich der Beschaffungskriminalität droht. Bestehen hierfür konkrete Anhaltspunkte, kommt eine
Aussetzung nicht in Betracht. Umgekehrt erfordert das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit aber keine Gewissheit künftiger Straffreiheit,
jedoch müssen die Erfolgsaussichten die Gefahr eines Scheiterns deutlich überwiegen. Ein vertretbares Restrisiko darf dabei aber eingegangen
werden (BVerfG NJW 1998, 2202 f.; Weber, a.a.O., § 36 Rn. 55).
werden (BVerfG NJW 1998, 2202 f.; Weber, a.a.O., § 36 Rn. 55).
14 Vorliegend ist zunächst davon auszugehen, dass nach der schriftlichen Stellungnahme der Fachklinik L. vom 02.07.2002 eine Behandlung in
dieser Einrichtung nach § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG nicht mehr erforderlich war, so eine Aussetzung der Reststrafe grundsätzlich möglich ist. Bei der
Abwägung der prognostischen Gesichtspunkte wir die Strafkammer neben den engen familiären Bindungen des Verurteilten zu seinen Gunsten
zu berücksichtigen haben, dass er die Therapie nicht eigenmächtig abgebrochen, sondern im Einverständnis mit der Fachklinik L. beendet hat
und nach dortiger Einschätzung alles ihm Mögliche unternahm, um zukünftig drogenfrei leben zu können. Diese günstige Entwicklung zeigt sich
auch daran, dass er unmittelbar nach Beendigung der aus ärztlicher Sicht nicht mehr erforderlichen stationären Therapie eine ambulante
Weiterbehandlung in Freiheit begonnen hat, welche nach Aktenlage erfolgsversprechend verläuft. Auch wird für die Bewertung der
Erfolgswahrscheinlichkeit einer Reststrafenaussetzung von erheblicher Bedeutung sein, ob der Verurteilte zur Fortsetzung der begonnenen
Methadon-Substitution bereit ist, so dass ihm eine entsprechende Weisung im Rahmen einer Bewährungsauflage (§§ 36 Abs. 4 BtMG, § 56 c
Abs. 3 StGB) erteilt werden könnte, was wegen des drohenden Widerrufs der Strafaufsetzung bei eigenmächtigem Abbruch der Behandlung oder
erneutem Drogenkonsum die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten erheblich und - nach Aktenlage - auf ein vertretbares Restrisiko
reduzieren könnte.